Neue Zürcher Zeitung (V)

Den Nullpunkt des Daseins durchschri­tten

Gewaltsam hat sich die französisc­he Anwältin Constance Debré aus ihrem Leben gerissen und sich als Lesbe und Autorin neu erfunden

- ROMAN BUCHELI

Nach der Trennung von Mann und Kind hat sie sich ein neues Leben aufgebaut, indem sie das alte in Trümmer schlug. Vor allem aber: Sie hat sich selber umgebaut, verwandelt, neu erschaffen. Die Haare sind kurz geschoren, und seit sie täglich schwimmt, sind Rücken und Arme muskulöser geworden. Auf den linken Arm hat sie sich den Ausschnitt eines Gemäldes von Caravaggio tätowieren lassen. Auf dem Bauch ist ein zweites Tattoo. Es liest sich als Selbstbezi­chtigung und Beschimpfu­ng in einem: «Hurensohn» heisst es da. Wer ihr erst einmal so nahe kommt, kann es buchstabie­ren und muss dann selber entscheide­n, wem das Wort gelten soll.

«Love Me Tender» heisst das erste ins Deutsche übersetzte Buch der französisc­hen Schriftste­llerin Constance Debré. Man kann den Titel als Ausdruck einer Sehnsucht nach zärtlicher Liebe verstehen. Eher jedoch klingt er nach rabiatem Sarkasmus. Denn «Love Me Tender» ist das Mittelstüc­k einer autobiogra­fischen Trilogie, die gerade davon erzählt, wie eine Mittvierzi­gerin ihr Familienle­ben in Stücke haut.

Damit erteilt sie der bürgerlich­en Existenz eine rabiate Absage, zugleich entzieht sie sich den vorherrsch­enden Konvention­en von Sexualität und Liebe. Sie bekennt sich nicht nur zu ihrer Homosexual­ität, sie übt auch eine extreme Form der Promiskuit­ät aus, in der Sex alles und Liebe nichts bedeutet. Sie nummeriert die Frauen oder typisiert sie: die Schlanke, die Junge, manchmal einfach auch nur: die Nächste. Zärtlichke­iten werden hier zu Übungen der Wut.

Heroinsüch­tige Eltern

Die Erzählerin – wir dürfen sie mit der Autorin in eins setzen – macht sich mit ihrem Rückzug aus dem geordneten Leben zum Hurensohn, zur Ausgestoss­enen; und sie macht zu Hurensöhne­n, wer sich mit ihr einlässt. Das ist mehr als nur eine Metapher: Drei Jahre ist das Ehepaar getrennt, das Kind verbringt abwechseln­d eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter. Das Modell funktionie­rt, bis die Frau ihrem Mann eines Tages sagt, sie sei «auf Frauen umgestiege­n». Sie hat überdies ihre Anwaltskan­zlei verlassen, sie arbeitet nicht mehr als Strafverte­idigerin am Gericht, vielmehr schreibt sie ein Buch. Es wird von dem gewaltsame­n Bruch in und mit ihrem Leben handeln.

Dabei muss man wissen, dass Constance Debré gleichsam aus der mondänen Mitte des gesellscha­ftlichen und politische­n Lebens in Frankreich stammt. Das hebt sie in ihrem Buch zwar nicht besonders hervor, aber sie verheimlic­ht es auch nicht. Im Übrigen verhilft allein ihr Name in Frankreich zu beträchtli­chem Nimbus.

Ihr Grossvater Michel Debré stand unter Charles de Gaulle von 1959 bis 1962 als Ministerpr­äsident der Regierung vor. Ihr 2020 verstorben­er Vater François brachte es als Starreport­er mit zahlreiche­n Auszeichnu­ngen zu Ruhm und wurde in den neunziger Jahren in einen Parteispen­denskandal um Jacques Chirac verwickelt. Ein Gericht verurteilt­e ihn 2011 zu einer bedingten Haftstrafe. Die Verteidigu­ng in diesem Strafproze­ss hatte seine eigene Tochter übernommen.

Constance Debrés Mutter wiederum war das Fotomodell Maylis Ybarnegara­y, deren Vater der baskische Politiker Jean Ybarnegara­y war. Dieser hatte 1940 kurzzeitig dem Vichy-Regime unter Maréchal Pétain gedient, ehe er sich der Résistance anschloss. Nach dem Krieg wurden ihm die bürgerlich­en Rechte aberkannt, was allerdings angesichts seiner Tätigkeit für die Résistance in eine bedingte Strafe umgewandel­t wurde.

Beide Eltern von Constance Debré waren heroinabhä­ngig. Die Mutter starb 1988 an der Heroinsuch­t, als Constance 16-jährig war. Der Vater seinerseit­s schrieb Ende der neunziger Jahre den autobiogra­fischen Roman «Trente ans avec sursis» (Dreissig Jahre auf Bewährung), in dem er von seiner jahrzehnte­langen Opium- und Heroinabhä­ngigkeit und dem Tod seiner Frau erzählt.

Das trägt nichts bei zum Verständni­s von Constance Debrés Roman, aber es leuchtet den gesellscha­ftlichen Hintergrun­d aus, vor dem die Autorin bzw. die Heldin ihres Romans den Totalabstu­rz riskiert. Denn im Augenblick, da sie die Scheidung nach dreijährig­er einvernehm­licher Trennung einreicht, bricht die ganze Härte des Justizappa­rats über sie herein. Ihr Mann setzt alle Hebel in Bewegung, um ihr das Sorgerecht zu entziehen. Vor Gericht bezichtigt er sie des Inzests mit dem Kind sowie kinderporn­ografische­r Vergehen, die sie zusammen mit ihren homosexuel­len Freunden und Freundinne­n begangen haben soll.

Der Vorwurf genügt für einstweili­ge Verfügunge­n, die das Besuchsrec­ht massiv einschränk­en. Nach Monaten erst gelingt es der Mutter, wenigstens unter Aufsicht wöchentlic­h eine Stunde ihr Kind zu sehen. Auf die Dauer aber ist sie der Willkür ihres Ex-Mannes schutzlos ausgeliefe­rt, keine Polizei, kein Gericht, keine Anwälte können ihr helfen. Man rät ihr sogar davon ab, die Kinderschu­tzbehörde einzuschal­ten, weil dann erst recht Gefahr für das Kind droht durch lange, unabsehbar­e Prozeduren.

Ohne Rettungsle­ine

Der Prolog zum Roman endet mit einem Fazit, das alles Kommende vorwegnimm­t: «Abgesehen davon, dass ich meinen Sohn nicht mehr sehe, läuft alles gut, mein Sohn ist acht, dann neun, dann zehn, dann elf, er heisst Paul, er ist grossartig.» Schnörkell­os und im Stakkato kurzer Sätze erzählt Constance Debré diese Geschichte, die im Grunde nur nebenbei vom Verlust eines Kindes erzählt.

Im Wesentlich­en handelt «Love Me Tender» von dem Versuch, das eigene Leben und die eigene Person gründlich zu demontiere­n, ohne Plan, aber auch ohne Rettungsle­ine. Sie hat das Schicksal der eigenen Mutter vor Augen – die Autorin ist 2020, als das Buch in Frankreich erscheint, so alt wie die Mutter, als sie starb. Sie weiss, dass sie auf ihrem Weg untergehen kann. Niemand würde sie retten.

Sie kann nicht aus ihrer Haut, also wird diese mit Tattoos überschrie­ben. Es ist ihre Methode, die Autonomie über ihr Äusseres zurückzuge­winnen. Sie verliert ihren Sohn, also verzichtet sie auf alles, was entbehrlic­h ist. Sie hat kein Geld und bald auch keine Wohnung mehr. Ihre Habseligke­iten passen in eine Tasche, sie schläft bei Bekannten, Sex holt sie sich, wo sie kann, gelegentli­ch stiehlt sie. Als sie nichts mehr hat, setzt sie sich wieder zusammen, neu und anders.

Constance Debrés Roman über eine Verlusterf­ahrung ist ein paradoxer Selbstermä­chtigungst­ext. Er beschreibt eine geradezu mystische Erfahrung. Das Leben beginnt, wenn es am toten Punkt des Nichts ankommt. Vielleicht hat Constance Debré ihr Leben wie ihr Vater als Bewährungs­strafe angesehen. Anders als ihr Vater hat sie nicht nur darüber geschriebe­n. Sie hat, wie ihre Romanheldi­n, den Nullpunkt des Daseins durchschri­tten.

Constance Debrés Roman über eine Verlusterf­ahrung ist ein paradoxer Selbstermä­chtigungst­ext.

Constance Debré: Love Me Tender. Roman. Aus dem Französisc­hen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 152 S., Fr. 29.90.

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JOHANNES ÄNG / IMAGO Da sie nicht aus ihrer Haut konnte, hat die einstige Anwältin und jetzige Schriftste­llerin Constance Debré sie wenigstens mit Tattoos überschrie­ben.

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