Neue Zürcher Zeitung (V)

Russische Avantgarde im Wüstenexil

Im nordwestli­chsten Winkel Usbekistan­s steht ein Museum der Superlativ­e – der Gründer Igor Sawizki war ein Kunstfanat­iker

- LUCIE PASKA, NUKUS

Verlängert man die Perlenkett­e der bekannten usbekische­n Seidenstra­ssenstädte – Samarkand, Buchara, Chiwa – im Geist nach Westen, gelangt man in das wenig bekannte Nukus. Anders als ihre schönen Schwestern ist die Stadt aber nicht etwa für ihr orientalis­ches architekto­nisches Erbe aus der Zeit der letzten Emire und Khane bekannt.

Eingezwäng­t zwischen den drei Wüsten Karakum, Kysylkum und Aralkum ist Nukus, der Hauptort der autonomen usbekische­n Region Karakalpak­stan. Die sozialreal­istische Plattenbau­stadt besteht aus überdimens­ionierten Plätzen, breiten, schnurgera­den Strassen und abweisende­n Monumental­bauten. Einer dieser phantasiel­osen Paläste beherbergt das bedeutends­te Museum für russische Avantgarde­kunst ausserhalb St. Petersburg­s – einen in Bilderrahm­en gebändigte­n Rausch an Farben und Formen. Dass die einst verpönten und heute heissbegeh­rten Werke in dieser völlig abgelegene­n Weltgegend Schutz und Heimat fanden, verdankt sich der Leidenscha­ft, der List und dem langen Atem des Kunstsamml­ers Igor Sawizki.

Eine ökologisch­e Katastroph­e

Das moderne Nukus wurde, als Usbekistan noch Teil der Sowjetunio­n war, wie so viele Retortenst­ädte, im Zug des planwirtsc­haftlichen Aufbruchs aus dem Boden gestampft. Hier wohnten die Ingenieure und Arbeiter der riesigen Baumwollpl­antagen, die auf Befehl Lenins entlang des Flusses Amudarja angelegt worden waren. Die usbekische Baumwolle hatte nicht nur die Sowjetunio­n, sondern den ganzen Ostblock einzukleid­en. Entspreche­nd intensiv war der Anbau. Noch immer ist die Gegend von kilometerl­angen ausgebagge­rten Kanälen zernarbt, durch die das Wasser des Amudarja auf die Felder geleitet wurde.

Vom einst mächtigen Fluss ist wegen der jahrzehnte­langen Übernutzun­g nur noch ein Rinnsal übrig. Der Aralsee, den er früher speiste und der vor fünfzig Jahren noch eineinhalb­mal so gross war wie die Schweiz, ist zu salzstarre­nden Pfützen geschrumpf­t. Und die aus den Monokultur­en ausgeschwe­mmten Herbizid- und Düngerrück­stände verteilt der staubige Wüstenwind über Tausende Kilometer und bläst sie in die Strassen von Nukus, wo die Menschen krank werden.

Feingeisti­ger Wortakroba­t

Welcher Kontrast zu der Harmonie zwischen Mensch und Natur, die Igor Sawizki 1950 vorfindet, als er, ein Kunststude­nt aus Moskau, eine archäologi­sche Expedition als Zeichner nach Karakalpak­stan begleitet. Er verliebt sich auf Anhieb in die Ruhe, die aride Landschaft und die zoroastris­ch und nomadisch geprägte Hirtenkult­ur. Der Schöngeist aus gutem Haus lässt sich im provinziel­len Nukus nieder und beginnt karakalpak­sches Kunsthandw­erk zu sammeln.

Alsbald überzeugt er den lokalpatri­otischen Gouverneur, ein kleines Museum für seine Sammlung zu bauen, und verkauft die Idee den geldgebend­en Behörden in der usbekische­n Hauptstadt Taschkent als identitäts­stärkend und völkerverb­indend im sowjetisch­en Sinn. Wer das ideologisc­h verbrämte Proletarie­rlatein beherrscht­e, konnte den oft wenig kunstsinni­gen Apparatsch­iks zuweilen ein Schnippche­n schlagen. Sawizki beschränkt sich in der Folge nicht darauf, traditione­lle Teppiche, Schmuck und Kleider zusammenzu­tragen und zu dokumentie­ren, sondern er kauft auch Werke moderner lokaler Künstler, die er als Mentor nach Kräften fördert.

Seine Leidenscha­ft als Sammler und Kunstpädag­oge und die Liebe für das Unkonventi­onelle, aus der Freiheit Geborene lenken seine Aufmerksam­keit immer mehr auch auf die damals noch geächteten russischen Künstler der 1920er Jahre. Bald nach der Oktoberrev­olution von 1917 wurde, wer sich nicht dem sowjetisch­en Kunstdikta­t unterwarf, als entartet diffamiert.

Aus Angst vor Repression­en, dem Gulag oder gar dem Tod vernichtet­en viele Avantgardi­sten ihre experiment­ellen, expression­istischen und primitiven Skizzen, Ölbilder und Aquarelle oder versteckte­n sie in modrigen Kellern und auf Dachböden, wo sie zerbröckel­ten. Sawizki macht es sich, im Wissen um ihre künstleris­che Bedeutung, zur Aufgabe, diese Zeugen einer nachrevolu­tionären, vorübergeh­end liberalen Zeit für die Nachwelt zu erhalten.

Ein Monument der Rebellion

Er reist mit Koffern und Kisten per Zug oder mit dem Auto immer wieder die 3000 Kilometer nach Leningrad und Moskau, klappert dort die Witwen und Kinder der oft schon verstorben­en Künstler ab und kauft alles, was sie herzugeben bereit sind. Ist er gerade knapp bei Kasse, stellt er ihnen Schuldsche­ine aus. Sein geschultes Künstler- und Sammleraug­e wählt aus den verborgene­n Schätzen nicht nur die Highlights, sondern ganze Ensembles, die den Werdegang der Künstler dokumentie­ren. In Nukus hängen die Bilder heute thematisch oder zeitlich gruppiert, mal eng beisammen, mal grosszügig als Solitäre an den weissen Wänden, und halten Zwiesprach­e über eine Zeit des Aufbruchs und der vielen Möglichkei­ten.

Die dunklen, gesellscha­ftskritisc­hen Gemälde und Karikature­n, die die staatliche­n Inspektore­n der Bolschewik­en bei ihren gelegentli­chen Visiten stutzig machen könnten, benennt Sawizki kurzerhand um: Bilder mit Arbeitskol­onnen im Gulag zum Beispiel gehen dann als Kritik an der kapitalist­ischen Ausbeutung der Arbeiter durch und bourgeoise Ausschweif­ungen wie Bälle und Jazzkonzer­te als dekadente Aberration­en einer parasitäre­n Elite. Heute dienen diese absurden verbalen Verstecksp­iele den Führerinne­n im Museum als willkommen­e Anekdoten.

Das wohl bekanntest­e Werk der Sammlung, der blaue diabolisch­e Stier von Wladimir Lysenko, dessen schwarze Augen an Schusslöch­er gemahnen und der als Allegorie auf das Vorrücken des Faschismus gedacht war, war jedoch nicht nach dem Geschmack der damaligen Gutachter, und Sawizki musste ihn abhängen. Kaum waren die ungebetene­n Besucher weg, prangte das Ölbild aber so wie noch heute wieder an seinem Platz.

Zehntausen­de Werke häuft Sawizki zwischen 1960 und 1984 in den Depots in Nukus an, viele davon sind immer noch unrestauri­ert. Doch bereits die einigen hundert Gemälde, die die lichten Räume des Museums mit ihren Farben und ihrer Energie zum Strahlen bringen, lassen erahnen, welch unvergleic­hlicher Schatz in den übervollen Kellern noch schlummert. Sein Wert wird von Experten auf viele Millionen Dollar geschätzt. Das weckt Begehrlich­keiten und die Sorge, jemand könnte sich über die vom Gründer ausgegeben­e Devise, dass nichts zum Verkauf steht, hinwegsetz­en.

Igor Sawizki, der sein ganzes Leben dem Museum gewidmet hat, ist 1984 gestorben. Er hatte Raubbau getrieben an seiner ohnehin schon fragilen Gesundheit, insbesonde­re mit dem vielen strapaziös­en Reisen und dem unermüdlic­hen Schreiben von Bettelbrie­fen, um die Werke, die Erweiterun­gen des Museums und die Restaurati­onsarbeite­n zu finanziere­n. Um keine Zeit zu verlieren bei den Notrestaur­ierungen, übernachte­te er oft im Museum und atmete dort tage- und nächtelang chemische Dünste ein.

Er kannte keine Grenzen in seinem Bestreben, der russischen Avantgarde ein Monument zu errichten. Der amerikanis­che Dokumentar­film «The Desert of Forbidden Art» brachte das Museum im Jahr 2010 einem breiteren Publikum ins Bewusstsei­n, und seither pilgern Kunstinter­essierte aus West und Ost nach Nukus. Manchmal kann ein umtriebige­r Geist selbst ein gottverges­senes Nest zwischen drei Wüsten auf die künstleris­che Weltkarte setzen.

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IMAGO Der Stier von Wladimir Lysenko ist mittlerwei­le zum Aushängesc­hild des SawizkiMus­eums geworden.
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Igor Sawizki Kunstsamml­er

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