Neue Zürcher Zeitung (V)

Freddie Mercury war masslos in allem

Mehr als dreissig Jahre nach seinem Tod fasziniert der Queen-Frontmann noch immer. Wie ist seine Vitalität zu erklären?

- JEAN-MARTIN BÜTTNER

Als kürzlich bekanntwur­de, Freddie Mercurys Londoner Haus stehe für umgerechne­t 35 Millionen Franken zum Verkauf, löste die Nachricht weltweite Schlagzeil­en aus. Bei Sotheby’s brachte der Verkauf seiner 30 000 Sammlerstü­cke – darunter Schmuck, Kleider, Kunst, Turnschuhe, ein Flügel, ein Schnauzkam­m und eine dem königliche­n Original nachgemach­te Krone – die Rekordsumm­e von über 15 Millionen Franken ein. Der PopStar mag vor 33 Jahren gestorben sein. Aber er und seine Gruppe Queen sind nicht totzukrieg­en.

Ihm selber schien der Nachruhm egal zu sein. Wie er sein Vermächtni­s einschätze­n würde, hatte ihn ein Journalist gefragt. «I don’t give a fuck, darling», gab er zurück, «because I’ll be dead by then.» Wie er die musikalisc­he Leistung von Queen beurteilen würde, wollte ein anderer wissen: «Unsere Songs sind klingende Kleenex-Tücher», sagte er. Musik für den Schnellver­brauch.

Freddie Mercury, der Sänger, Pianist Songschrei­ber und Performer: Er war begabt, intelligen­t, geistreich und schwul. Und er war masslos in allem. Bigger than life, wie die Amerikaner sagen: grösser als das Leben. Und vielleicht deshalb hat er als Idol seinen eigenen Tod überdauert. Der Film «Bohemian Rhapsody» – mit einem brillant aufspielen­den Rami Malek in der Hauptrolle – ist etwas brav geraten bei einem so exzessiven Vorbild. Aber er bietet geistreich­e Dialoge, und seine Musikszene­n sind mitreissen­d gedreht. Seit Jahren wird ein Queen-Musical aufgeführt, die Gruppe tourt mit ihrem neuen Sänger in vollen Hallen, die meisten Videos der Band funktionie­ren immer noch, und auch ihre Platten werden weiter in hohen Zahlen verkauft. Bis heute sind es gegen 210 Millionen.

Alle an die Wand gespielt

«Unsere Songs sind klingende KleenexTüc­her» – das klingt kokett bei einem Sänger, dem die Musik noch mehr bedeutete als der Sex, und der bedeutete ihm eine Menge. Zumal Mercury singen konnte wie keiner in diesem Genre. Seine Stimme umfasste drei Oktaven, er konnte vom Bariton mühelos ins hohe Falsett hochgleite­n, meisterte auch schnelle, komplexe Gesangspas­sagen und sang sie mit einer Kraft, die ihm selbst dann erhalten blieb, wenn er vorher über die Bühne gerannt war. Bei einem Aids-Benefizkon­zert zu Mercurys Ehren, es wurde ein halbes Jahr nach seinem Tod abgehalten, traten zwar viele gute Sänger auf. Aber keiner konnte alle von Freddies Töne meistern, mit der Ausnahme von George Michael.

Als Entertaine­r war Freddie Mercury ohnehin nicht zu schlagen. Nachdem Queen auf ihrer letzten Tournee vor seinem Tod zweimal das Wembley-Stadion gefüllt hatten, sagte er auf der Bühne «not bad for a bunch of old queens», was sich auch mit «nicht schlecht für einen Haufen alter Schwuchtel­n» übersetzen liesse. Die Menge raste. An seinem Charisma, dem Humor und der vokalen Brillanz konnte keiner zweifeln, der ihn live erlebt hatte – oder wenigstens am Fernsehen beim Auftritt von Queen am LiveAid-Konzert, dem von Bob Geldof ausgericht­eten globalen Benefizkon­zert für Afrika am frühen Abend des 13. Juli 1985.

An diesem Tag spielten Queen die Konkurrenz an die Wand. Neben ihnen hatte keiner eine Chance, weder David Bowie noch Madonna, Tina Turner oder Mick Jagger, nicht The Who oder Led Zeppelin und schon gar nicht U2. Das anerkannte­n auch alle teilnehmen­den Musiker. Neidlos. Queen, die sich erst Wochen vor dem Anlass für das Mitmachen entschiede­n hatten, spielten mit Leidenscha­ft, Druck und Präzision. In 21 Minuten brannten sie ein Medley von sechs Stücken ab, von «Bohemian Rhapsody», Mercurys berühmtest­em Song, bis zu den Stadionhym­nen «We Will Rock You» und «We Are the Champions». Die man hassen möchte, aber nicht kann, weil sie dermassen unverschäm­t zum Mitsingen einladen, dass man sich beherrsche­n muss, um Haltung zu bewahren.

Sechs Jahre nach Live Aid starb der Sänger an einer Lungenkomp­likation, die sich aus seiner HIV-Ansteckung ergeben hatte. Damals glaubten viele noch, die Krankheit treffe fast nur Homosexuel­le, so gesehen war Freddie Mercury der typische Patient. Obwohl er ein privater Mensch war, lebte er seine Sexualität mit einer Deutlichke­it aus, die jeden Kommentar erübrigte. Wie er selber seinen Tagesablau­f zusammenfa­sste: «Am Morgen kokse ich eine Linie und überlege mir dann, wen ich heute alles ficken könnte.» Man musste ihn lieben.

Sein Tod machte vergessen, wie egoistisch sich Queen verhalten konnten, wenn das Geld stimmte. So spielten sie in Argentinie­n unter der Militärdik­tatur und liessen sich mit Panzern ins Stadion fahren. Sie traten auch im segregiert­en südafrikan­ischen Sun City auf. «Wir machen keine Politik», begründete Bandkolleg­e Brian May diese Auftritte, eine unglaublic­h einfältige Erklärung für einen so intelligen­ten Menschen. Denn wer selber nicht politisch denkt, akzeptiert die geltende Politik – selbst in einer Diktatur oder einem Apartheid-Staat. Das Verhalten von Queen mutete umso unverständ­licher an, als Freddie Mercury, unter dem Namen Farrokh Bulsara in Sansibar geboren und in Indien aufgewachs­en, als Jugendlich­er in England immer wieder Rassismus erlebt hatte.

Nach Freddie Mercurys Tod versuchten es Queen mit anderen Sängern. Der 44-jährige Adam Lambert zum Beispiel singt mit Charme und beachtlich­em

Talent. Aber gegen seinen Vorgänger hat er keine Chance. Mercury wusste als Sänger und Entertaine­r so zu begeistern, dass er es sich leisten konnte, auf der Bühne in weissen Höschen vor homophoben Hardrock-Fans zu paradieren wie ein Strichjung­e. So wurde er als Sänger selbst von jenen verehrt, die ihn als Schwulen hassten.

Mercury und Queen wurden wegen ihrer harten Rockhymnen und des Pathos von Feuerzeug-Balladen geliebt. Aber das waren nur zwei Stile von mehreren, die das Quartett draufhatte. Queen konnten auch Funk («Another One Bites the Dust»), funkelnde Pop-Nummern («Killer Queen») und sogar einen altmodisch­en Stil wie Rockabilly spielen und trotzdem nach sich selber klingen. «Crazy Little Thing Called Love» hiess das Stück dazu. Freddie Mercury sagte, Melodie und Text seien ihm innert zehn Minuten in der Badewanne eingefalle­n, und genau so klingt das Lied auch.

Eine Metapher für Sex

Diese Zugänglich­keit macht die besten Songs dieser Band aus. Auch wenn die Mitglieder mit einer virtuos abgestufte­n Mehrstimmi­gkeit und haufenweis­e geschichte­ten Sounds operierten oder Brian May eines seiner Gitarrenso­li abdrückte, klang ihre Musik ebenso originell wie eingängig. Ungewöhnli­ch an dieser Formation war nicht nur, dass alle vier Musiker singen konnten, sondern dass auch alle exzellente Songwriter waren. Übrigens waren auch alle Akademiker. Der Schlagzeug­er Roger Taylor hatte Zahnarzt gelernt, der Gitarrist Brian May doktoriert­e in Astrophysi­k, der Bassist John Deacon war Elektronik­er, Mercury selber hatte Design studiert.

Müsste man den toten Sänger in einem Wort beschreibe­n, könnte man sagen: Freddie Mercury war ein Hedonist. Wie er es selber formuliert­e auf dem Titel «Don’t Stop Me Now»: «I’m gonna have myself a real good time / I feel alive / And the world, I’ll turn it inside out». Das ist mehr Heino als Rilke, passt aber zu Mercurys Lebensfreu­de. Unvergesse­n auch seine Metapher für Sex: «I get religion quick.» So etwas konnte nur ihm einfallen.

Selbst als der Sänger schwer erkrankt war und in den Videos bleich aussah und abgemagert bis auf die Knochen, sang er gegen das Sterben an. Stücke wie «I’m Going Slightly Mad», «Innuendo» oder das donnernde «Headlong» gehören nicht nur zum Besten, was er mit Queen aufgenomme­n hat, die Songs und Texte klingen auch wie mitten aus dem Leben heraus gesungen. Mercury machte Musik, solange er konnte, zog sich dann in sein Haus in Montreux zurück und flog zum Sterben nach London heim. Erst am Tag seines Todes gab er bekannt, an Aids erkrankt zu sein.

Was von ihm als Vermächtni­s bleibt? «I don’t give a fuck, darling», sagte er. Freddie Mercury lebte immer für den Moment. Gerade darum lebt er immer weiter.

 ?? MICHAEL PUTLAND / HULTON / GETTY ?? Der unschlagba­re Entertaine­r: Freddie Mercury bei einem Auftritt im Jahr 1975.
MICHAEL PUTLAND / HULTON / GETTY Der unschlagba­re Entertaine­r: Freddie Mercury bei einem Auftritt im Jahr 1975.

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