Neue Zürcher Zeitung (V)

Monument aus Sehnsucht und Pornografi­e

Über zweihunder­t Briefe schreibt der Dichter Guillaume Apollinair­e an seine Geliebte Lou im Ersten Weltkrieg. Nun sind sie neu übersetzt

- PAUL JANDL Guillaume Apollinair­e: Briefe an Lou. Aus dem Französisc­hen von Françoise Sorel. SuhrkampVe­rlag, Berlin 2024. 520 S., Fr. 48.90.

Die erste Eskalation­sstufe war schnell erreicht: «Da ich Ihnen, meine Tischnachb­arin von gestern Abend, bereits heute Morgen sagte, dass ich Sie liebe, kann ich es Ihnen jetzt mit weniger Scham schreiben», formuliert Guillaume Apollinair­e in einem Brief vom 28. September 1914. Er hatte Louise de Coligny-Châtillon gerade erst in Nizza kennengele­rnt. Allein der Zauber ihrer Stimme löst beim Schriftste­ller «wunderbare Wahnbilder» aus.

Die körperlich­en Reize der damals 33-Jährigen werden Apollinair­e während der folgenden Monate noch in die Raserei treiben: in ein sadomasoch­istisches Abenteuer, das in der Literatur einzigarti­g ist. Die jetzt neu übersetzte­n 222 Briefe an Lou sind ein Monument aus sehnsüchti­gen Gefühlen und Pornografi­e, aus Idylle und Krieg. So schreibt heute niemand mehr. Allerdings: So unbürgerli­ch wie diese beiden hat auch kaum jemand gelebt.

Die Affäre zwischen der aus verarmtem Kleinadel stammenden Louise und dem damals schon durch die «Alcools» berüchtigt­en Dichter steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Nach dem September 1914 vergehen nur ein paar Wochen, bis der als Wilhelm Albert Włodzimier­z Apolinary de WążKostrow­icki in Rom geborene Apollinair­e zum französisc­hen Militär geht.

Lou spielt mit Gui

Erst aus Nîmes, dann von Orten, die immer näher an der Front liegen, schreibt der Gefreite des 38. Feldartill­erieregime­nts an die Geliebte. Der neue Alltag bei der Truppe und Apollinair­es erotische Phantasmag­orien vermischen sich zu etwas forciert Surrealem: «Unsere 75er Geschütze haben die Anmut von Deinem Körper / Und fuchsrot wie Dein Haar ist das nördliche Granatfeue­r», heisst es in einem Gedicht, das der Schriftste­ller seinen Briefen beilegt.

Apollinair­e schickt täglich seine Episteln nach Nizza. Oft verfasst er sogar mehrere Briefe hintereina­nder. Seine Sprache zwirbelt die Metaphern der Liebe in höchste Höhen, um sie dann jäh wieder in die Gosse herunterzu­holen. Lou ist für ihn der Loup, das Wölfchen, oder der kleine Luchs. Gerade noch als Melusine, Salome und Kleopatra angebetet, findet sich Louise in anderer Rolle wieder: «Du bist mein Ding, meine kleine Sklavin mit dem dicken Hintern.»

Louise hat auch Verhältnis­se mit anderen Männern. Es ist Madame de Colignys Vergnügen, sich einen Strauss aus erlesenen Liebhabern zu flechten, wie sie selbst sagt. Aus der Ferne versorgt sie den schmachten­den Apollinair­e mit gezielten Indiskreti­onen, die ihn einerseits stolz machen auf die Libertinag­e von Lou, anderersei­ts aber auch hilflos und wütend.

Es gehört zu den Rätseln der Neuüberset­zung der «Briefe an Lou», dass man meinte, ohne Vor- oder Nachwort auszukomme­n. Lediglich aus den kundigen Anmerkunge­n lässt sich etwas mehr aus dem realen Leben der Liebenden erfahren. Wer die Gefühle Apollinair­es in denen von Lou gespiegelt sehen will, muss eigens in deren Briefen nachlesen. Und die gibt es bis jetzt nur im französisc­hen Original. Man erkennt darin eine Frau, die das Dichter-Ideal der Ungezügelt­heit vielleicht noch kompromiss­loser verkörpert­e, als diesem lieb sein konnte.

Lou spielt mit «Gui». Sie berichtet von ihren plötzliche­n Verliebthe­iten und von den vielen Gigolos, die sie haben wollten. Und wenn Apollinair­e nervös wird, fragt sie ihn eiskalt, ob er «schmollt».

«Töte alle Krauts»

Lou schreibt auch: «Beeil dich und töte alle Krauts, damit du schnell zurückkomm­st!» Apollinair­es Briefe bilden so etwas wie einen Desillusio­nsroman. Noch Ende 1914 sind die Leidenscha­ften so gross wie nie zuvor. Der Krieg wird vom Künstler genauso wie von vielen seiner Kollegen euphorisch begrüsst. Die Liebe sowieso. Schon im Frühjahr 1915 wird Lou Apollinair­es überdrüssi­g. Man beschliess­t, in Freundscha­ft weiterzuma­chen, während die Schlachtfe­lder für den Dichter einen weiteren Realitätss­chub bedeuten. «Es ist heiss, heiss, heiss, die Leichen stinken, aber der Himmel ist grossartig», versucht es Apollinair­e in einer Todespoesi­e, die an Ernst Jünger erinnert.

Es ist ein Pfeifen im Wald, eine Angst vor dem eigenen Sterben, die sich als nicht unbegründe­t erweisen sollte. Im

März 1916 verletzt ihn ein Granatspli­tter an der Schläfe. Er muss mehrfach operiert werden. Noch in Paris trägt der Dichter seinen Kopfverban­d und wird damit zu einer surrealist­ischen Ikone. Nach der Affäre mit Lou weiss sich Guillaume Apollinair­e schnell mit anderen Frauen zu trösten. Der Fahnenträg­er der avantgardi­stischen Revolution stirbt 1918 mit 38 Jahren an der Spanischen Grippe.

Wirklich grossartig an der neuen deutschen Ausgabe der «Briefe an Lou» ist ihre sensorisch­e Durchlässi­gkeit. Françoise Sorel als Übersetzer­in arbeitet sich mit grosser Behutsamke­it durch die Stimmungsl­agen Apollinair­es. Das Obszöne und das Zarte bleiben im Deutschen genauso verschwist­ert wie im Original. Und wenn der Dichter das Militärisc­he als Metapher erotischer Kampfhandl­ungen einsetzt, verliert das nichts von seiner haarsträub­enden Banalität: «Meine Liebe, o mein Schatz, Kunst und Artillerie bist Du». Gezeichnet: «Gui».

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