Monument aus Sehnsucht und Pornografie
Über zweihundert Briefe schreibt der Dichter Guillaume Apollinaire an seine Geliebte Lou im Ersten Weltkrieg. Nun sind sie neu übersetzt
Die erste Eskalationsstufe war schnell erreicht: «Da ich Ihnen, meine Tischnachbarin von gestern Abend, bereits heute Morgen sagte, dass ich Sie liebe, kann ich es Ihnen jetzt mit weniger Scham schreiben», formuliert Guillaume Apollinaire in einem Brief vom 28. September 1914. Er hatte Louise de Coligny-Châtillon gerade erst in Nizza kennengelernt. Allein der Zauber ihrer Stimme löst beim Schriftsteller «wunderbare Wahnbilder» aus.
Die körperlichen Reize der damals 33-Jährigen werden Apollinaire während der folgenden Monate noch in die Raserei treiben: in ein sadomasochistisches Abenteuer, das in der Literatur einzigartig ist. Die jetzt neu übersetzten 222 Briefe an Lou sind ein Monument aus sehnsüchtigen Gefühlen und Pornografie, aus Idylle und Krieg. So schreibt heute niemand mehr. Allerdings: So unbürgerlich wie diese beiden hat auch kaum jemand gelebt.
Die Affäre zwischen der aus verarmtem Kleinadel stammenden Louise und dem damals schon durch die «Alcools» berüchtigten Dichter steht von Anfang an unter keinem guten Stern. Nach dem September 1914 vergehen nur ein paar Wochen, bis der als Wilhelm Albert Włodzimierz Apolinary de WążKostrowicki in Rom geborene Apollinaire zum französischen Militär geht.
Lou spielt mit Gui
Erst aus Nîmes, dann von Orten, die immer näher an der Front liegen, schreibt der Gefreite des 38. Feldartillerieregiments an die Geliebte. Der neue Alltag bei der Truppe und Apollinaires erotische Phantasmagorien vermischen sich zu etwas forciert Surrealem: «Unsere 75er Geschütze haben die Anmut von Deinem Körper / Und fuchsrot wie Dein Haar ist das nördliche Granatfeuer», heisst es in einem Gedicht, das der Schriftsteller seinen Briefen beilegt.
Apollinaire schickt täglich seine Episteln nach Nizza. Oft verfasst er sogar mehrere Briefe hintereinander. Seine Sprache zwirbelt die Metaphern der Liebe in höchste Höhen, um sie dann jäh wieder in die Gosse herunterzuholen. Lou ist für ihn der Loup, das Wölfchen, oder der kleine Luchs. Gerade noch als Melusine, Salome und Kleopatra angebetet, findet sich Louise in anderer Rolle wieder: «Du bist mein Ding, meine kleine Sklavin mit dem dicken Hintern.»
Louise hat auch Verhältnisse mit anderen Männern. Es ist Madame de Colignys Vergnügen, sich einen Strauss aus erlesenen Liebhabern zu flechten, wie sie selbst sagt. Aus der Ferne versorgt sie den schmachtenden Apollinaire mit gezielten Indiskretionen, die ihn einerseits stolz machen auf die Libertinage von Lou, andererseits aber auch hilflos und wütend.
Es gehört zu den Rätseln der Neuübersetzung der «Briefe an Lou», dass man meinte, ohne Vor- oder Nachwort auszukommen. Lediglich aus den kundigen Anmerkungen lässt sich etwas mehr aus dem realen Leben der Liebenden erfahren. Wer die Gefühle Apollinaires in denen von Lou gespiegelt sehen will, muss eigens in deren Briefen nachlesen. Und die gibt es bis jetzt nur im französischen Original. Man erkennt darin eine Frau, die das Dichter-Ideal der Ungezügeltheit vielleicht noch kompromissloser verkörperte, als diesem lieb sein konnte.
Lou spielt mit «Gui». Sie berichtet von ihren plötzlichen Verliebtheiten und von den vielen Gigolos, die sie haben wollten. Und wenn Apollinaire nervös wird, fragt sie ihn eiskalt, ob er «schmollt».
«Töte alle Krauts»
Lou schreibt auch: «Beeil dich und töte alle Krauts, damit du schnell zurückkommst!» Apollinaires Briefe bilden so etwas wie einen Desillusionsroman. Noch Ende 1914 sind die Leidenschaften so gross wie nie zuvor. Der Krieg wird vom Künstler genauso wie von vielen seiner Kollegen euphorisch begrüsst. Die Liebe sowieso. Schon im Frühjahr 1915 wird Lou Apollinaires überdrüssig. Man beschliesst, in Freundschaft weiterzumachen, während die Schlachtfelder für den Dichter einen weiteren Realitätsschub bedeuten. «Es ist heiss, heiss, heiss, die Leichen stinken, aber der Himmel ist grossartig», versucht es Apollinaire in einer Todespoesie, die an Ernst Jünger erinnert.
Es ist ein Pfeifen im Wald, eine Angst vor dem eigenen Sterben, die sich als nicht unbegründet erweisen sollte. Im
März 1916 verletzt ihn ein Granatsplitter an der Schläfe. Er muss mehrfach operiert werden. Noch in Paris trägt der Dichter seinen Kopfverband und wird damit zu einer surrealistischen Ikone. Nach der Affäre mit Lou weiss sich Guillaume Apollinaire schnell mit anderen Frauen zu trösten. Der Fahnenträger der avantgardistischen Revolution stirbt 1918 mit 38 Jahren an der Spanischen Grippe.
Wirklich grossartig an der neuen deutschen Ausgabe der «Briefe an Lou» ist ihre sensorische Durchlässigkeit. Françoise Sorel als Übersetzerin arbeitet sich mit grosser Behutsamkeit durch die Stimmungslagen Apollinaires. Das Obszöne und das Zarte bleiben im Deutschen genauso verschwistert wie im Original. Und wenn der Dichter das Militärische als Metapher erotischer Kampfhandlungen einsetzt, verliert das nichts von seiner haarsträubenden Banalität: «Meine Liebe, o mein Schatz, Kunst und Artillerie bist Du». Gezeichnet: «Gui».