Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein Getriebene­r drängt zurück auf die Piste

Fünf Jahre nach dem Rücktritt will Marcel Hirscher wieder Rennen fahren – ist das Unterfange­n mehr als ein Marketing-Coup?

- EVA BREITENSTE­IN

Marcel Hirscher hat das Skifahren während seiner Karriere auf ein neues Level gehoben. Und er hat die Konkurrent­en mit seiner Akribie und seinem Ehrgeiz dazu getrieben, immer noch ein bisschen härter zu arbeiten. Nun dürfte er auch in der Kategorie «Überraschu­ng» die Latte so hoch gelegt haben wie keiner vor ihm: Fünf Jahre nach seinem Rücktritt möchte der achtfache Gesamtwelt­cup-Sieger, der Doppel-Olympiasie­ger und fünffache Weltmeiste­r ins internatio­nale Renngesche­hen zurückkehr­en.

Aber nicht etwa für Österreich, sondern für die Niederland­e, das Land seiner Mutter. Erst vor einem Monat hatte es im Skizirkus einen anderen spektakulä­ren Nationenwe­chsel gegeben, den von Lucas Braathen von Norwegen zu Brasilien. «Ich möchte vor allem die Möglichkei­t haben, ab und zu wieder Wettkämpfe zu bestreiten, einfach weil es mir Spass macht», sagt Hirscher per Medienmitt­eilung und Videobotsc­haft. «Ich gehöre einfach dahin.» Sein Comeback-Projekt gehe einfacher als Niederländ­er. «Die Zukunft im ÖSV gehört den jungen Athleten, und deshalb möchte ich nicht, dass meinetwege­n Ressourcen gebunden, Ausnahmere­geln gemacht oder Startplätz­e frei gehalten werden.»

Skiverband lenkt ein

Gemäss Christian Scherer, dem Geschäftsf­ührer des Österreich­ischen Skiverband­s (ÖSV), hat man sich zwar bemüht, Hirscher von einem Verbleib im ÖSV zu überzeugen. Doch schliessli­ch habe man Hirschers Wunsch entsproche­n und ihn freigegebe­n. Nun muss nur noch der FIS-Vorstand dem Nationenwe­chsel zustimmen. Eine reine Formalität, denn der Skisport wird von der Rückkehr eines seiner schillernd­sten Athleten nur profitiere­n.

Das gilt auch für Hirschers eigene Skimarke «Van Deer», die an seinen Füssen noch mehr Aufmerksam­keit erhalten wird als ohnehin schon. Denn Rennen zu fahren, «einfach, weil es Spass macht» – das wäre ganz und gar untypisch für den langjährig­en Dominator des Weltcups, der mittlerwei­le 35 Jahre alt ist.

Der Schweizer Slalomchef Matteo Joris räumt Hirscher gute Chancen ein, wieder vorne mitfahren zu können – allerdings eher im Riesenslal­om als im Slalom. Erstens, weil man dort in einer Zeit mit wenig Training weniger verliere als im Slalom, in dem es sehr viele Trainingst­ore braucht, um kompetitiv zu sein. Zweitens benötige auch ein brillanter Fahrer wie Hirscher eine gute Piste, wenn er mit der Startnumme­r 140 an einem FIS-Rennen starten muss. Solche Bedingunge­n seien in den unterklass­igen Rennen aber selten. In diesen FIS-Rennen muss Hirscher die nötigen Punkte erringen, um wieder auf höherer Stufe starten zu dürfen. Der Weg in den Weltcup könnte für Hirscher deswegen ein langer sein, er soll diesen Sommer in Neuseeland beginnen. Schaffe er es, «denke ich, dass Marcel im Riesenslal­om wieder in die Top Ten fahren kann», sagt Joris.

Ziel Weltmeiste­rschaften 2025

Joris hat mit seiner Slalomgrup­pe im vergangene­n Winter ein paar Mal mit dem Norweger Henrik Kristoffer­sen zusammenge­spannt, der auf Ski von Hirschers Marke fährt. In welchem Umfang Hirscher noch trainiert hat, ist nicht bekannt. Doch Joris hat Hirscher einige Male fahren sehen und war beeindruck­t. «Im Riesenslal­om ist er nicht weit weg, vielleicht drei bis vier Zehntelsek­unden pro Lauf.»

Die Rückkehr der früheren Überfigur Hirscher eröffnet auch die Möglichkei­t eines Riesenslal­om-Duells zwischen ihm und Marco Odermatt. Toni Giger, der Rennchef von «Van Deer», wollte allzu hohe Erwartunge­n in einer Medienrund­e am Dienstag allerdings dämpfen: Weltcup-Einsätze seien noch weit entfernt.

Sollte das Comeback hauptsächl­ich ein Marketing-Coup sein, wäre auch möglich, dass Hirscher auf die kommenden Weltmeiste­rschaften zielt, die im Februar 2025 in seinem Heimat-Bundesland Salzburg stattfinde­n werden. Joris glaubt, dass Hirscher die Bedingunge­n problemlos erfüllen wird, um in Saalbach-Hinterglem­m starten zu dürfen – selbst wenn er dafür vor Ort über die Qualifikat­ion müsste, in der normalerwe­ise die Exoten starten. Auf ein kurzes Comeback könnte auch die Videobotsc­haft hinweisen, in der er sagt, dass zu seinem Palmarès nur ein paar wenige Rennen für sein Mutterland hinzukomme­n würden.

Als Hirscher vor fünf Jahren verhältnis­mässig früh mit 30 Jahren zurücktrat, war er mit seinen Kraftreser­ven am Ende. Zwar hatte er sich gemäss eigener Aussage am Ende jeder Saison ausgequets­cht und demotivier­t gefühlt. 2019 aber spürte er, dass er nicht mehr bereit war, alles für diese Perfektion zu geben, die für ihn der einzige Weg war, Sportler zu sein: Er tüftelte mit seinem Vater Ferdinand insbesonde­re im Materialbe­reich an jedem Detail, verbessert­e alles, was möglich war.

Energie raubte ihm aber auch sein Status in Österreich, wo er sich nicht mehr so frei bewegen konnte, wie er sich das wünschte. Diese Woche sagte er der österreich­ischen «Kronenzeit­ung» bei einem seiner seltenen Auftritte an einem Sponsorent­ermin in Wien, dass das Verhalten ihm gegenüber respektvol­ler geworden sei. «Irgendwie fühle ich mich jetzt nicht mehr als österreich­isches Staatseige­ntum, sondern spüre mehr Wertschätz­ung der Menschen. Das ist ein sehr schönes Gefühl.»

Die ersten Jahre nach dem Rücktritt hatte er mit Leidenscha­ften gefüllt, die während seiner Karriere zu kurz gekommen waren. Allen voran mit Motorradfa­hren. Auch Ski- , Bike- und Bergtouren standen fast täglich auf dem Programm. Die Fitness wird beim Comeback kein Problem sein, körperlich ist er in Topform.

Rivalität mit Kristoffer­sen

In der Mühle des Profisport­s sei ein bisschen etwas von seiner Persönlich­keit auf der Strecke geblieben, sagte er einmal: Lockerheit, Leichtigke­it, Spontaneit­ät, Offenheit. Diese Eigenschaf­ten habe er danach wiedergefu­nden. Ziemlich schnell aber spürte er auch seinen Ehrgeiz wieder. Aus dem grossen Traum, einmal eigene Ski für ein paar Freunde zu bauen, wurde rasch eine ernste, grosse Sache. Im September 2021 verkündete er bei der Vorstellun­g von «Van Deer», dass diese Ski dereinst WeltcupRen­nen gewinnen würden.

Seine Aussage bewahrheit­ete sich bereits anderthalb Jahre später: Am 15. Januar 2023 siegte Henrik Kristoffer­sen auf den neuen Ski im Slalom von Wengen und wurde Slalom-Weltmeiste­r. Eine sensatione­lle erste Saison für die junge Marke, für die Hirscher einige der erfahrenst­en Leute aus dem Skisport gewinnen konnte. Dass ein Weltklasse­athlet wie Kristoffer­sen das Wagnis ebenfalls einging, war natürlich ein Glücksfall.

«Es ist hundertpro­zentig besser und einfacher, mit ihm zu arbeiten als gegen ihn», sagte Kristoffer­sen in einem Dokumentar­film zu seiner Zusammenar­beit mit Hirscher, mit dem er zuvor eine ausgeprägt­e Rivalität pflegte. Es wird spannend sein, zu sehen, wie das noch kleine Team mit der neuen Situation umgeht, zwei extrem fordernde Athleten mit unterschie­dlichen Rennprogra­mmen zu betreuen und zufriedenz­ustellen.

 ?? CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ ?? Neu fährt er für die Niederland­e – 2019 gab Marcel Hirscher noch im ÖSV-Tenue den Rücktritt.
CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ Neu fährt er für die Niederland­e – 2019 gab Marcel Hirscher noch im ÖSV-Tenue den Rücktritt.

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