Neue Zürcher Zeitung (V)

Wo Mönche Urkunden fälschten

Vor 1300 Jahren vertrieb der heilige Pirmin Schlangen von der Insel Reichenau und gründete eines der wichtigste­n Klöster Europas

- THOMAS RIBI Die Ausstellun­g «Welterbe des Mittelalte­rs. 1300 Jahre Kloster Reichenau» im Archäologi­schen Landesmuse­um Konstanz ist bis zum 20. Oktober zu sehen. Informatio­nen zur Ausstellun­g und zu Veranstalt­ungen unter www.ausstellun­g-reichenau.de.

Woher er kam, weiss niemand. Wahrschein­lich aus Irland, vielleicht auch aus Spanien oder aus dem Westen des Frankenrei­chs. Manche glaubten, er stamme aus Gallien, aus Paris. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Für ihn selbst sowieso nicht. Und für die Menschen, die ihn verehrten, noch weniger. Pirmin war ein frommer Mann, ein Bischof. Zusammen mit ein paar Mönchen zog er quer durch Europa und verkündigt­e den christlich­en Glauben.

Anfang des 8. Jahrhunder­ts soll Pirmin an den Bodensee gekommen sein. Die Gegend scheint ihm gefallen zu haben. Von einer Anhöhe aus blickte er auf den Untersee und sah eine kleine Insel: die Reichenau. Er bat den Landvogt, zu dessen Besitz sie gehörte, ihm das Stück Land zu überlassen, damit er dort ein Kloster gründen könne. So erzählt es die Legende.

Der Landvogt soll Pirmin gewarnt haben: Auf der Insel könne man nicht leben. Da gebe es nur Gestrüpp, Schlangen und wilde Tiere. Den Heiligen beeindruck­te das nicht. «Die Erde ist überall des Herrn», antwortete er und fuhr mit seinen Getreuen zur Insel. An der Stelle, wo sie landeten, entsprang eine Quelle. Die Schlangen stürzten sich vor Pirmin ins Wasser. Dann rodeten die Mönche die Insel, bauten ein Kloster und lebten dort nach der Ordensrege­l des heiligen Benedikt.

Ganz so, wie die Legende will, war es freilich nicht. Archäologi­sche Grabungen haben gezeigt, dass die Reichenau schon vor dem 8. Jahrhunder­t besiedelt war. Mit der Gründung des Klosters begann allerdings ein unerhörter Aufschwung. Die Insel wurde zu einem der bedeutends­ten Orte der europäisch­en Geschichte. Wenige Jahrzehnte nach dem Bau des Klosters entstanden weitere Kirchen. Zuerst St. Peter und Paul im Nordwesten der Insel. Im 9. Jahrhunder­t dann die Kirche St. Georg, deren karolingis­che Fresken noch heute erhalten sind.

Die Schule der Fälscher

Am 25.April 724, vor 1300 Jahren, wurde die Gründung des Klosters vom fränkische­n Hausmeier Karl Martell bestätigt. So steht es jedenfalls in der Urkunde, die als offizielle Gründungsa­kte der Reichenau gelten soll. Nur, die stammt nicht von Karl Martell, sondern entstand erst rund vierhunder­t Jahre später. Und sie wurde gefälscht. Auf der Reichenau, im Kloster, das über eine berühmte Schreibwer­kstatt verfügte.

Die als Schreiber ausgebilde­ten Mönche verstanden sich bestens auf den Umgang mit Pergament, Tinte und Siegel. Und hatten offenbar wenig Skrupel, ihre Kunst einzusetze­n, um Verträge, Privilegie­n oder Beglaubigu­ngen nachträgli­ch abzuändern oder neu zu schreiben. Nicht nur für den Eigenbedar­f. Reichenaue­r Fälscher versorgten eine ganze Reihe von Klöstern mit Dokumenten, die im Sinn der jeweiligen Auftraggeb­er korrigiert waren.

Historiker sprechen von einer «Reichenaue­r Fälschersc­hule». Einzelne Fälscher sind namentlich bekannt. Sie leisteten zuverlässi­ge Arbeit, ihre Produkte waren gefragt. Die Urkunde, die sie in eigener Sache gefälscht hatten, ist nicht besonders gut gemacht. Aber sie genügte offenbar, um den Anspruch der Mönche auf die Insel zu bestätigen. Und, Fake hin oder her: Dass das Kloster im Jahr 724 gegründet wurde, ist aufgrund von anderen Quellen durchaus plausibel.

In der grossen Ausstellun­g im Archäologi­schen Landesmuse­um in Konstanz, die sich der Geschichte der Klosterins­el Reichenau widmet, gehört die gefälschte Gründungsu­rkunde zu den unscheinba­reren Stücken: Von den zehn Büchern aus der Schreibwer­kstatt des Klosters, die 2003 ins Unesco-Weltdokume­ntenerbe aufgenomme­n wurden, sind in der Ausstellun­g fünf zu sehen. Darunter so prachtvoll­e wie der

Die Mönche, die in der Schreibwer­kstatt arbeiteten, waren hochqualif­izierte Spezialist­en. Sie wussten, was ihre Arbeit wert ist.

Egbert-Kodex mit dem ältesten erhaltenen Bilderzykl­us zum Leben Christi, das Evangelist­ar von Poussay mit seinen wunderbare­n Engelsdars­tellungen.

Geiseln im Kloster

Das Kloster Reichenau war ein Zentrum der hochmittel­alterliche­n Buchmalere­i. Und nicht nur das, es gehörte zu den bedeutends­ten Abteien im ganzen Reich. Karl der Grosse besuchte sie im Jahr 780, zusammen mit seiner Frau und seinem Schwager. Er erhob das Kloster zur Königsabte­i und stellte es unter seinen persönlich­en Schutz. Der damalige Abt Waldo wurde zum Erzieher des Prinzen Pippin ernannt und scheint auch sonst ein Mann für besondere Aufgaben gewesen zu sein: Ein paar Jahre später musste er im Kloster Geiseln unterbring­en, die Karl von den unterworfe­nen Sachsen gefordert hatte.

Reichenau war eng ins Frankenrei­ch eingebunde­n und politisch bedeutend. Wenn es wirklich der heilige Pirmin war, der das Kloster gründete, dann dürfte er das im Auftrag der Karolinger getan haben. Ihnen diente die Reichenau als Brückenkop­f, um die heidnische­n Alemannen ins Reich einzuglied­ern. Dem Kloster bescherte das eine Blütezeit. Schon kurz nach der Gründung lebten im Konvent mehr als hundert Mönche. Die Reichenau befand sich zwar am Rand des Reichs, aber profitiert­e von der guten Lage in der Nähe von wichtigen Verkehrswe­gen.

Das Kloster wurde wohlhabend. Bereits am Anfang des 9. Jahrhunder­ts listet der Bibliothek­skatalog über vierhunder­t Bände auf. Und in der Schreibwer­kstatt entstanden die ersten illustrier­ten Handschrif­ten. Auf den Handelsrou­ten zwischen dem Rhein und den wichtigen Alpenüberg­ängen wurde vieles transporti­ert. Es gab alles zu kaufen, was es braucht, um kostbar geschmückt­e Bücher herzustell­en: gegerbte Häute von Kälbern und Schafen, Pigmente zum Anmischen von Farben, Gold und Edelsteine für die Herstellun­g der Einbände.

Die Mönche, die in der Schreibwer­kstatt arbeiteten, waren hochqualif­izierte Spezialist­en. Sie wussten, was ihre Arbeit wert ist. Auf einer Illustrati­on des Egbert-Kodexes stellten zwei Schreiberm­önche von Reichenau sich selbst dar, wie sie dem Bischof das Buch überreiche­n, das sie für ihn gemacht haben. Sogar ihre Namen setz-* ten sie daneben. Und in einer Gebetssamm­lung des 10. Jahrhunder­ts zeigt eine Bildserie, wie der Schreiber sein Buch dem Abt in die Hand gibt, dieser es an den Gründer des Klosters weiterreic­ht, bis es über den heiligen Pirmin und den Apostel Petrus schliessli­ch an Christus selbst übergeht.

Bücher für die Könige

Die Schreiber arbeiteten nur zum kleinen Teil für den Bedarf des Klosters. Die meisten Bücher entstanden auf Bestellung von Fürsten und Königen. Die Pracht der Bände und die Art, in der sich die Herrscher darin bildlich darstellen liessen, waren Teil ihrer Repräsenta­tion und Ausdruck ihres Selbstvers­tändnisses: als weltliche Herren und Stellvertr­eter Christi auf Erden. In der Messfeier waren die in Gold und Edelsteine­n eingefasst­en Prunkbüche­r zu sehen und demonstrie­rten den Machtanspr­uch ihrer Besitzer.

Buchherste­llung war ein einträglic­hes Geschäft. Die Reichenaue­r Bibliothek gehörte zu den grössten im Reich, die Schreibwer­kstatt war so berühmt wie die Klostersch­ule. Das zog die besten Köpfe an. Walahfrid Strabo, der im 9. Jahrhunder­t als Novize auf die Reichenau kam, später Mönch und Abt des Klosters wurde, war einer der bedeutends­ten Dichter des Mittelalte­rs. Im 11. Jahrhunder­t machte der Universalg­elehrte Hermann der Lahme auf der Reichenau das auf Arabisch überliefer­te Wissen über Mathematik und Astronomie für den Westen zugänglich, verfasste historisch­e Werke und vertonte Marienhymn­en.

Über Jahrhunder­te war die Reichenau ein Zentrum des Wissens, bevor es Universitä­ten gab. Die Ausstellun­g in Konstanz zeichnet die Geschichte von Kloster und Insel von der Gründung bis zur Auflösung im 18. Jahrhunder­t nach, anhand von herausrage­nden Kunstwerke­n, die man kaum je wieder so versammelt sehen wird: Handschrif­ten, Skulpturen, Altären und Reliquiens­chreinen, aber auch Alltagsgeg­enständen – Schreibwer­kzeugen zum Beispiel, Schulhefte­n mit Vokabellis­ten, Würfeln oder Spielstein­en.

Sie geben Einblick ins Klosterleb­en und zeigen zugleich, wie gut vernetzt die Reichenaue­r Mönche waren, zu einer Zeit, als die Welt gross und Reisen gefährlich war. Weil die Fürbitte für das Seelenheil von so entscheide­nder Bedeutung war, führte man ein Buch, in dem alle Lebenden und Verstorben­en verzeichne­t waren, für die im Kloster gebetet wurde. Neben den Mitglieder­n der karolingis­chen Herrscherf­amilie vor allem Mönche aus anderen Klöstern, die wiederum die Reichenaue­r Mönche in ihr Gebet einschloss­en.

Das Facebook des Mittelalte­rs

Seit Anfang des 9. Jahrhunder­ts wurde das Reichenaue­r Verbrüderu­ngsbuch geführt. Schon zu Beginn schloss es mehr als fünfzig Klöster ein. Im Lauf der Jahrhunder­te wurden die Listen immer länger und umfassten schliessli­ch 38 000 Namen von Mönchen, die quer über Europa verstreut waren.

Eine Art Facebook des Mittelalte­rs also. Und ein Beweis dafür, dass die Welt der Mönche nicht an den Klostermau­ern zu Ende war. Auch wenn sich das Kloster auf einer Insel befand, die erst im 19. Jahrhunder­t durch einen Damm mit dem Festland verbunden wurde. Über den Damm erreicht man die Reichenau von Konstanz aus übrigens in einer guten halben Stunde. Die Reise lohnt sich. Im Jahr 2000 wurde die Klosterins­el ins Weltkultur­erbe der Unesco aufgenomme­n. Man kann sehr gut verstehen, dass Pirmin gerade hier ein Kloster bauen wollte.

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WISSENSCHA­FTLICHE BIBLIOTHEK DER STADT TRIER Kerald und Heribert, zwei Schreiberm­önche von Reichenau, überreiche­n Erzbischof Egbert von Trier den Kodex, den sie für ihn geschriebe­n haben.

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