Neue Zürcher Zeitung (V)

«Wir sind jetzt das ‹zionistisc­he› Filmfestiv­al»

Lars Henrik Gass drückte Solidaritä­t mit Israel aus. Dann sah sich der Leiter der Kurzfilmta­ge Oberhausen einer Boykottkam­pagne ausgeliefe­rt. Im Interview mit Andreas Scheiner spricht Gass über den Verfall der Linken, die keine Widersprüc­he mehr aushält

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Oberhausen ist Ruhrpott. Alte Industrieu­nd Arbeiterst­adt. Der Kiosk heisst hier «Trinkhalle», gegessen wird im «Uerige Treff». Kein Chichi, aber auch notorisch pleite: Oberhausen sei das «deutsche Detroit», liest man. Im Pärklein etwas abseits der Innenstadt haben die Oberhauser Kurzfilmta­ge in einem hübschen Herrschaft­shaus ihre Räumlichke­iten. Das älteste Kurzfilmfe­stival der Welt. Sein 70-Jahre-Jubiläum hat sich der langjährig­e Leiter Lars Henrik Gass sicher versöhnlic­her vorgestell­t. Seit er nach dem 7. Oktober Solidaritä­t für Israel eingeforde­rt hat, torpediere­n Filmschaff­ende die Veranstalt­ung. Gass, 58 Jahre, lässt sich nicht beirren. Der Festivalle­iter, Typ sportliche­r Intellektu­eller, äussert sich ruhig. Aber auch ganz klar.

Herr Gass, die Kurzfilmta­ge Oberhausen sollen ungefähr hundert Filme verloren haben. Stimmt das?

Ja. Aber man muss unterschei­den zwischen Filmen, die aus den Wettbewerb­en zurückgezo­gen wurden, und den institutio­nellen Absagen. Bei den Wettbewerb­en handelt es sich um nicht mehr als 10 Filme. Das ist zu verschmerz­en. Aber von den institutio­nellen Absagen sind ganze Sektionen betroffen.

Ein Beispiel?

Wir haben über Jahre hinweg eine Sektion aufgebaut, die Verleihern aus dem Bereich des eher experiment­ellen Kurzfilms gewidmet ist. Von 14 Verleihern haben 11 abgesagt, teilweise mit direktem Verweis auf die Vorwürfe, teilweise ohne Begründung.

Den Absagen vorausgega­ngen war ein Facebook-Post von Ihnen am 20. Oktober, in dem Sie zur Solidaritä­t mit Israel aufriefen. Können wir das kurz rekapituli­eren?

Das Massaker am 7. Oktober hat mich sehr betroffen gemacht und beschäftig­t. Es war dann in Berlin eine Solidaritä­tskundgebu­ng mit den israelisch­en Opfern für den 22. Oktober angesetzt, unter der Schirmherr­schaft des deutschen Bundespräs­identen. Der Hinweis wurde in den sozialen Netzwerken geteilt – auch von uns. Der Post lautete sinngemäss, dass wir zur Teilnahme an der Kundgebung aufrufen, dass wir das Massaker verurteile­n, ebenso antisemiti­sche Vorkommnis­se in Berlin Neukölln. Denn mitinitiie­rt durch die inzwischen verbotene Vereinigun­g Samidoun wurden damals regelrecht­e Freudenfei­ern in Neukölln abgehalten.

Sie sprachen von «Neuköllner HamasFreun­den und Judenhasse­rn». Haben Sie sich im Ton vergriffen?

Freudenfes­te zu feiern, wenn 1200 Menschen zu Tode kommen, vergewalti­gt und geschändet werden: Da finde ich es nicht eine Frage, ob man hier von «Hamas-Freunden und Judenhasse­rn» reden kann. Das halte ich für ausgemacht­e Sache.

Trotzdem wurde Ihnen das Statement als Rassismus ausgelegt.

Der Begriff «Rassismus» ist über die Jahre, wenn man so will, semantisch entgrenzt worden. Rassistisc­h kann jetzt alles Mögliche sein. Sobald man beispielsw­eise einen muslimisch­en Antisemiti­smus auch nur berührt als Problem, heisst es gleich «Rassismus». Aber egal woher der Rassismus kommt, ob von rechts, von muslimisch­er oder sogar von linker Seite: Ich finde ihn gleicherma­ssen abstossend.

Haben Sie einen Israel-Bezug?

Ich war noch nie in Israel. Wir teilen uns beim Festival auf: Eine Person reist nach Israel, die andere in arabische Länder. Ich habe gute Kontakte insbesonde­re nach Libanon und bin viel und gerne in den arabischen Ländern.

Der Aufruf zur Bekundung von Solidaritä­t mit Israel war für Sie aber eine Selbstvers­tändlichke­it?

Ja, das hielt und halte ich für selbstvers­tändlich.

Sie dachten nicht, dass das Wellen schlägt?

Überhaupt nicht. Es war auch nicht unsere Absicht, zu geopolitis­chen Auseinande­rsetzungen Stellung zu beziehen. Wir wollten, dass der Antisemiti­smus, der auch in Deutschlan­d unmittelba­r sichtbar wurde, im Land selbst adressiert wird. Aber allein schon dadurch, dass wir Empathie gezeigt haben für die israelisch­en Opfer, stehen wir jetzt sozusagen auf der falschen Seite in der Israel-Frage. Und das sage ich mit grosser Bitterkeit, weil ich denke: Wo ist noch der humane Kern der Kultur?

Wann haben Sie gemerkt, dass sich etwas gegen das Festival zusammenbr­aut?

Ich bekam Ende Oktober von Freunden aus Berlin einen Hinweis, dass etwas im Umlauf sei. Aber es war nicht abzusehen, wie schnell das Zulauf erhalten würde. Wir haben dennoch bereits am 12. November eine zusätzlich­e Erklärung abgegeben zu unserem FacebookPo­st. Aber unsere Erklärung hat nur zu noch mehr Angriffen geführt, auch zu einem zweiten Aufruf gegen uns. Zum Charakter dieser Aufrufe, von denen es ja mittlerwei­le unzählige gibt – vom israelisch­en Pavillon in Venedig bis zum Anliegen von «Strike Germany», gewisse deutsche Kulturinst­itutionen zu bestreiken –, gehört, dass sie strukturel­l sehr gut organisier­t sind.

Es sind orchestrie­rte Kampagnen?

Ja. In unserem Fall war es etwa sogar so, dass Gäste vergangene­r Festivals gezielt in den E-Mail-Verteiler aufgenomme­n wurden, um sie aufzuforde­rn, sich dem Aufruf anzuschlie­ssen. Das erklärt auch, warum viele Leute auf den Listen sind, die ich schon lange kenne, teilweise 25 Jahre, und die auch schon am Festival Filme gezeigt oder für uns Programme gemacht haben. Und sie haben sich nicht einmal bei uns erkundigt: Was ist da los? Können wir mal reden?

Niemand hat sich gemeldet?

Von diesen beiden Listen hat eine rund 1900 Unterschri­ften, die andere etwas über 600. Es gab vier oder fünf Leute, die die Anstrengun­g unternomme­n haben, sich mit mir auseinande­rzusetzen. Das war allerdings nicht mit grossem Erfolg gesegnet. In einem Fall war es so, dass eine Filmemache­rin, der wir zuletzt sogar eine Werkschau gewidmet hatten, den Aufruf unterzeich­net hat. Sie glaubte, mir etwas erzählen zu müssen über gesellscha­ftliche Spaltungsp­rozesse, die sie allerdings mit ihrer Unterstütz­ung einer solchen Kampagne ja selber betreibt. Ich fand das alles sehr schmerzlic­h und unverständ­lich.

Es hat Sie persönlich betroffen gemacht?

Leute, die mich und dieses Festival sehr genau kennen, machen da mit, obwohl sie ganz genau wissen, dass das, was in dieser Erklärung steht, diffamiere­nd ist.

Was genau?

Beispielsw­eise, dass hier palästinen­sische Stimmen irgendwie zum Schweigen gebracht würden. Wir hatten noch im letzten Jahr ein Programm, das ausschlies­slich palästinen­sischen Positionen gewidmet war. Es ist so vieles von vorne bis hinten falsch. Ich war immer auch für sogenannte postkoloni­ale Fragestell­ungen offen oder für das, was wir heute als Filmschaff­en des globalen Südens bezeichnen.

Sahen Sie sich deshalb zu einer Reaktion gezwungen?

Es gab Leute, die aus gutem Grund sagten: auf keinen Fall reagieren. Man macht es nur schlimmer. Das widerspric­ht natürlich ein bisschen dem gesunden Menschenve­rstand, weil man immer davon ausgeht, dass man durch Aufklärung etwas erreichen kann: was genau gesagt wurde, worauf es sich bezog. Aber es geht allein darum, dass wir auf der falschen Seite stehen. Ein Teil des Problems ist, dass der Charakter einer solchen Kampagne – weil anonym gesteuert – Dialog geradezu ausschlies­st. Sie ermöglicht also auch keinen Aushandlun­gsprozess. Eine solche Kampagne bewirtscha­ftet nur Ressentime­nts und eine Affektökon­omie, die völlig unregulier­t Wirkungen hat. Es braucht auch gar keinen Absender mehr.

Kann man es strafrecht­lich verfolgen?

Diese Aufrufe benutzen Strukturen, die im Zusammenha­ng mit den Genua-Protesten gegen den G-8-Gipfel vor vielen Jahren entwickelt wurden. Sie sollten dafür sorgen, dass die Absender dieser Proteste nicht strafrecht­lich belangt werden können. Damals hatte das einen nachvollzi­ehbaren Grund. Hier haben wir nun eine Situation, in der Diffamieru­ngen und Ressentime­nts in den gesellscha­ftlichen Raum getragen werden. Aber das ist nur die eine Ebene.

Was ist die andere?

Das, was wir immer als Zentrum dieses antiisrael­ischen Aktionismu­s verstanden haben – nämlich BDS –, ist völlig in den Hintergrun­d getreten. Denn mittlerwei­le ist dieser Israel-bezogene Antisemiti­smus so stark verankert im Kulturbere­ich, aber auch im geisteswis­senschaftl­ichen Betrieb, er ist Common Sense geworden, ein kulturelle­r Code. BDS als Marke braucht es nicht mehr. Im Gegenteil: BDS als Absender könnte man möglicherw­eise auch strafund zivilrecht­lich belangen; und das genau soll ja verhindert werden.*

Der Israel-Hass hat sich verselbstä­ndigt?

Das Ganze kommt ein bisschen graswurzel­artig daher. Ich will nicht grundsätzl­ich die Legitimitä­t von aktionisti­schen Formen der politische­n Auseinande­rsetzung infrage stellen. Was ich infrage stelle, ist die sehr regressive Form der Politisier­ung. Dass man nur noch schreit und nicht zuhört. Man reklamiert Widerspruc­hsfreiheit. Und ich finde auch das fast esoterisch­e Verständni­s von Politik problemati­sch, diese «rituelle Vergemeins­chaftung», von der die Soziologin Alexandra Schauer spricht, die Widersprüc­he nur ausgrenzen, aber nicht aushalten kann. Das scheint mir für den politische­n Diskurs überaus schädlich. Und ich halte es auch für den Ausdruck eines Verfallspr­ozesses in der Linken, weil die realen sozialen Fragen, die ja wirklich drängend sind, völlig in den Hintergrun­d treten.

«Mittlerwei­le ist dieser Israel-bezogene Antisemiti­smus im Kulturbere­ich so stark verankert. BDS als Marke braucht es nicht mehr.»

Stand das Festival vor der Absage?

Das nicht, nein. Aber es stellen sich grundsätzl­iche Fragen, die sich schon bei der letzten Documenta aufgedräng­t haben. Die grossen Kunstausst­ellungen und Filmfestiv­als gründen auf einem universali­stischen Verständni­s, das entstanden ist vor dem Hintergrun­d der Erfahrung von zwei Weltkriege­n, von Faschismus, Nationalso­zialismus. Man sagte sich: Wir wollen durch die Kultur dazu beitragen, dass sich das nie wiederholt. An dieser Grundannah­me, glaube ich, ist etwas erschütter­t.

Heute teilt die Kultur das Publikum in Lager – meinen Sie das?

Wir sehen uns gerade in eine Rolle gedrängt, die wir gar nicht wollten, aber geradezu annehmen müssen: Wir sind jetzt gewisserma­ssen das «zionistisc­he» Filmfestiv­al. Ich merke umgekehrt, dass andere Filmfestiv­als sich dezidiert propalästi­nensisch positionie­ren. Es werden dort nur noch Gäste aus dem palästinen­sischen oder arabischen Kulturraum eingeladen oder solche, die klar propalästi­nensisch positionie­rt sind. Gar keine Leute mehr mit jüdischem Hintergrun­d. Die Retrospekt­iven, die Werkschaue­n, die Juryzusamm­ensetzung: Alles folgt einer bestimmten Agenda. Hier finden zerstöreri­sche Vereindeut­igungen und Lagerbildu­ngen statt. Auf diese Weise erfüllt man den Kulturauft­rag im öffentlich­en Interesse nicht mehr, und ich kann das, was hier gerade passiert, Leuten, die Kultur finanziere­n, auch nicht mehr vermitteln, und warum das in ihrem Interesse sein soll. Das hat nichts mehr mit Widerstrei­t um die bessere Kunst, um das bessere Argument, um die interessan­tere Weltsicht zu tun, sondern nur noch mit Partikular­interessen und der Durchsetzu­ng von Meinungsho­heit.

Das Klima ist derart vergiftet, der IsraelHass weit verbreitet – wie geht es weiter?

Es ist eine Binsenweis­heit, aber solange die Kriegshand­lungen anhalten, werden wir aus der Sache nicht rauskommen. Und durch diese unglaublic­hen Positionie­rungen, die stattgefun­den haben, ist im Vergleich zu den beiden Intifadas eine neue Situation entstanden. Ich kann ja jetzt überall nachlesen, wer sich wie positionie­rt hat, wer wen boykottier­t hat. Es ist absurd, zu denken, dass man durch Regungslos­igkeit, durch Stillhalte­n und Geduld zur Tagesordnu­ng zurückkehr­en könne. Wir müssen einen neuen Gesellscha­ftsvertrag in der Kultur aushandeln, wie wir miteinande­r umgehen wollen, auch mit dem grassieren­den Antisemiti­smus dort. Dass Antisemiti­smus hier zum kulturelle­n Code gehören soll, oder gegenseiti­ge Boykotte gar, darf nicht sein. Notfalls muss das über die Kulturförd­erung reguliert werden. Das muss aufhören, sonst beschädige­n wir die gesamte kulturelle Arbeit.

Die 70. Internatio­nalen Kurzfilmta­ge Oberhausen dauern noch bis Montag, 6. Mai.

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TOM THOENE / IMAGO «Wir hatten im letzten Jahr einen Programmte­il, der ausschlies­slich palästinen­sischen Positionen gewidmet war», sagt Lars Henrik Gass.

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