Am Ende warten Tod und Krieg
Goethes «Werther» und Thomas Manns «Zauberberg» sind die berühmtesten Romane der deutschen Literatur.
Lange hat die deutsche Literatur gebraucht, bis sie sich im Kreis der europäischen Literaturen als gleichrangiges Mitglied neben der englischen, französischen, italienischen oder spanischen Literatur sehen lassen konnte. Ausgerechnet der Autor aber, der die Tür der deutschen zur Weltliteratur aufstiess, blieb zunächst anonym. Sein Trauerspiel «Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand» und sein Roman «Die Leiden des jungen Werthers» erschienen 1773 und 1774 ohne den Namen des Autors, der doch bald in aller Munde sein sollte.
Erst mit Goethes «Werther» betrat vor 250 Jahren die deutsche Literatur die Bühne des europäischen Romans, um sich mit diesem spektakulären Auftritt auch gleich wieder von ihr zu verabschieden. Das breite europäische Lesepublikum konnte sich in der Folgezeit mit deutschen Romanen nur selten anfreunden, auch nicht mit Goethes eigenen späteren Wilhelm-Meister-Romanen und den «Wahlverwandtschaften». Es sollte volle 150 Jahre dauern, bis ein deutscher Roman wiederum die Weltleserschaft erreichte: Thomas Manns «Der Zauberberg», der in diesem Herbst seinen 100. Geburtstag feiert.
Mythische Archetypen
Werther gehört wie Don Quijote, Hamlet, Don Juan oder Faust zu den Gestalten, die aus ihrer literarischen Umgebung herausgetreten sind und ein Eigenleben als quasi mythische Archetypen entfaltet haben. Don Quijote steht für das Aufbegehren gegen eine prosaische Realität im Namen überständiger ritterlicher Werte, Hamlet für melancholische Tatfremdheit, Don Juan für die sinnliche Genialität des Verführers, Faust für radikales Erkenntnisstreben und jegliche Grenzüberschreitung. Werther ist der Archetyp für den durch unerfüllbare Liebe in den Selbstmord getriebenen, in seinem Gefühlsüberschwang an einer widerständigen Umwelt zerbrechenden Schwärmer.
Es dürfte einmalig in der Weltliteratur sein, dass einer rein fiktiven Gestalt derart unmittelbar, ja zitathaft nachgelebt, gar nachgestorben wurde, wie das bei Werther der Fall gewesen ist. Goethe hat mehrere eigene und fremde biografische Ereignisse zu einer fiktiven Geschichte umgebildet.
Modelle für sie waren zumal drei für die Periode der Empfindsamkeit so typische erotische Dreiecksbeziehungen: Goethes eigenes Verhältnis zu Charlotte Buff, der Braut des Wetzlarer Gesandtschaftssekretärs Christian Kestner, sowie später zu Maximiliane von La Roche, der Mutter von Bettina und Clemens Brentano, und die im Selbstmord endende Liebe des Goethe ebenfalls aus Wetzlar bekannten Juristen Karl Wilhelm Jerusalem.
Goethe hat die Hintergründe der ungeheuren Resonanz des «Werthers» im dreizehnten Buch von «Dichtung und Wahrheit» eingehend zu begründen versucht. Er beschreibt zumal die durch die englische Nacht- und Kirchhofpoesie geförderte melancholische Zeitstimmung, die er mit der politischsozialen Situation in Deutschland in Verbindung bringt, welche der Jugend kaum einen Raum für schöpferische Aktivität eröffnet habe.
Die Aufklärer reagierten pikiert
Die «Wirkung dieses Büchleins», resümiert Goethe, sei so «ungeheuer» gewesen, «weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so gross, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam.»
Während «Werther» von den Stürmern und Drängern emphatisch gefeiert wurde, stiess er weitgehend auf Ablehnung im Aufklärungslager. Für Lessing wie für andere Repräsentanten der Spätaufklärung war es eine beklemmende Erfahrung, dass sich der neue Gefühlskult der Empfindsamkeit der Kontrolle der Vernunft so radikal wie in Goethes Roman entziehen konnte und dass das Werk der Aufklärung mehr und mehr durch die Gegengewalten der Melancholie, des Lebensekels, der Schwärmerei bedroht wurde.
Lessings Freund Friedrich Nicolai hat 1775 einen Gegenroman zu Goethes Roman verfasst: «Freuden des jungen Werthers», dessen salbadernder Rationalismus, der Glaube, Werthers Leiden seien als blosse Hypochondrie durch diätetische Mittel zu «purgieren», Goethe in Rage gebracht hat. Davon zeugt nicht nur seine szenische Meta-Parodie von Nicolais Roman («Anekdote zu den Freuden des jungen Werthers», 1775), sondern auch sein satirisches Gedicht «Nicolai auf Werthers Grabe». Da lässt er einen «schönen Geist» à la Nicolai seine Notdurft auf Werthers Grab verrichten und dessen Tod folgendermassen kommentieren: «Der gute Mensch wie hat er sich verdorben! / Hätt er geschissen so wie ich, / Er wäre nicht gestorben!»
Die Schatten Werthers haben Goethe sein ganzes Leben keine Ruhe gelassen. Selbst in Italien wurde er von ihnen verfolgt, so dass er in der ersten Fassung der zweiten seiner «Römischen Elegien» ausruft: «Wäre Werther mein Bruder gewesen, ich hätt ihn erschlagen, / Kaum verfolgte mich so rächend sein trauriger Geist.»
Dieser Geist wird ihn indessen bis ins hohe Alter verfolgen. Als die Weygandsche Buchhandlung fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des «Werthers» eine Jubiläumsausgabe veranstaltet, eröffnet Goethe sie mit einem Gedicht «An Werther»: «Noch einmal wagst du vielbeweinter Schatten / Hervor dich an das Tageslicht».
Später hat er dieses Gedicht mit der Marienbader «Elegie», die unter dem erschütternden Eindruck des endgültigen Abschieds von Ulrike von Levetzow entstanden ist, und dem Gedicht «Aussöhnung» zur «Trilogie der Leidenschaft» zusammengefügt – und es so in einen Zusammenhang mit seiner eigenen tragischen Liebeserfahrung gebracht, der erkennen lässt, dass Werther bis ins hohe Alter eine verborgene Seite seines eigenen Wesens berührte.
Thomas Mann hat in seinem «Werther»-Essay von 1941, der am Ende mit eulenspiegelhafter Verstellung seinen eigenen Roman «Lotte in Weimar» über die Weimar-Reise der einstigen Geliebten Goethes im Jahre 1816 ins Spiel bringt, von der «entnervenden und zerrüttenden Empfindsamkeit des kleinen Buchs» gesprochen, welche die zeitgenössische Welt «buchstäblich verrückt vor Sterbenswonne» gemacht habe. Da sind wir schon nahe bei der «Sympathie mit dem Tode», Thomas Manns berühmter Formel, die ein Grundthema des «Zauberbergs» bildet.
Rettende schöpferische Gabe
Thomas Mann nimmt in «Werther» die Brüchigkeit der vorrevolutionären Welt wahr, das «Rütteln an den Fesseln einer erstarrten Kultur», das die «Katastrophe und ungeheuere Lufterneuerung der Französischen Revolution» vorausahnen lässt. Werther zieht aus dem Leiden an den Schranken der Welt freilich weder politische noch ästhetische Konsequenzen, ist weder Revolutionär noch Künstler. Und das lässt ihn schliesslich der «Krankheit zum Tode» erliegen, um die durch Kierkegaards gleichnamige Schrift berühmt gewordene Formel zu zitieren, die Werther in seinem Brief vom 12. August dem Johannesevangelium (11,4) entnimmt.
Werther «ist der junge Goethe selbst, minus der schöpferischen Gabe, die diesem die Natur verliehen», so Thomas Mann. Mit anderen Worten: Werther ist ein Dilettant – in dem Sinne, den Goethe und Schiller später in einem gemeinsamen Projekt zu entfalten planten. «Um ein todverfallenes (. . .) Menschenwesen zu schildern, braucht ein Dichter nur sich selbst zu geben – unter Weglassung der schöpferischen Gabe, die ihm selber Stütze und Stab ist, ihn selbst auf dem Pfade des Lebens weiterlockt.» So noch einmal Thomas Mann. Werther begeht Selbstmord, weil er eben kein Dichter ist!
Zwischen «Werther» und dem «Zauberberg» scheint eine Welt zu liegen. Thomas Mann, zeitlebens in Spuren Goethes gehend (so sein eigener Ausdruck), folgt nicht denen des revolutionären Briefromans, sondern in Ernst und Parodie den Spuren des Bildungsromans in der Nachfolge von «Wilhelm Meisters Lehrjahren». Mit diesen beginnt die spezifisch deutsche
Erst mit «Werther» betrat die deutsche Literatur die Bühne des europäischen Romans, um sich mit diesem spektakulären Auftritt auch gleich wieder von ihr zu verabschieden.
Laufbahn des später so genannten Bildungsromans.
Er ist der Sonderweg der deutschen Literatur, der am Mainstream des europäischen Gesellschaftsromans vorbeiführt und nie die höchste Aufmerksamkeit des Publikums ausserhalb des deutschen Sprachbereichs gewinnen konnte. Erst Thomas Manns «Zauberberg» hat den Bildungsroman zur Weltliteratur werden lassen, indem er ihn mit dem Gesellschaftsroman zusammengeführt hat.
Der «Zauberberg» ist wie «Werther» ein Roman der Zeitenwende. Die soziale Welt, die der Erzähler beschwört und in der Todeswelt des Lungensanatoriums spiegelt, ist mit dem «Donnerschlag» des Weltkrieges, «der die Grundfesten der Erde erschütterte», unwiderruflich zugrunde gegangen.
Die Geschichte der «Zauberberg»Deutung ist geprägt von dem Streit, ob der Roman eine Bildungs- oder eine Verfallsgeschichte sei. Die eine Seite sieht den ideellen Angelpunkt des «Zauberbergs» im «Schnee»-Abschnitt des sechsten Kapitels, das in dem Postulat des Protagonisten Hans Castorp gipfelt: «Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.»
Umheult von Granaten
Die andere Seite betont, dass der Protagonist sein Postulat alsbald wieder vergisst und dem Bann des Todes erneut bis zum bitteren Ende zu verfallen scheint. Doch das trifft nur oberflächlich betrachtet zu. Die Schlussfolgerung Hans Castorps aus seinem Schneeerlebnis klingt am Ende des Musik-Abschnitts «Fülle des Wohllauts» als Quintessenz seiner Gedanken über Franz Schuberts «Lindenbaum» aus der «Winterreise», das «Todeslied der Romantik», unüberhörbar wieder auf. Die wahre Weisheit werde derjenige aus jenem Lied und seiner Todessympathie ziehen, heisst es da in der erlebten Rede des Protagonisten, «der in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das
neue Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wusste».
Das ist die Vorwegnahme des letzten Moments von Hans Castorps Leben, soweit der Erzähler es uns mitteilt. Hier singt er noch einmal das «Zauberlied des Todes», inmitten der Materialschlacht des Weltkrieges, umheult von Sprenggranaten. Das Singen angesichts der Vernichtungsmaschinerie ist aber ein Singen gegen den Tod, im Namen einer Zukunft, von der freilich ungewiss bleibt, ob der Singende selber sie erleben wird.
Humor als Heilmittel
Die «Sympathie mit dem Tode» weicht im «Zauberberg» dem «Entschluss zum Lebensdienste», wie Thomas Mann immer wieder betont hat. In dieser Hinsicht stehen die beiden berühmtesten Romane der deutschen Literatur in einem antithetischen Verhältnis zueinander: Der «Zauberberg» ist ein Anti-«Werther». «Der Roman, obgleich er vom Tode handelt, ist ein ‹lebensfreundliches› Buch», insistiert Thomas Mann in seinem Brief vom 21. November 1925 an Robert Faesi, «eine innere Eigenschaft, die sich äusserlich durch Humor bekundet.»
Der Humor ist das wirkungsmächtigste Heilmittel gegen die Krankheit zum Tode, von der Werther heimgesucht wird. Von diesem Humor aber ist der tragische Briefroman weit entfernt. Ihm fehlt eben der Erzähler, wie Goethe ihn in seinem Wilhelm-Meister-Roman als Instanz des Humors und der Ironie über den Dingen walten lässt.
In diesen Spuren, gemäss der Grundmaxime der Wilhelm Meister in ihren Bann ziehenden Turmgesellschaft: «Gedenke zu leben», bewegt sich auch der «Zauberberg». Es sind die Spuren lebensfreundlichen Humors, der die Todeswelt dieses vermeintlich so ganz vom Memento mori bestimmten Romans in ihre Schranken weist.