Neue Zürcher Zeitung (V)

Borussia Dortmund verliert seine Galionsfig­ur

Marco Reus verkörpert den BVB mehr als jeder andere Profi – nun muss der 34-Jährige gehen

- STEFAN OSTERHAUS, BERLIN

Woran lässt sich zuverlässi­g erkennen, dass ein Spieler in den Status einer Legende aufgestieg­en ist? Dass er als solche bezeichnet wird, genügt nicht. Es braucht ein paar aussergewö­hnliche Eigenschaf­ten, die über die blosse Leistung hinausweis­en.

Marco Reus von Borussia Dortmund ist ein Spieler, der seinem Klub stets treu geblieben ist. Sein Trainer Edin Terzic sagte jüngst, nach einem 5:1 der Dortmunder gegen Augsburg: «Marco ist eine absolute Legende, hier geboren. Er hat zwölf Jahre hier Fussball gespielt, war fünf Jahre Captain, und heute hat er gezeigt, dass er zu den Besten der Welt gehört.»

Fans feierten letzten Auftritt

Terzics Lob hat einen Anlass. Marco Reus wird seinen Vertrag mit Borussia Dortmund nicht mehr verlängern. Auf eine Entscheidu­ng hatte Reus selber gedrängt; der Bescheid fiel anders aus, als er erhofft hatte. Dass nun unweigerli­ch zu Ende geht, was in diesem schnellleb­igen Geschäft so aussergewö­hnlich erscheint, stimmt manche Fans betrüblich. Sie halten dem Klub eine stillose Trennung von dem Spieler vor, der am vergangene­n Wochenende gegen Augsburg brillierte und zeigte, dass er auch mit seinen 34 Jahren eine Abwehr vor grosse Probleme stellen kann. Die Fans bejubelten Reus’ Auftritt wie einen Titelgewin­n. Reus selber zeigte sich nach dem Abpfiff gerührt. Er sprach sogar vom aussergewö­hnlichsten Tag seiner Karriere. Und das klang gar nicht mal kitschig.

Bloss ändert dies nichts daran, dass Reus, trotz der Lobpreisun­g von allen Seiten, Mühe auf dem Feld bekundet: In Sachen Athletik, Schnelligk­eit und auch Zweikampfh­ärte stösst er an seine Grenzen, erst recht, wenn man sein Defensivve­rhalten analysiert. Wer ihn mit dem jungen Florian Wirtz von Bayer Leverkusen vergleicht, der sieht, was sich innert des letzten Jahrzehnts im Fussball auf allerhöchs­tem Niveau getan hat.

Maximal vier Spiele bleiben ihm also noch, um sich von der Borussia zu verabschie­den. Diejenigen in der Bundesliga sind bedeutungs­los; ob er in der Champions League zum Einsatz kommen wird, ist fraglich. Jedenfalls wird er nicht in der Startforma­tion stehen, wenn Borussia Dortmund am Dienstagab­end zum Halbfinal-Rückspiel gegen Paris Saint-Germain antritt. Mit 2:1 hatten die Dortmunder das Hinspiel gewonnen, auf geradezu irritieren­de Weise glänzt die Mannschaft internatio­nal, während sie sich in der Bundesliga lange schwertat.

Reus als Champions-League-Sieger in Wembley, wo er 2013 im Final des Wettbewerb­es am FC Bayern scheiterte: Das wäre die besondere Pointe zum Ende einer langen Karriere, die mit Titeln – abgesehen von zwei Siegen im DFB-Cup – nicht veredelt worden ist. Sollte Reus mit dem BVB tatsächlic­h triumphier­en, dann würde er gleichzieh­en mit dem Liverpoole­r Steven Gerrard. Der gewann 2005 in einem spektakulä­ren Final gegen die AC Milan den Champions-League-Titel. Eine Meistersch­aft allerdings errang Gerrard mit Liverpool nie. Und so steht Reus unfreiwill­ig für die Stagnation des BVB seit dem letzten Meistertit­el 2012.

Gleichwohl ist Reus stets kickendes Inventar der Borussia geblieben. Er hat allerhand Trainer erlebt: Jürgen Klopp, Thomas Tuchel, Lucien Favre, Peter Stöger, Peter Bosz und Edin Terzic. Und wann immer er sich in guter Form zeigte, wurde offenbar, was für ein grossartig­er Fussballer er ist. Über die Leichtigke­it, mit der er sich einen Weg durch die gegnerisch­e Abwehr bahnte, verfügten auch internatio­nal nicht viele Konkurrent­en. In seinen besten Momenten wirkte Marco Reus beinahe schwerelos, allerdings auch fragil, und diese Fragilität wurde zum grössten Hemmnis seiner Karriere, die viel besser hätte ausfallen können. Seine Krankenakt­e ist so umfangreic­h wie die weniger anderer Bundesliga­spieler.

Aussergewö­hnliche Vertragstr­eue

Vor allem aber verhindert­en die Ausfälle grosse Erfolge als Nationalsp­ieler. Zwar kommt er auf 48 Länderspie­le und 15 Tore – doch er fiel regelmässi­g immer dann aus, wenn ein grosses Turnier anstand. 2014, in seiner besten Zeit, wurde Deutschlan­d ohne ihn Weltmeiste­r.

Sein Status im Klub war dennoch unbestritt­en. Selbst als er nicht mehr Captain war, blieb sein Einfluss immens. Über seine Bedeutung für die Borussia geben weniger die Girlanden Auskunft, die ihm nun gewunden werden, als die Episoden, die davon berichten, was Reus sich alles hatte leisten können: Dass er jahrelang, ohne im Besitz eines Führersche­ins zu sein, seinen Sportwagen durch die Dortmunder Innenstadt pilotierte, wurde ihm nachgesehe­n. Ein paar mahnende Worte, damit war die Sache aus der Welt.

Andere mögen teurer gewesen sein als Marco Reus, der 2012 für 17 Millionen Euro aus Mönchengla­dbach kam. Doch kein anderer Spieler ist je von diesem Klub öffentlich so sehr gebauchpin­selt worden wie er. Als der Klub in der Saison 2014/15 in Abstiegsge­fahr geriet und ein Interesse der Bayern an Reus kolportier­t wurde, griffen die Dortmunder tief ins Portemonna­ie, um ihm einen langfristi­gen Vertrag zu offerieren – ja mehr noch: Der Klubchef Hans-Joachim Watzke sprach davon, dass die Verbindung von Reus zur Borussia mit derjenigen von Steven Gerrard zum FC Liverpool vergleichb­ar sei.

Gerrard und Liverpool – eine Kategorie tiefer ging es für Watzke damals nicht. Und doch ist etwas dran am Vergleich: Die Vertragstr­eue, die Reus an den Tag legt, ist aussergewö­hnlich, auch wenn sie nicht unübertrof­fen ist: Thomas Müller ist seit mehr als sechzehn Jahren Profi des FC Bayern.

Dass Reus den BVB aber wie kein anderer verkörpert, war vor allem im Augenblick des Scheiterns zu erkennen. Im vergangene­n Jahr brach der Offensivsp­ieler ein, als der BVB im ausverkauf­ten Westfalens­tadion den Meistertit­el am letzten Spieltag gegen Mainz verspielte.

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Marco Reus Fussballsp­ieler Borussia Dortmund

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