Wo aber bleibt das Gute?
Die systematische Enthemmung von Hass und Gewalt, die sich heute an allen Ecken und Enden der Welt manifestiert, wirft erneut die Frage nach dem Bösen auf. Sie schien in Zeiten des Fortschritts obsolet geworden.
Nicht nur das laufende Kant-Jahr, sondern auch die gegenwärtige Weltlage gibt Anlass, wieder ausführlicher über das Böse nachzudenken. Konrad Lorenz sprach noch vom «sogenannten Bösen», womit er die produktive Rolle von Zerstörung, Schmerz und den Kampf ums Überleben in der natürlichen Evolution herausstreichen wollte. Die Übertragung dieses Modells auf menschliche Gesellschaften scheint allerdings höchst problematisch – dies zumindest wäre festzuhalten, zumal sich Lorenz eine Zeitlang der Eugenik der Nationalsozialisten verpflichtet fühlte.
Es ist ausserordentlich bedenklich, die «Höherentwicklung» der Arten, wie sie im natürlichen Ausleseprozess über sehr lange Zeitstrecken stattfindet, mit moralischen Begriffen zu unterlegen. Übertragen auf menschliche Gesellschaften, ergibt sich – das wurde schon oft bemerkt – ein Pandämonium. Dessen Moral lautet, dass das Gute im Recht des Stärkeren wurzelt, alles Schwache und Hilfsbedürftige zu unterdrücken, falls es nicht von selbst wieder verschwindet.
Goethe gegen Kant
Was aber tritt an die Stelle jenes «natürlichen» Rechts? Es ist der Gedanke der Solidarität, ethisch gefasst. Was heisst das? Kants kategorischer Imperativ hat dazu einige wichtige Anhaltspunkte geliefert. Gemäss ihm ist die Regel meines Handelns nur dann gut, wenn sie sich aus einem Prinzip herleitet, das für alle Menschen gleichermassen gilt.
Kants Ideen waren insofern lange Zeit vom Optimismus der Aufklärung durchdrungen, als er der menschlichen Natur zumutete, auf dem Wege des Gewissens zum Guten hin zu streben. Dem widersprach er in seiner Schrift «Über das radikal Böse in der menschlichen Natur», zuerst 1792 publiziert. Humanisten wie Goethe waren empört. Sie sahen in der Denkfigur des «radikal Bösen» eine Wiederbelebung der Lehre von der Erbsünde. Kant habe, so Goethe an Herder, seinen philosophischen Mantel «freventlich beschlabbert», damit auch Christenmenschen herbeigelockt würden, «den Saum zu küssen».
Goethe hat Kant gewiss Unrecht getan. Im 19. und 20. Jahrhundert zeigten die kriminologischen und psychopathologischen Forschungen immer deutlicher, dass nicht wenige Exemplare des Homo sapiens einen unwiderstehlichen Antrieb spüren, Böses zu tun – und dies in grossem Massstab, sobald die Politik ins Spiel kommt.
Der Begründer der Kriminologie, Cesare Lombroso, sprach vom geborenen Verbrecher, dem Homo delinquens, als einer «anthropologischen Varietät». Man muss nicht allen Aussagen Lombrosos umstandslos Glauben schenken, aber die Weltgeschichte ist bis heute voller Greueltaten, besonders in kriegerisch enthemmten Kontexten, die von einer geradezu teuflischen Lust zeugen, anderen Menschen das Schlimmste anzutun.
Die moderne Forschung des abweichenden Verhaltens spricht von der psychopathischen Persönlichkeit. Ihr mangelt es an der Bremswirkung des schlechten Gewissens, um das egozentrische Bestreben zu zügeln. Dieser Menschentypus strebt danach, mit Charme und Geschick die Umwelt zu täuschen. Der Psychopath ist oft hochintelligent. Er unterscheidet sich vom Typus des radikal bösen, quasi ethisch blinden Menschen; denn er ist sich im Allgemeinen dessen sehr wohl bewusst, was moralisch und rechtlich zu tun wäre. Er nützt aber sein Wissen hinsichtlich Gut und Böse, um sich in das Vertrauen seiner ethisch denkenden Mitmenschen einzuschleichen mit dem Ziel, sie besser ausbeuten zu können.
Radikal oder strategisch
Ein populärer Buchtitel wie «Snakes in Suits» – es geht um psychopathische Topmanager – mag reisserisch sein, die Sache selbst trifft er recht anschaulich. Allgemein haben wir es hier mit einer Form des Bösen zu tun, die sich – mögen in ihr auch Spuren des radikal Bösen eingelagert sein – als «strategisch böse» bezeichnen liesse. Das ist von allgemeinerer Bedeutung. Der fehlende Druck eines moralkonformen Über-Ichs ermöglicht es – exemplarisch gesprochen – dem psychopathischen Politiker, seinem Streben nach der Macht und ihren Pfründen unter Vortäuschung altruistischer, gemeinwohlnützlicher, national besorgter Ziele zu obliegen.
Was Potentaten und Kriegsherren antreibt, ist ein toxisches Gemisch aus Grössenwahn und Revanchismus, Machtwillen und Eroberungslust.
Das radikale und das strategisch Böse verkörpern zwei Arten der Unmoral, die ineinanderfliessen und dabei doch unterschiedlich wahrgenommen werden. Dort, wo das radikal Böse sich im Handeln einzelner Personen oder ganzer Personengruppen niederschlägt – in besonders grausamen Morden, Abschlachtungen von Zivilisten und Massenvergewaltigungen –, ist das Entsetzen der medial informierten Öffentlichkeit besonders zu spüren.
Dies bedeutet keineswegs, dass das strategisch Böse nicht ebenfalls zu unmenschlichen Entgleisungen führen kann, die indessen kalkuliert sind. So gibt es historische Berichte, wonach Schlachtenführer die gefangengenommenen Feinde grotesk verstümmeln liessen und zu ihren Leuten zurückschickten, um unter den Bewohnern der belagerten Stadt allen Widerstandswillen zu brechen. Und doch mag ein Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Bösen darin bestehen, dass man mit den strategisch böse Agierenden einen Frieden, und sei es auch einen schmerzhaften, aushandeln kann, während die radikal bösen Gewalten erst zum Stillstand kommen, wenn Blutrausch und sadistischer Antrieb gestillt sind.
Eine dritte Art des Bösen sollte nicht übersehen werden. Sie tritt in allen Terrorregimen auf, die sich, auf hohem bürokratischem Niveau agierend wie einst die Nationalsozialisten, mit Beamten umgeben, die aus Feigheit, aus Opportunismus oder aus ideologischer Überzeugung dasjenige an Aktenarbeit erledigen, was ihnen aufgetragen wird. In jenen Akten mag es darum gehen, dass «lebensunwertes Leben» grausamen, letztlich todbringenden Experimenten zugeführt oder dass Millionen Juden auf Zügen in die Todeslager transportiert werden. Die dabei zu entwickelnde Logistik erscheint am Schreibtisch, wo mit Zahlen und Kürzeln hantiert wird, regelrecht als das banale Handwerk von Spezialisten, die «nichts als ihre Arbeit tun».
Toxisches Gemisch
Die Wendung «Banalität des Bösen» stammt von Hannah Arendt, die in Israel den Prozess gegen Adolf Eichmann verfolgte. Eichmann organisierte im Sicherheitsdienst des Reichsführers SS vom Schreibtisch aus penibel die Ausführung des Holocaust. Was war daran «banal»? Das Bürokratische ohne Hinblick auf das abgrundtief Böse, das sich Tag für Tag aus scheinbar technischen Details ergab. Dass Eichmann, als überzeugter Nazi, an einer Persönlichkeitsstörung litt – er sprach während seiner Verteidigung in Klischees, wiederholte wieder und wieder dieselben Phrasen, die keine Emotionalität zuliessen –, ändert letztlich nichts an Arendts Befund: Es gibt Beamte des Bösen, die in ihrer Aufgabe ausschliesslich das sehen, was zu tun ist, sine ira et studio.
Man muss diese Arten des Bösen zusammendenken, um zu begreifen, warum es so schwierig, ja nahezu unmöglich scheint, mit Diktatoren das moralisch gerade noch Akzeptable auszuhandeln. Solche Machtträger mögen ein gewisses Mass an Furcht, aber noch mehr den Drang verspüren, eine Tyrannei mit willfährigen Mitläufern in Schwung zu halten. Was Potentaten und Kriegsherren heute wie gestern antreibt, ist ein toxisches Gemisch aus Grössenwahn und Revanchismus, Machtwille und Eroberungslust.
Angesichts eines zunehmenden Versagens aller ethischen Prinzipien und Begründungsfiguren – man denke an die Appelle friedensbewegter Kreise, die gegenüber dem Ausmass an entfesselten, nicht selten genozidalen Gewalten kopf- und hilflos anmuten – gewinnen psychopathologische Überlegungen an Interesse. Was geht vor in den Köpfen und Herzen der Diktatoren und ihrer Einflüsterer, von den militärischen Handlangern bis hin zu den Klerikern, welche nicht nur die Macht stützen, sondern auch Waffengänge als gottgefällig gutheissen? Doch Psychogramme zu erstellen, um sie strategisch nützen zu können, scheint letztlich zwecklos.
Kriege und Konflikte prägen das Bild der heutigen Welt, statt Völkerverständigung herrscht Völkerfeindschaft. Fast alle Diskussionen zur diplomatischen Problemlösung in der Uno führen in eine Sackgasse. Wie soll menschenrechtlichen Normen Geltung verschafft werden, wenn China den UnoMenschenrechtsrat ins Leere laufen lässt, Iran den Vorsitz bei der Uno-Abrüstungskonferenz innehat und Saudiarabien jenen der Kommission zur Frauenförderung besetzt? Wo es den Beteiligten immer öfter nur noch um zynische Macht- und Interessenpolitik geht, während das Gemeinwohl der Menschheit zunehmend aus dem Blick gerät, erscheint die Weltfriedensorganisation in New York immer weniger als ein Ort, an dem ernsthaft über das Gute verhandelt werden könnte.
Wenn aber Europa und die USA sowie jene Länder, welche die «Kontur des Westens» (Habermas) mitformen, die Freiheit ihrer demokratischen Gesellschaftssysteme und die humanen Errungenschaften der Aufklärung aufrichtig in die Zukunft retten wollen, dann dürfen sie vor den Gewalten des Bösen, wie und wo immer sich diese manifestieren, nicht zurückweichen. Freilich, ob das Bessere schliesslich, nicht zuletzt dank neuer innerer Geschlossenheit und wiedererlangter militärischer Stärke, obsiegen wird, ist eine Frage, auf die es zurzeit keine Antwort gibt. So bleibt wenig genug: das Prinzip Hoffnung.