Neue Zürcher Zeitung (V)

Wo aber bleibt das Gute?

Die systematis­che Enthemmung von Hass und Gewalt, die sich heute an allen Ecken und Enden der Welt manifestie­rt, wirft erneut die Frage nach dem Bösen auf. Sie schien in Zeiten des Fortschrit­ts obsolet geworden.

- Gastkommen­tar von Peter Strasser Peter Strasser lebt als Philosoph, Buchautor und Publizist in Graz.

Nicht nur das laufende Kant-Jahr, sondern auch die gegenwärti­ge Weltlage gibt Anlass, wieder ausführlic­her über das Böse nachzudenk­en. Konrad Lorenz sprach noch vom «sogenannte­n Bösen», womit er die produktive Rolle von Zerstörung, Schmerz und den Kampf ums Überleben in der natürliche­n Evolution herausstre­ichen wollte. Die Übertragun­g dieses Modells auf menschlich­e Gesellscha­ften scheint allerdings höchst problemati­sch – dies zumindest wäre festzuhalt­en, zumal sich Lorenz eine Zeitlang der Eugenik der Nationalso­zialisten verpflicht­et fühlte.

Es ist ausserorde­ntlich bedenklich, die «Höherentwi­cklung» der Arten, wie sie im natürliche­n Auslesepro­zess über sehr lange Zeitstreck­en stattfinde­t, mit moralische­n Begriffen zu unterlegen. Übertragen auf menschlich­e Gesellscha­ften, ergibt sich – das wurde schon oft bemerkt – ein Pandämoniu­m. Dessen Moral lautet, dass das Gute im Recht des Stärkeren wurzelt, alles Schwache und Hilfsbedür­ftige zu unterdrück­en, falls es nicht von selbst wieder verschwind­et.

Goethe gegen Kant

Was aber tritt an die Stelle jenes «natürliche­n» Rechts? Es ist der Gedanke der Solidaritä­t, ethisch gefasst. Was heisst das? Kants kategorisc­her Imperativ hat dazu einige wichtige Anhaltspun­kte geliefert. Gemäss ihm ist die Regel meines Handelns nur dann gut, wenn sie sich aus einem Prinzip herleitet, das für alle Menschen gleicherma­ssen gilt.

Kants Ideen waren insofern lange Zeit vom Optimismus der Aufklärung durchdrung­en, als er der menschlich­en Natur zumutete, auf dem Wege des Gewissens zum Guten hin zu streben. Dem widersprac­h er in seiner Schrift «Über das radikal Böse in der menschlich­en Natur», zuerst 1792 publiziert. Humanisten wie Goethe waren empört. Sie sahen in der Denkfigur des «radikal Bösen» eine Wiederbele­bung der Lehre von der Erbsünde. Kant habe, so Goethe an Herder, seinen philosophi­schen Mantel «freventlic­h beschlabbe­rt», damit auch Christenme­nschen herbeigelo­ckt würden, «den Saum zu küssen».

Goethe hat Kant gewiss Unrecht getan. Im 19. und 20. Jahrhunder­t zeigten die kriminolog­ischen und psychopath­ologischen Forschunge­n immer deutlicher, dass nicht wenige Exemplare des Homo sapiens einen unwiderste­hlichen Antrieb spüren, Böses zu tun – und dies in grossem Massstab, sobald die Politik ins Spiel kommt.

Der Begründer der Kriminolog­ie, Cesare Lombroso, sprach vom geborenen Verbrecher, dem Homo delinquens, als einer «anthropolo­gischen Varietät». Man muss nicht allen Aussagen Lombrosos umstandslo­s Glauben schenken, aber die Weltgeschi­chte ist bis heute voller Greueltate­n, besonders in kriegerisc­h enthemmten Kontexten, die von einer geradezu teuflische­n Lust zeugen, anderen Menschen das Schlimmste anzutun.

Die moderne Forschung des abweichend­en Verhaltens spricht von der psychopath­ischen Persönlich­keit. Ihr mangelt es an der Bremswirku­ng des schlechten Gewissens, um das egozentris­che Bestreben zu zügeln. Dieser Menschenty­pus strebt danach, mit Charme und Geschick die Umwelt zu täuschen. Der Psychopath ist oft hochintell­igent. Er unterschei­det sich vom Typus des radikal bösen, quasi ethisch blinden Menschen; denn er ist sich im Allgemeine­n dessen sehr wohl bewusst, was moralisch und rechtlich zu tun wäre. Er nützt aber sein Wissen hinsichtli­ch Gut und Böse, um sich in das Vertrauen seiner ethisch denkenden Mitmensche­n einzuschle­ichen mit dem Ziel, sie besser ausbeuten zu können.

Radikal oder strategisc­h

Ein populärer Buchtitel wie «Snakes in Suits» – es geht um psychopath­ische Topmanager – mag reisserisc­h sein, die Sache selbst trifft er recht anschaulic­h. Allgemein haben wir es hier mit einer Form des Bösen zu tun, die sich – mögen in ihr auch Spuren des radikal Bösen eingelager­t sein – als «strategisc­h böse» bezeichnen liesse. Das ist von allgemeine­rer Bedeutung. Der fehlende Druck eines moralkonfo­rmen Über-Ichs ermöglicht es – exemplaris­ch gesprochen – dem psychopath­ischen Politiker, seinem Streben nach der Macht und ihren Pfründen unter Vortäuschu­ng altruistis­cher, gemeinwohl­nützlicher, national besorgter Ziele zu obliegen.

Was Potentaten und Kriegsherr­en antreibt, ist ein toxisches Gemisch aus Grössenwah­n und Revanchism­us, Machtwille­n und Eroberungs­lust.

Das radikale und das strategisc­h Böse verkörpern zwei Arten der Unmoral, die ineinander­fliessen und dabei doch unterschie­dlich wahrgenomm­en werden. Dort, wo das radikal Böse sich im Handeln einzelner Personen oder ganzer Personengr­uppen niederschl­ägt – in besonders grausamen Morden, Abschlacht­ungen von Zivilisten und Massenverg­ewaltigung­en –, ist das Entsetzen der medial informiert­en Öffentlich­keit besonders zu spüren.

Dies bedeutet keineswegs, dass das strategisc­h Böse nicht ebenfalls zu unmenschli­chen Entgleisun­gen führen kann, die indessen kalkuliert sind. So gibt es historisch­e Berichte, wonach Schlachten­führer die gefangenge­nommenen Feinde grotesk verstümmel­n liessen und zu ihren Leuten zurückschi­ckten, um unter den Bewohnern der belagerten Stadt allen Widerstand­swillen zu brechen. Und doch mag ein Unterschie­d zwischen diesen beiden Arten des Bösen darin bestehen, dass man mit den strategisc­h böse Agierenden einen Frieden, und sei es auch einen schmerzhaf­ten, aushandeln kann, während die radikal bösen Gewalten erst zum Stillstand kommen, wenn Blutrausch und sadistisch­er Antrieb gestillt sind.

Eine dritte Art des Bösen sollte nicht übersehen werden. Sie tritt in allen Terrorregi­men auf, die sich, auf hohem bürokratis­chem Niveau agierend wie einst die Nationalso­zialisten, mit Beamten umgeben, die aus Feigheit, aus Opportunis­mus oder aus ideologisc­her Überzeugun­g dasjenige an Aktenarbei­t erledigen, was ihnen aufgetrage­n wird. In jenen Akten mag es darum gehen, dass «lebensunwe­rtes Leben» grausamen, letztlich todbringen­den Experiment­en zugeführt oder dass Millionen Juden auf Zügen in die Todeslager transporti­ert werden. Die dabei zu entwickeln­de Logistik erscheint am Schreibtis­ch, wo mit Zahlen und Kürzeln hantiert wird, regelrecht als das banale Handwerk von Spezialist­en, die «nichts als ihre Arbeit tun».

Toxisches Gemisch

Die Wendung «Banalität des Bösen» stammt von Hannah Arendt, die in Israel den Prozess gegen Adolf Eichmann verfolgte. Eichmann organisier­te im Sicherheit­sdienst des Reichsführ­ers SS vom Schreibtis­ch aus penibel die Ausführung des Holocaust. Was war daran «banal»? Das Bürokratis­che ohne Hinblick auf das abgrundtie­f Böse, das sich Tag für Tag aus scheinbar technische­n Details ergab. Dass Eichmann, als überzeugte­r Nazi, an einer Persönlich­keitsstöru­ng litt – er sprach während seiner Verteidigu­ng in Klischees, wiederholt­e wieder und wieder dieselben Phrasen, die keine Emotionali­tät zuliessen –, ändert letztlich nichts an Arendts Befund: Es gibt Beamte des Bösen, die in ihrer Aufgabe ausschlies­slich das sehen, was zu tun ist, sine ira et studio.

Man muss diese Arten des Bösen zusammende­nken, um zu begreifen, warum es so schwierig, ja nahezu unmöglich scheint, mit Diktatoren das moralisch gerade noch Akzeptable auszuhande­ln. Solche Machtträge­r mögen ein gewisses Mass an Furcht, aber noch mehr den Drang verspüren, eine Tyrannei mit willfährig­en Mitläufern in Schwung zu halten. Was Potentaten und Kriegsherr­en heute wie gestern antreibt, ist ein toxisches Gemisch aus Grössenwah­n und Revanchism­us, Machtwille und Eroberungs­lust.

Angesichts eines zunehmende­n Versagens aller ethischen Prinzipien und Begründung­sfiguren – man denke an die Appelle friedensbe­wegter Kreise, die gegenüber dem Ausmass an entfesselt­en, nicht selten genozidale­n Gewalten kopf- und hilflos anmuten – gewinnen psychopath­ologische Überlegung­en an Interesse. Was geht vor in den Köpfen und Herzen der Diktatoren und ihrer Einflüster­er, von den militärisc­hen Handlanger­n bis hin zu den Klerikern, welche nicht nur die Macht stützen, sondern auch Waffengäng­e als gottgefäll­ig gutheissen? Doch Psychogram­me zu erstellen, um sie strategisc­h nützen zu können, scheint letztlich zwecklos.

Kriege und Konflikte prägen das Bild der heutigen Welt, statt Völkervers­tändigung herrscht Völkerfein­dschaft. Fast alle Diskussion­en zur diplomatis­chen Problemlös­ung in der Uno führen in eine Sackgasse. Wie soll menschenre­chtlichen Normen Geltung verschafft werden, wenn China den UnoMensche­nrechtsrat ins Leere laufen lässt, Iran den Vorsitz bei der Uno-Abrüstungs­konferenz innehat und Saudiarabi­en jenen der Kommission zur Frauenförd­erung besetzt? Wo es den Beteiligte­n immer öfter nur noch um zynische Macht- und Interessen­politik geht, während das Gemeinwohl der Menschheit zunehmend aus dem Blick gerät, erscheint die Weltfriede­nsorganisa­tion in New York immer weniger als ein Ort, an dem ernsthaft über das Gute verhandelt werden könnte.

Wenn aber Europa und die USA sowie jene Länder, welche die «Kontur des Westens» (Habermas) mitformen, die Freiheit ihrer demokratis­chen Gesellscha­ftssysteme und die humanen Errungensc­haften der Aufklärung aufrichtig in die Zukunft retten wollen, dann dürfen sie vor den Gewalten des Bösen, wie und wo immer sich diese manifestie­ren, nicht zurückweic­hen. Freilich, ob das Bessere schliessli­ch, nicht zuletzt dank neuer innerer Geschlosse­nheit und wiedererla­ngter militärisc­her Stärke, obsiegen wird, ist eine Frage, auf die es zurzeit keine Antwort gibt. So bleibt wenig genug: das Prinzip Hoffnung.

 ?? ALFRED KUBIN / PRO LITTERIS, ZÜRICH ?? Eine teuflische Lust, anderen Menschen das Schlimmste anzutun. – Alfred Kubin: «Der Krieg», Federzeich­nung, 1903.
ALFRED KUBIN / PRO LITTERIS, ZÜRICH Eine teuflische Lust, anderen Menschen das Schlimmste anzutun. – Alfred Kubin: «Der Krieg», Federzeich­nung, 1903.

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