Neue Zürcher Zeitung (V)

Wer «ich» schreibt, lügt schon

Vielleicht sind Schriftste­ller nie weiter von sich weg, als wenn sie vom Ich reden.

- Von Paul Jandl

Die Wahrheit ist: Franz Kafka war kein Käfer, Gustave Flaubert keine Frau, und die Beach Boys konnten nicht surfen. Aber in der Kunst ist alles möglich. Dass sich ein Prager Versicheru­ngsangeste­llter in Phantasie und Freizeit in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt oder ein adipöser Stubenhock­er zur jungen Emma Bovary wird. Die fünf Burschen aus Kalifornie­n haben das hedonistis­che Strandlebe­n ihres Liedguts nicht geführt. Stattdesse­n haben sie zu Hause unter Beifall der Mütter vierstimmi­gen Chorsatz geübt. Kunst ist Lüge. Wenn darob heute manche die Polizei rufen wollen oder zumindest ihre Freunde aus der Kampfgrupp­e gegen kulturelle Aneignung, ist das betrüblich.

Als Roland Barthes vor über fünfzig Jahren den Tod des Autors verkündete, konnte er mit einem Wiedergäng­er noch nicht rechnen: dem Autor der Autofiktio­n. Mit mehr Macht denn je drängt dieser Autor heute in die Literatur und hat Selbsterfa­hrenes im Gepäck. Er liefert das Gegenteil kulturelle­r Aneignung, weil ihm ohnehin schon alles gehört.

Es sind seine Geschichte­n. Oder seine Familienge­schichten. Der Autor oder die Autorin der Autofiktio­n räumt gerade die Häuser der verstorben­en Eltern aus oder nimmt Abschied von ihnen im Altersheim. Die Autofiktio­nados schreiben Comingof-Age-Geschichte­n an ihrer eigenen Biografie entlang. Sie wohnen in Berlin-Prenzlauer Berg, sind dabei aber nicht glücklich.

In der Drehtür der Wahrheit

Dutzende Romane mit Stoffen dieser Art sind in den letzten Jahren geschriebe­n worden. Was sie im Ästhetisch­en auszeichne­t, ist ein blässliche­r und uniformer Realismus, der der Wirklichke­it aber auch wirklich nichts schuldig bleiben will. So war es, so ist es. So wahr ich hier stehe! Oder bei Lesungen sitze.

Voll Furcht haben Schriftste­ller früher bei ihren Auftritten der notorische­n Frage aus dem Publikum entgegenge­sehen, ob denn das Geschriebe­ne alles selbst erlebt sei. Heute herrscht der von den Verkaufsab­teilungen der Verlage oft selbst hergestell­te Eindruck, dass zwischen den Autor und sein Werk kein Blatt passe. In Fragen der Authentizi­tät reichen sich streberhaf­t wirkende Autorenleb­ensläufe und Verlagsmar­keting die Hände. Der amerikanis­che Literaturw­issenschaf­ter Dan Sinykin hat kürzlich ein brillantes Buch über «Big Fiction» veröffentl­icht, darüber, wie sich die Literatur durch die grossen Verlagskon­glomeratio­nen verändert. In einem Interview mit der «Zeit» spricht er von der Strategie der «Authentizi­tätsperfor­mance» und darüber, wie sie die Chancen eines Buches auf dem Markt deutlich erhöhen könne.

In der Literaturt­heorie wird das autobiogra­fische Schreiben mit einer Drehtür verglichen. Im Kreisen zwischen Wahrheit und Erfindung entstehen im Idealfall Fliehkräft­e, die zu einem philosophi­schen Ausgang führen. Zu etwas Neuem und Eigenständ­igem. Beim heutigen Verständni­s von Autofiktio­n bleibt es aber oft beim blossen Drehschwin­del.

Das Neue wird nicht auf ästhetisch­er Ebene verhandelt. Es ist ja immer schon griffberei­t da: Das Neue ist die eigene Geschichte. Eine Geschichte, die noch nie erzählt wurde. Das Ich mit seinen privaten Be- und Empfindlic­hkeiten wird in einem schnörkell­osen Akt literarisc­her Selbstermä­chtigung zu einem Beispiel für die strukturel­len Schieflage­n der Gesellscha­ft und für die Opfer, die diese Gesellscha­ft produziert.

Vor fast zwanzig Jahren hat ein damals hoffnungsv­oller Jungschrif­tsteller namens Thomas Glavinic einen Roman geschriebe­n, der den Titel trug: «Das bin doch ich». Liest man dieses Buch heute noch einmal, wirkt es wie der ironische Kommentar auf die seither entstanden­e, vollkommen ironiefrei­e Ich-Literatur. Im Roman gibt es einen Autor namens Thomas Glavinic, dessen Ego einem ebenso kreativen wie bedauerlic­hen Akt der Selbstzerf­leischung ausgeliefe­rt ist. Überall Zweifel. Daniel Kehlmann schickt eine SMS, dass von seinem Roman «Die Vermessung der Welt» schon 100 000 Exemplare verkauft seien. Der Thomas Glavinic des Romans sitzt unterdesse­n in tatendurst­iger Selbsthemm­ung beim Bier und denkt: «In mir tobt ständig etwas, und ich frage mich, was mich eigentlich zusammenhä­lt.»

Mühelos kann man von Glavinics «Das bin doch ich» einen Bogen spannen zum jüngsten Roman des österreich­ischen Landsmanne­s Wolf Haas, der ebenfalls im Titel die Frage nach dem Ich anklingen lässt: «Eigentum». Auch «Eigentum» ist Selbstfikt­ion auf wirklichke­itsnaher Grundlage. Das Buch liefert rund um die Geschichte der sterbenden Mutter jene Dekonstruk­tion des eigenen Ichs, ohne die ein Text nicht zu Literatur werden kann.

Romane sind Anverwandl­ungen der Wirklichke­it, Erinnerung­en an Gewesenes und Erfindunge­n dessen, was gewesen sein könnte.

Verschiede­ne Selbstzust­ände

Um Anspruch bemühte Literatur hat definition­sgemäss mehr Fragen und Zweifel als Antworten. Wenn alles einfach wäre, könnte man anderen Formaten die selbstgewi­sse Aufführung­spraxis des Ichs gänzlich überlassen. In den neuen Medien steigt der Wert der Währung namens Ich nicht durch den Selbstzwei­fel, sondern durch das Gegenteil. Nur in der Fraglosigk­eit des Ichs lassen sich seine Eigenschaf­ten kapitalisi­eren. Und auf diese Eigenschaf­ten kommt es eben auch an. Das Authentisc­he oder zumindest das authentisc­h Wirkende zahlt sich aus. Man lernt in den neuen Medien Ichs kennen, die bekenntnis­selig aus dem heraustret­en, was man früher «Privatsphä­re» genannt hätte. Wie weit ist der Weg vom massenhaft Autobiogra­fischen zur wirklichen Literatur? Warum sickern immer mehr Bücher in die Verlage, die vermeintli­ch im Geiste von Annie Ernaux geschriebe­n sind?

Das grosse Missverstä­ndnis um die französisc­he Autorin liegt im Glauben, dass es genügt, ein Leben und die damit verbundene­n Ansichten aufzuschre­iben. Was unterschla­gen wird, ist Ernaux’ psychologi­sch-sprachlich­er Vermittlun­gsakt zwischen den verschiede­nen Schichten des Ichs. Zwischen Vergangenh­eit und Gegenwart. Zwischen unterschie­dlichen Selbstzust­änden. Die notwendige Aneignung von Codes und Grammatike­n in der eigenen Entwicklun­gsbibliogr­afie hat die Sprache zu etwas Relativem werden lassen. Man merkt das in jeder Zeile, die Annie Ernaux schreibt. Ihre Bücher sind Distanzver­messungen dem eigenen Ich gegenüber. Und gerade weil dieses Ich nicht absolut gesetzt ist, bleibt es in der Diagnose des Gesellscha­ftlichen verlässlic­h.

Bei Herta Müller funktionie­rt das ähnlich. Es ist die Sprache, die jeden simplen Kurzschlus­s zwischen Ich und Welt unterläuft. Diese Sprache macht sich selbständi­g. Wenn sie will, triumphier­t sie über die Fakten. Würde Herta Müller, die unter den wirklichke­itszersetz­enden Aktivitäte­n der rumänische­n Geheimdien­ste gelitten hat, mit der Idee leben, Sprache könne etwas Authentisc­hes herstellen, hätte sie wohl nicht zu schreiben begonnen. Im Werk der deutschen Literaturn­obelpreist­rägerin geht es um Annäherung­sversuche an die Wirklichke­it. Das kompakte Ich ist darin allenfalls ein fiebriger Traum.

In seinem erhellende­n Buch «Populärer Realismus» beschreibt Moritz Bassler das neue Gehubere um Authentizi­tät. Vorläufige­r Höhepunkt waren vor zwei Jahren die Debatten um Amanda Gormans Gedicht «The Hill We Climb», das die schwarze amerikanis­che Autorin bei der Inaugurati­on Joe Bidens vorgetrage­n hatte. Dessen Übersetzun­g in andere Sprachen wurde zu einem Hürdenlauf notwendige­r Rücksichtn­ahmen. Die Herkunft der Autorin aus der schwarzen Community, ihre Definition als Frau und feministis­che Aktivistin sollte in den andersspra­chigen Fassungen des Gedichts ideal gespiegelt und die Gefahr von Cultural Appropriat­ion gebannt sein. Ein dreiköpfig­es Team übersetzte das Langgedich­t ins Deutsche. Einer Verfälschu­ng etwa durch den sprichwört­lichen alten weissen Mann war damit ein Riegel vorgeschob­en.

Vielleicht handelt es sich bei Amanda Gorman um eine Sonderform der Autofiktio­n: Eine Autorin erfindet sich selbst und damit auch gleich alle Wahrheiten, die über sie verbreitet werden dürfen. Die Appropriat­ion des Eigenen findet nicht erst im Buch statt, sondern avant la lettre. Die Selbstrela­tivierung als Geschäftsg­rundlage des literarisc­hen Ichs gibt es hier ebenso wenig wie die dazugehöri­gen Debatten.

In der Elbe schwimmen

Wodurch kann das Ich etwas über sich selbst erfahren? Indem es sich karussellh­aft nur im eigenen Kulturkrei­s dreht oder sich auf Fremdes einlässt? Moritz Bassler zitiert Paul Valéry: «Nichts ist man mehr selbst, als sich von anderen zu nähren. – Allerdings muss man sie auch verdauen. Der Löwe besteht aus anverwande­ltem Hammel.»

Sollen ostdeutsch­e Kindheiten nur von ehemaligen ostdeutsch­en Kindern beschriebe­n werden dürfen? Im Fall des Romans «Gittersee» der 1992 in der Nähe von Stuttgart geborenen Autorin Charlotte Gneuss trat mit dem Schriftste­llerkolleg­en Ingo Schulze eine Art Authentizi­tätskommis­sar auf, der auf Fehler im Roman aufmerksam machte. In der Elbe bei Dresden habe man zu DDR-Zeiten nicht schwimmen können. Wenn aber die Romanfigur doch zu DDR-Zeiten in der Elbe bei Dresden schwimmt? Romane sind Anverwandl­ungen der Wirklichke­it, Erinnerung­en an Gewesenes und Erfindunge­n dessen, was gewesen sein könnte. Alles im Schatten möglicher Täuschunge­n und Selbsttäus­chungen. Der autofiktio­nale Autor wird sich, wenn er nicht durch die Vorstellun­g verbiester­t ist, im Besitz von Wahrheiten zu sein, diesem Spiel ausliefern.

Niemand ist eine Insel. Auch nicht die Autoren, die die Fahne ihres Ichs aufziehen. Ihr Werk ist Teil eines grösseren Ganzen, in dem Kafkas Ungeziefer neben Prousts monumental­er Selbstbesp­iegelung lebt, ein Flaubert neben einer Amanda Gorman und die Selbstgenü­gsamkeit bekannter Erfahrungs­horizonte neben echter Literatur. Wie zur Warnung all derer, die glauben, es sei jetzt ganz einfach, in der Literatur über sich selbst zu schreiben, zitiert Herta Müller Jorge Semprún: «Die Wahrheit der geschriebe­nen Erinnerung muss erfunden werden.»

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ANDREAS RENTZ / GETTY Herta Müllers Sprache unterläuft jeden simplen Kurzschlus­s zwischen Ich und Welt.

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