Neue Zürcher Zeitung (V)

Chronistin eines Untergangs

Gabriele Tergit schrieb vor hundert Jahren über Berlin, gegen Hitler – und auch gegen den Zionismus.

- Von Nadine A. Brügger

«Nun kennen wir also auch diese miese Jüdin», schreibt der Reichsprop­agandaleit­er Joseph Goebbels 1931 in der NSDAP-Parteizeit­ung «Der Angriff». In jenem Jahr hat das «Berliner Tagblatt» seine Leserschaf­t nach deren liebsten Personen aus Kunst und Kultur gefragt. Die Schriftste­ller Erich Maria Remarque und Jakob Wassermann haben es in die Beilage geschafft. Ebenso eine «moderne Frau, die mit Anmut und Witz» Gerichtsbe­richte und Feuilleton­s verfasse: die Journalist­in Gabriele Tergit.

Viele Jahre später erinnert sich Tergit in einem Interview an den Augenblick, in dem sie Goebbels Zeilen im «Angriff» hat stehen sehen: «Das ist mir so gleichgült­ig gewesen wie nur irgendetwa­s.» Schliessli­ch habe man das ja nicht als Todesurtei­l auffassen können, damals. Doch das Blatt sollte sich bald wenden.

Sieben fette Jahre

Tergit hat Tagebücher gefüllt, Briefe in alle Welt verschickt und ihre Erinnerung­en immer wieder festgehalt­en. Eine Biografie aber hat daraus erst die Literaturk­ritikerin Nicole Henneberg gemacht. «Gabriele Tergit – zur Freundscha­ft begabt» lautet der etwas verfehlte Titel, hinter dem sich allerdings das Leben einer fasziniere­nden Frau verbirgt. Ein Leben, in dem eine ganze, verlorene Welt steckt: das Berlin der zwanziger Jahre. Tergit schrieb dazu einst, es «war ein kulturelle­r Höhepunkt, ein lichter Augenblick der Weltgeschi­chte».

Tergit, 1894 in Berlin als Elise Hirschmann geboren, ist die Tochter des Direktors der deutschen Kabelwerke, eines der reichsten Männer Berlins. Für sie ziemt sich weder die Promotion in Geschichte noch die Arbeit als Journalist­in. Doch Lieschen, wie die Familie sie ein Leben lang nennt, legt sich ein Pseudonym zu und macht Karriere. Allerdings mit gewissen Zugeständn­issen: «Ich zog mich sehr bescheiden an, schliessli­ch hatte ich ja meinen Kopf auf und mein Benehmen.»

Tergit ist eine der ersten Frauen, fast überall, wo sie hinkommt. An den Universitä­ten München und Berlin, wo sie 1923 promoviert, ebenso wie auf der Redaktion des liberalen «Berliner Tagblatts», wo sie ab 1924 mit den beiden Kollegen Walther Kiaulehn und Rudolf Olden auch eine Freundscha­ft pflegt.

Anstelle eines guten Morgens wünschen sich die drei: «Heil und Sieg und fette Beute!» Am Mittag sitzen sie als Kern eines gut besuchten Stammtisch­s im Restaurant Capri. Auch Journalist­en anderer Häuser, Künstler und hie und da ein Politiker stossen dazu.

Es wird zu Chianti und Grappa diskutiert. Über die tödlichen Folgen von Paragraf 218, der Abtreibung­en in der Weimarer Republik verbietet und gegen den Tergit regelmässi­g anschreibt. Oder über die Zukunft der Deutschen Demokratis­chen Partei (DDP), einer linksliber­alen Partei, deren Gründungsa­ufruf Theodor Wolff, der Chefredakt­or des «Berliner Tagblatts», mit Unterschri­ft von bekannten Persönlich­keiten wie Albert Einstein in seiner Zeitung gedruckt hat.

Auch Buchideen werden im «Capri» entwickelt, zum Beispiel jene für Tergits ersten Roman, «Käsebier erobert den Kurfürsten­damm». Eine Persiflage auf das Berliner Zeitungswe­sen, so nah an der Realität, dass man heute von Autofiktio­n sprechen würde und sich der Ullstein-Verlag damals nicht getraute, das Buch zu drucken. Rowohlt übernahm das schliessli­ch im Jahr 1931 und erzielte gute Gewinne.

Die «zeitungshu­ngrigste aller Städte» nannte der Schriftste­ller Peter de Mendelssoh­n Berlin einst. Was für ihre Heimatstad­t galt, galt auch für Tergit. Daran änderte weder ihre Hochzeit mit dem Architekte­n Heinz Reifenberg 1928 noch die Geburt ihres Sohnes etwas. Was vor dem Ersten Weltkrieg für Frauen kaum denkbar gewesen war, machten die zwanziger Jahre zumindest in Berlin möglich. Später spricht Tergit von den «sieben fetten Jahren». Trotz Inflation und aufkeimend­em Antisemiti­smus, vor dem sie die Augen nicht verschlies­sen konnte.

Tergit ist von Anfang an eine grosse Kritikerin von Hitler und der NSDAP. Bei Prozessen beobachtet sie die Exponenten von Nazischläg­ertrupps auf der Anklageban­k. Sie beobachtet auch, wie die Richter immer öfter Hakenkreuz­fahnen vor ihren Tischen befestigen. Einschücht­ern lässt sie sich davon nicht.

«Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit», titelt sie, als Hitler wegen eines Presseverg­ehens angeklagt wird und Einzug in das Gerichtsge­bäude hält, als schreite er zur Militärpar­ade. Später schreibt sie: «Wenn ich einen Revolver besessen hätte, und ich hätte ihn erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühzeitig­en Tod gerettet. Aber wer hätte das gewusst?»

Ein Leben, in dem eine ganze, verlorene Welt steckt: das Berlin der zwanziger Jahre.

«Die Schweiz ist völlig verjudet»

Vor allem aber ist Tergit Chronistin des Untergangs einer bürgerlich­en und intellektu­ellen Hochkultur, jenes der deutschen Juden in Berlin. Ihre eigene Biografie zeugt ebenso davon wie ihr grosses Familienep­os «Effingers», das von 1878 bis 1948 von der Kaiserzeit über die Weimarer Republik bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs siebzig Jahre deutsche Geschichte nacherzähl­t.

Dass die Effingers, Oppners und Goldschmid­ts eine grosse jüdische Familie sind, spielt anfangs kaum eine Rolle. In erster Linie sind sie eine deutsche Familie. Man macht 1848 Revolution und kämpft im Ersten Weltkrieg. Man investiert in die deutsche Wirtschaft, leidet erst unter der Inflation und später unter der Wirtschaft­skrise, politisier­t und verkehrt in der Gesellscha­ft. Nur langsam verschiebe­n sich die Vorzeichen – im Roman ebenso wie in Tergits echtem Leben.

Bei den Effingers klingt das so: «Ausgeschlo­ssen», sagte Theodor. «Ich habe Brender gesprochen; er hält es für gänzlich ausgeschlo­ssen, dass die Regierung gegen alle Juden vorgeht. Man will sie nur nicht mehr in der Politik haben.»

In Tergits Leben so: Nach einer Operation begleitet sie die Eltern in die Skiferien nach Österreich. «Die Dame neben mir sagte: ‹Schönes Hotel, nicht wahr?› ‹Ja›, sagte ich, ‹sehr schönes Hotel. Ich wollte eigentlich in die Schweiz.› ‹Das können Sie nicht, die Schweiz ist völlig verjudet.›»

Im Jahr 1931 schreibt Tergits jüdischer Kollege Olden im «Berliner Tageblatt»: «Das deutsche Bürgertum sieht sich vor eine historisch entscheide­nde Frage gestellt: Will es die Partei, in der Meuchelmör­der eine so beträchtli­che und abscheulic­he Rolle spielen, weiter halten und unterstütz­en? Will es statt des Gesetzes Blut in den Strassen?»

Eine Antwort darauf liefert Tergit am Ende ihres «Käsebier»-Romans. Dort steht: «Heil und Sieg! Fette Beute gibt’s nicht mehr!» Im Jahr 1932 wird dieser Roman als Buch des Jahres ausgezeich­net. Im gleichen Jahr kommt es zum Preussensc­hlag, bei dem durch eine Notverordn­ung die geschäftsf­ührende und legale Regierung des Freistaats Preussen abgesetzt wird, was Hitlers Weg an die Macht erheblich vereinfach­t.

Am 30. Januar 1933 erfährt Tergit bei einem Wohnungsei­nweihungsf­est, dass man sie per 1. April «mit einem grossen Gehalt» bei Ullstein unter Vertrag nehmen will. Sie jubiliert. Um Mitternach­t aber klingelt in der neuen Wohnung das Telefon: «Hitler ist Reichskanz­ler geworden.» Zwei Monate später brennt der Reichstag.

Von der Gleichzeit­igkeit

Tergit hat die erhoffte Zukunft zum Greifen nah – am gleichen Abend gerät sie für immer ausser Reichweite. Scheinbar Unvereinba­res läuft plötzlich parallel. Als «Käsebier» erscheint, nennt Hanns Johst, ein Freund von Hitler, Tergit «ein tapferes preussisch­es Herz», sie ist verwundert, weil «er bestimmt wusste, ich war eine Jüdin». Tergit war sich der Gefahr, in der sie sich befand, bewusst. Dennoch sagte sie zu einer Freundin: «Selbstvers­tändlich bleibe ich in Berlin. Man will doch der Historie zusehen.»

Das Aufzeigen dieser teilweise grotesken Gleichzeit­igkeit macht die Grauzone der späten zwanziger und frühen dreissiger Jahre erschrecke­nd fassbar. Viele erwarteten eine Entschärfu­ng der Lage, andere versuchten den Antisemiti­smus zu ignorieren, und viel zu wenige verloren innert nützlicher Frist die Hoffnung und ergriffen die Flucht.

Für den 5. März 1933 hat Reichspräs­ident Paul von Hindenburg Wahlen angesetzt, um der NSDAP zu einer Mehrheit im Reichstag zu verhelfen. In der Nacht davor entscheide­t Tergit sich zur Flucht. «In der Nacht um drei ungefähr klingelte es Sturm an unserer Wohnungstü­r», erzählt sie später in einem Interview. Vor der Tür steht der Sturm 33, ein Nazischläg­ertrupp, der sich gewaltsam Einlass zu verschaffe­n versucht. Doch erst mal ist Tergits Mann stärker. Die Tür bleibt zu.

«Ich hatte einen Kollegen, in irgendeine­r Nazizeitun­g hat er geschriebe­n. Ich habe ihn in der Nacht angeklinge­lt: ‹Hören Sie, bei mir ist der Sturm 33 vor der Tür, was soll ich machen?› Sagt er: ‹Rufen Sie sofort Herrn Mittelbach an, gerade gestern oder vorgestern ist er Leiter der Abteilung 1A im Berliner Polizeiprä­sidium geworden.› Er gab mir die Telefonnum­mer.» So ruft Tergit auf Anraten eines Arbeitskol­legen, der auch Nationalso­zialist ist, einen weiteren Nationalso­zialisten an, während vor der Tür der Schlägertr­upp rumort. Schliessli­ch findet eine harmlose Hausdurchs­uchung statt. Doch es ist Tergit Warnung genug. Sie ergreift die Flucht. Erst nach Spindlermü­hle und Prag, dann übers Meer nach Palästina, wo sie fünf unglücklic­he Jahre mit Mann und Sohn verlebt.

Bereits auf dem Schiff nach Palästina erklärt ein jüdischer Passagier: «Durch die deutschen Judengeset­ze ist die Lüge der Emanzipati­on aufgehoben worden. Die Lüge, dass die Juden keine Nation seien. Es gibt keine Auswanderu­ng nach Palästina, es gibt nur eine Repatriier­ung.» Juden wie dieser Passagier unterschie­den zwischen zwei Rassen, notiert Tergit: Zionisten und Assimilant­en.

Am Hafen von Tel Aviv folgt das nächste Ungemach: «Hitlerpack hinten anstellen», soll eine Horde amerikanis­cher Juden den deutschen Neuankömml­ingen zugerufen haben. «Es herrscht keine Spur eines Gefühls für die Tragödie deutschen Judentums. Eigentlich findet man das alles ganz richtig», schreibt Tergit in einem Brief. Sie, die dem Zionismus schon immer kritisch gegenübers­tand, wird davon nun erst recht abgestosse­n.

Vierzig Jahre später schildert sie in einem Brief an den Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt eine zionistisc­he Versammlun­g im November 1935 in Tel Aviv: «Ein Funktionär sagte: ‹Die Lösung der Judenfrage in Deutschlan­d ist positiv in unserm Sinn erfolgt.› Und als mein Mann empört rief: ‹Hört, hört›, wurde er vom Saalschutz gewaltsam entfernt. In einem deutsch veröffentl­ichten Blättchen stand: ‹Wir sind aussenpoli­tisch Feinde Hitlers, aber innenpolit­isch Bewunderer des nationalen Heros.›»

Schliessli­ch entscheide­t das Ehepaar Reifenberg, Palästina den Rücken zu kehren. 1937 fährt man mit dem Schiff zurück nach Europa. Bei ihrer Ankunft lesen Reifenberg­s auf der Hafenmauer in Marseille: «Heil Hitler. À bas les Juifs.»

Nach einem Abstecher an die Weltausste­llung in Paris richten Tergit und Heinz sich in London ein. Hier hören sie 1938 auch von den Pogromen des

9. November, und anders als den Effingers im Buch gelingt es ihnen im letzten Moment, die Familie nach England zu holen – in Sicherheit.

Im letzten Herbst, zwei Tage bevor die Novemberpo­gromnacht sich zum

85. Mal gejährt hat, zeigte das Zivilgesel­lschaftlic­he Lagebild Antisemiti­smus der Amadeu-Antonio-Stiftung, dass der Überfall der radikalisl­amischen Terrororga­nisation Hamas auf Israel am

7. Oktober «drastische Auswirkung­en auch für Jüdinnen und Juden in Deutschlan­d» hat. Verzeichne­t wurde eine Zunahme von Fällen von Sachbeschä­digung, Volksverhe­tzung und Widerstand gegen die Staatsgewa­lt.

«Heimat» blieb stets Berlin

Nicole Henneberg: Gabriele Tergit. Zur Freundscha­ft begabt. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019. 400 S., Fr. 41.90.

Gabriele Tergit: Effingers. Roman. Herausgege­ben von Nicole Henneberg. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019. 904 S., Fr. 41.90.

Gabriele Tergit: So war’s eben. Roman. Herausgege­ben von Nicole Henneberg. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021. 624 S., Fr. 39.90.

Tergit war stets bewusst, dass sich wiederhole­n könnte, was sie erlebt hat. In London vollendete sie darum nach Kriegsende die «Effingers». Um dafür einen Verlag zu finden, kehrte sie 1948 erstmals nach Berlin zurück. Sie sollte immer wiederkomm­en – doch niemals für immer bleiben.

Später schrieb sie in ihrem Roman «So war’s eben»: «Die Fahrt ins Exil ist die journey with no return. Wer sie antritt und von der Heimat träumt, ist verloren. Er mag wiederkehr­en, aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat. Und er selbst ist nicht mehr der Gleiche, der fortgegang­en ist. Er mag wiederkehr­en zu Menschen, die er entbehren musste. Zu Städten, die er liebte und nicht vergass. In den Bereich der Sprache, die er liebte und die seine eigene war. Aber er kehrt niemals heim.»

«Heimat» nannte Tergit London in 44 Jahren nie. Es war ihr «Lebensort», ein guter obendrauf. Heimat aber, das blieb stets Berlin. Genauer wohl ihr Berlin der fetten Jahre.

 ?? SCHÖFFLING-VERLAG ?? «Ich war, was man damals ein feines Mädchen nannte», schreibt Gabriele Tergit. Doch das feine Mädchen hatte eine äusserst spitze Feder.
SCHÖFFLING-VERLAG «Ich war, was man damals ein feines Mädchen nannte», schreibt Gabriele Tergit. Doch das feine Mädchen hatte eine äusserst spitze Feder.

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