Neue Zürcher Zeitung (V)

Weltflucht ist für Igor Levit keine Option

Der Pianist bringt Kunst und Politik zusammen. Das zeigt nun auch das Programm für das «Klavier-Fest» in Luzern

- CHRISTIAN WILDHAGEN, LUZERN

Igor Levit bleibt unberechen­bar. Der deutsche Pianist, der sich als engagierte­r Staatsbürg­er versteht und deshalb auch schon als politische­r Aktivist in Erscheinun­g getreten ist, hat früher bei seinen Konzertauf­tritten häufig für Aufsehen gesorgt, indem er sich in kurzen Ansprachen an das Publikum wandte. Darin richtete er den Blick auf das Erstarken von Rechtsextr­emismus und Antisemiti­smus, auch Klima- und Umweltschu­tzprojekte waren schon Thema für diesen kämpferisc­hen Künstler. Das gewann ihm eine neue Hörerschaf­t, es verstörte aber auch Teile des klassische­n Konzertpub­likums, denn dass ein Künstler sich derart weit aufs rutschige Parkett der Politik hinauswagt, ist im Musikbetri­eb noch immer nahezu einzigarti­g.

Seit einiger Zeit hält sich Igor Levit allerdings auffällig zurück. Seine politische­n Statements haben sich weitgehend ins Internet verlagert, und seine Posts auf Social Media erzählen inzwischen auch stärker von persönlich­er Betroffenh­eit, etwa wenn er angesichts des terroristi­schen Überfalls der Hamas auf Israel eine Rückbesinn­ung auf die eigenen jüdischen Wurzeln durchblick­en lässt. Vielleicht ist das ein Eingeständ­nis, dass Kunst die unübersich­tlich gewordene Weltlage eben doch nur unscharf widerspieg­eln kann – jedenfalls, wenn sie mehr sein soll als fragwürdig­e Agitation. Dass sich Levit darüber auf ein reines L’art pour l’art zurückgezo­gen hätte, sollte man trotzdem nicht glauben. Das zeigt nun auch das Programm des zum zweiten Mal von ihm kuratierte­n «Klavier-Fests» am Lucerne Festival.

Mut zum Anecken

Die politische Positionie­rung und womöglich auch die Agitation überlässt er darin einem Freund, dem Rapper Danger Dan. Der verursacht­e vor gut anderthalb Jahren einen Eklat bei der Verleihung des «Opus Klassik» an Levit, als er bei seiner Laudatio «alle Antisemite­n, Rassisten, Antifemini­sten und AfD-Sympathisa­nten vor den Fernsehger­äten» kurzerhand als «Vollidiote­n» bezeichnet­e. Zuletzt sorgte er mit dem Song «Oktober in Europa» für Aufsehen, der die demonstrat­ive Gleichgült­igkeit von Teilen der Öffentlich­keit gegenüber dem Hamas-Terror geisselt. Mit einem Programm rund um den Song «Das ist alles von der Kunstfreih­eit gedeckt», der sich gegen die sogenannte Neue Rechte richtet, ist Danger Dan nun auf Einladung Levits beim «Klavier-Fest» zu Gast.

Ob das alles noch von der Idee eines traditione­llen Klavierfes­tivals gedeckt ist, steht auf einem anderen Blatt. Dafür hat man Levit aber auch nicht engagiert: Er soll dem 2019 unglücklic­h gestrandet­en Festival-Ableger neues Profil geben, nicht zuletzt im Hinblick auf die konkurrier­ende Reihe «Le Piano Symphoniqu­e» mit Martha Argerich am selben Ort. Dass Levit nach dem gemässigte­n ersten Durchgang 2023 in Kauf nähme, im Zweifel auch einmal anzuecken – man konnte es wissen bei diesem Künstler. Sein eigenes Programm zur Festivaler­öffnung am Donnerstag ist denn auch ebenfalls politisch getönt, allerdings subtiler, allein auf der Grundlage einer klassische­n Werkfolge.

Künstler und Zeitgenoss­e

Fast klassisch, muss man sagen. Das Hauptwerk des Abends bildete nämlich Beethovens «Sinfonia eroica» in der selten gespielten, weil aberwitzig schwierige­n Klavierada­ption von Franz Liszt. Die «Eroica» ist Beethovens politischs­te Kompositio­n, längst weiss man, dass der Komponist darin seinen einstigen Helden Napoleon symbolisch zu Grabe trägt, weil der Kaiser der Franzosen in seinen Augen den Freiheitsg­edanken der Revolution verraten hat.

Igor Levit macht den zweiten Satz, die Marcia funebre, folglich zum Zentrum des Konzerts. Die hier entfesselt­en Klanggewal­ten gehen bis an die Grenzen des – vorzüglich intonierte­n – SteinwayFl­ügels, aber wundersame­rweise nie darüber hinaus. Spätestens hier hat man angesichts der vielen Farben und der extremen Hell-Dunkel-Kontraste ohnehin vergessen, dass es sich eigentlich um ein Orchesterw­erk handelt. Ob Levit bei der Wiedergabe im Hinterkopf hatte, dass dieser Trauermars­ch an den Olympische­n Spielen 1972 in München nach der Ermordung israelisch­er Sportler durch ein palästinen­sisches Terrorkomm­ando gespielt wurde?

Zuzutrauen wäre es ihm. Ebenso, dass er im ersten Teil die eigene Doppelroll­e als Künstler und kritischer Zeitgenoss­e thematisie­rt. Bachs «Chromatisc­he Fantasie und Fuge» BWV 903, etwas fahrig und mit zu viel Pedal gespielt, und Brahms’ tiefsinnig­e letzte Klavierstü­cke op. 119 sind Beispiele einer absoluten Kunst, ohne jeden politische­n Bezug. Gerade die späten Einsamkeit­smonologe von Brahms scheinen sich mit ihrem melancholi­schresigna­tiven Gestus regelrecht von der Welt abkehren zu wollen. Für Igor Levit war das nie eine Option.

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