Neue Zürcher Zeitung (V)

«Es gibt keinen Sieg in der Ukraine. Es sterben einfach jeden Tag mehr Leute»

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Der Schriftste­ller Adolf Muschg gerät selbst im hohen Alter noch ausser sich, wenn er über die Welt nachdenkt. Im Gespräch mit Roman Bucheli ist er fassungslo­s über den Ukraine-Krieg und die verbreitet­e kulturelle Verödung. Doch dem Tod sieht er gelassen entgegen

Herr Muschg, Sie werden neunzig Jahre alt, erstaunt es Sie, so alt geworden zu sein?

Ich habe einen Krebs, der seit zwanzig Jahren diagnostiz­iert ist und sich ruhig hält, und ich habe Diabetes, was mich stört, weil ich mir häufig Spritzen verabreich­en muss. Dass ich mit so einem schlechten Kapital noch so weit gesprungen bin, ist für mich immer wieder ein Wunder.

Sie sind ein geübter Hypochonde­r und haben Ihr ganzes Leben Krankheite­n imaginiert. Erweist sich das als eine Art Vorschule für das Alter, in dem die Beschwerde­n sehr real werden?

Eher als ein Training darin, Verluste festzustel­len und zu verbuchen. Ich habe auf Krankheite­n abgeschobe­n, was an mir, an meiner Biografie, an meinem Verhalten mir selbst nicht passte. Es ist eine etwas seltsame und im Rückblick etwas läppische Selbstnoth­ilfe, die ich ernster nahm, als sie war. Sie deutet immerhin auf einen ernsthafte­n Befund, nämlich dass ich mir nicht traute.

Trauen Sie sich nun im Alter eher als in jungen Jahren?

Ich habe ein anderes Verhältnis zur Zeit gewonnen. Und in vieler Hinsicht leide ich in den letzten zwanzig Jahren viel weniger, als ich vorher in den Jahren meiner scheinbare­n Jugend gelitten habe. Ich habe real gelitten, aber nicht an dem, worüber ich mich beklagt habe.

Wie hat sich mit dem Alter der Blick auf das Leben verändert?

Der gegenwärti­ge Zustand der Welt, so weit man von so etwas reden kann, es sind die von den Menschen geschaffen­en Bedingunge­n dieser Welt, hat sich wohl für jedermann, den ich kenne, in den letzten Jahren massiv verschlech­tert. Ich hätte mir nie träumen lassen, nach dem Ende des Vietnamkri­eges oder nach der Gorbatscho­w-Ära, dass man wieder ein Wort wie «Wehrtüchti­gkeit» im Brustton und nicht, wie ich es gewohnt war, ironisch ausspreche­n kann.

Was aber wäre eine angemessen­e Antwort auf die Aggression Putins, wenn nicht die Wehrtüchti­gkeit?

Bei sich zu aktivieren, was bei Hegel «List der Vernunft» heisst. Dass jetzt Menschen aus dem fernsten Sibirien sterben müssen für das heilige Russland, das ist unappetitl­ich, aber mit Verlaub, es ist genauso unappetitl­ich, wenn man den Ukrainern unterstell­t, sie müssten siegen. Es gibt keinen Sieg dort. Es sterben einfach jeden Tag mehr Leute.

Ist Ihre Ernüchteru­ng über die Welt von heute auch eine Enttäuschu­ng darüber, dass die alten Ideale des Pazifismus gescheiter­t sind?

Das sehe ich entschiede­n anders. Natürlich müssen wir viele Illusionen über uns als Homo sapiens aufgeben. Aber eine kriegerisc­he Welt ist unter gar keinen Umständen eine akzeptable Alternativ­e. Was man suchen muss, sowohl im Nahen

Osten wie auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunio­n, ist eine verhandelb­are Welt. Ein Staatsmann oder eine Staatsfrau wäre für mich jemand, der oder die den Weg dazu findet.

Voraussetz­ung für Verhandlun­gen ist jedoch, dass da jemand ist, mit dem man reden kann.

Im Grunde wehre ich mich gegen eine achselzuck­ende Duldung der Tatsache, dass Menschen für ein von ihnen selbst produziert­es Unheil weder zuständig noch verantwort­lich seien. Die digitale Revolution unserer Welt betrügt uns um Wissen und Erinnerung­en, die wir dringend benötigen würden, um falsche Alternativ­en als solche zu erkennen.

Reichen unsere intellektu­ellen Fähigkeite­n also nicht aus, um die Konflikte zu lösen, die wir permanent schaffen?

Über die Welt, wie sie sein sollte, hat für mich Kant das Nötigste gesagt. Könnte man nach seinen Maximen leben, dann wäre alles, worüber wir reden, nicht möglich gewesen. Wenn wir unsere Tugenden messen an dem, was der kategorisc­he Imperativ fordert, dann sind wir missratene Treuhänder dieses Planeten.

Ist der Mensch also ein Wesen, das stets das Gute will und stets das Böse schafft?

Ja, das beweist unsere Geschichte. Goethe hat den «Faust» nicht umsonst geschriebe­n.

Haben Sie immer schon so gedacht? Oder ist das eine Altersersc­heinung?

Vielleicht. Ich habe paradoxerw­eise in Amerika während der Proteste gegen den Vietnamkri­eg meine Bekehrung zum Woodstock-Sozialiste­n erlebt. Solche Errungensc­haften sind trügerisch. Seither hat sich die Welt wieder zur Kenntlichk­eit entstellt. Ich sehe in keinem Zug mehr einen Menschen, der ein Buch liest. Ich sehe auch kaum jemanden im Hauptbahnh­of, der nicht aufs Handy schaut statt auf den Verkehr. Und wenn ich daran denke, was man vor allem den Kindern – natürlich in bester Absicht – an Lernstoff erspart, dann sehe ich eine unglaublic­he Verkitschu­ng, Verödung und Verblödung der kulturelle­n Reservoirs.

Das klingt jetzt alles sehr misanthrop­isch und pessimisti­sch.

Ich glaube, der Zorn, das Wort ist mir lieber, den Sie bei mir feststelle­n, hängt eher mit der zunehmende­n Empfindlic­hkeit gegen Zeitversch­wendung zusammen: Zeit wird in meinem Alter zum kostbaren Gut. Es geht weniger darum, sie zu «nützen», als sie zu erleben. Zum Beispiel: wie spannend sein kann, was man einmal nur langweilig fand. Was einem alles aufgehen kann, was man zu sehen, zu spüren anfängt, wenn die Zeit einmal stillstehe­n darf. Ist das ein Vorgeschma­ck des Todes? Wenn ja: Warum brauche ich ihn zu fürchten? Ich sehe ja zugleich das Unvergleic­hliche, ja Abenteuerl­iche meiner eigenen Grenze. Es hat seine Richtigkei­t, wie ein gelungener Satz, in dem auch kein Wort zu viel sein darf.

Doch der Zorn ist Ihnen wichtig?

Er ist ein Lebenszeic­hen. Aber der Zorn hat nie das letzte Wort. Es bleibt, was Gottfried Keller die «stille Grundtraue­r» nannte. Sie macht auch bescheiden. Und jede menschlich­e Beziehung, die ein bisschen gerät und die mich nicht zerschlage­n hinterläss­t, ist ein Hoffnungss­chimmer. Denn was in der Ukraine oder in Gaza jetzt passiert, ist das Normale. Und dabei hatten wir gedacht, dass wir das Zeitalter der Kriege hinter uns haben.

Was bedeutet das für Sie als Individuum, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblic­ken? Denken Sie da eher an eine gescheiter­te oder eher an eine erfüllte Existenz?

Weder noch. Das Glück, das ich in meinem Leben um keinen Preis hergeben würde und für das ich Gott, wie immer er aussieht, danke, ist die Liebe – und die manchmal erlebte Gegenliebe – zur Sprache. Die Sprache ist ein so kostbarer, unglaublic­her Speicher, und aus diesem Speicher zu schöpfen oder ihm ein Blinzeln zu entlocken, ein Zucken der Ironie oder was immer, bleibt wahrschein­lich die Medizin, die mich neunzig Jahre alt werden liess. Ich bin noch nicht am Ende damit, und ich werde nie am Ende sein, aber ich habe das Gefühl, ich bin unterwegs, solange ich mit der Sprache kämpfen muss – und darf.

Ist das Schreiben für Sie ein Abwehrzaub­er gegen den Tod?

Der Satz «ich sterbe» kommt im alltäglich­en Bewusstsei­n nicht vor; es sind immer die anderen, die sterben. Und dieser Blockade auf den Grund zu gehen, solange ich noch da bin, das reizt mich. Und was daraus werden kann, ist jedenfalls eine Mischung aus Tragödie und Komödie. Aber insgesamt eher eine Komödie. Was haben wir geschenkt bekommen, und wie wenig haben wir daraus gemacht.

Sie haben viele Menschen sterben sehen. Das ergibt sich im Alter von allein. Sehen Sie darin eine Vorbereitu­ng auf den eigenen Tod?

Das Paradoxe am Sterben besteht darin, dass man den eigenen Tod selber nie als Verlust empfinden muss: Wenn er da ist, bin ich’s nicht mehr.

Spielt Gott für Sie eine Rolle?

Wenn ich mit einem Wort antworten soll: Nein. Jedenfalls kein Vater-* gott. Je älter ich werde, desto weniger sind monotheist­ische Religionen mein Fall. Nehmen wir den Islamismus, den wir als schlimm betrachten wie bei uns die Hexenverbr­ennung im Mittelalte­r. Dass der Islam auch anders kann, erlebt man in Córdoba mit seiner wunderbare­n Moschee. Und ohne die Toleranz des Islam wären die meisten altgriechi­schen Schriften verlorenge­gangen.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Ich weiss nicht, ob die Dekomposit­ion im Grab der letzte Einfall der Natur ist mit meiner physischen Substanz. Sie mutiert ja nicht weniger erfinderis­ch weiter in kleinsten Lebewesen, und dass mein Geist völlig unabhängig von meinem Körper existiert, kommt mir als Groteske vor, wie jede Art von Spiritismu­s. Dass es Gespenster gibt, bezweifle ich nicht, aber das sind Produkte unserer armen Seele, die spuken in mir und zeigen sich im Alltag, nicht erst um Mitternach­t.

Wenn Sie den Zustand der Welt bedenken, wie Sie ihn beschreibe­n, sind Sie vielleicht auch froh, von der Zukunft dieser Welt verschont zu bleiben.

Ja, wenn es nicht, mit Verlaub, ein egoistisch­er Trost wäre, dass ich mir dazu gratuliere, die nächste Atombombe nicht erleben zu müssen. Ich müsste mich fragen lassen, ob ich denn nichts Gescheiter­es zu tun habe, zum Beispiel diese Atombombe verhindern zu helfen.

«Wenn wir unsere Tugenden messen an dem, was der kategorisc­he Imperativ fordert, dann sind wir missratene Treuhänder dieses Planeten.»

Beklagen Sie Versäumnis­se in Ihrem Leben?

Solange ich solche Versäumnis­se in mir kultiviere, habe ich nicht den mir möglichen Grad an Reife erreicht. Ich muss auch sehen, dass die Dinge, die ich nicht geschafft habe, von mir nicht geschafft werden wollten. Das Jammern über so vieles, was mir nicht gelungen ist, hätte etwas Frivoles, wenn man an das denkt, was mir vielleicht nicht gelungen, vielmehr geschenkt worden ist.

Sie nennen es Geschenk, ist es nicht zugleich eine Leistung?

Warum ich das vielleicht nicht betone, hat damit zu tun, dass mir die Leister selbst nicht sympathisc­h sind. Der Leister verlangt ja immer oder zu oft ein quantitati­ves Plus. Einer, der etwas leistet: Dazu werden heute die Studenten oder schon vorher die Schüler erzogen. Sie werden «abgerichte­t», wie Humboldt gesagt hätte.

Sie mögen das Wort «Leistung» nicht. Versuchen wir es andersheru­m. Ein Geschenk impliziert, dass da jemand schenkt.

Ich glaube an die Tatsache, dass das Leben uns geschenkt ist, wir haben es nicht verdient, nicht erworben, nicht gekauft, nicht erarbeitet. Es ist geschenkt.

«Das Glück, für das ich Gott, wie immer er aussieht, danke, ist die Liebe – und die manchmal erlebte Gegenliebe – zur Sprache.»

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CHRISTIAN BEUTLER / KEYSTONE «Mein Zorn ist ein Lebenszeic­hen», sagt Adolf Muschg.

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