2024 ist nicht 1968 – aber es gibt Parallelen
Die Unruhen der 1960er Jahre definierten die Rolle der amerikanischen Universitäten neu – diese sind bis heute ein politischer Faktor
Die Themen, die heute die Studenten in den USA bewegen, sind andere als 1968, und auch die Gesellschaft hat sich verändert. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Proteste, wie in den 1960er Jahren, zum Ausgangspunkt für politische Veränderungen werden. – Im Bild: Studenten der University of California protestieren in Berkeley gegen den Vietnamkrieg.
Was sagen uns die Studentenunruhen der 1960er Jahre über den heutigen Protest auf dem amerikanischen Campus? Man sollte keine vorschnellen Parallelen ziehen, 2024 ist nicht 1968. Die Themen, die jetzt die Studierenden in den USA bewegen, sind andere. Auch die amerikanische Gesellschaft und ihre Universitäten haben sich verändert, nicht zuletzt wegen «1968». Und schliesslich betrifft der Krieg in Gaza die meisten Studenten heute weniger direkt, als jener in Vietnam die Kommilitonen in den 1960er Jahren mobilisierte. Allerdings blieben die Studenten damals in der Regel vom Kriegseinsatz verschont. Aufgeboten wurden vor allem junge Männer aus der Unterschicht.
Neben all diesen Unterschieden gibt es aber auch Ähnlichkeiten. Dazu gehört die Rolle des amerikanischen Campus. Er ist ein Seismograf des gesellschaftlichen Wandels geblieben – und es ist nicht ausgeschlossen, dass er wie in den 1960er Jahren zum Ausgangspunkt für politische Veränderungen wird. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn Präsident Joe Biden wegen der mangelnden Unterstützung aus dem linken Parteiflügel die Wahl verliert. Es ist der politisierte Campus, der heute am heftigsten gegen Bidens Israel-Politik agitiert und ihm die jungen Wähler abspenstig macht.
Einfluss auf den Mainstream
Das Vorbild dafür ist 1968. Die von Präsident Johnson drei Jahre zuvor angeordnete Eskalation des Krieges in Vietnam hatte seine Partei gespalten. Wie in diesem Jahr fand der Parteikongress der Demokraten auch 1968 in Chicago statt. Mehrere Gegenkandidaten traten gegen Johnson an, worauf er überraschend das Handtuch warf. Der Widerstand in der Partei gegen Johnsons Kriegspolitik war so gross geworden, weil eine schlagkräftige Studentenbewegung begonnen hatte, über den Campus hinaus politischen Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.
Die wichtigste Gruppe waren die SDS (Students for a Democratic Society), die gezielt auf den Parteikongress hin mobilisierten. Ihre Hauptthemen waren die Unterstützung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung – und jetzt vor allem der Widerstand gegen den Vietnamkrieg. Diese Agenda hatten linke Demokraten übernommen und in die Partei hineingetragen. Der Parteitag im August verlief chaotisch. Rund um das Kongresszentrum kam es zu mehrtägigen Krawallen und Zusammenstössen mit Polizei und Nationalgarde.
Als sich die Tränengasnebel lichteten, war der Vizepräsident Hubert Humphrey der Kandidat der Demokraten. Er stand für die Fortsetzung des Status quo. Zwei Monate später verlor Humphrey deutlich gegen den konservativen Republikaner Richard Nixon. Nixon hatte den Amerikanern versprochen, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, und «die schweigende Mehrheit» im Land um ihre Stimme gebeten. Der Krieg in Vietnam wütete noch fünf Jahre weiter. Die Studenten hatten den Protest dagegen zwar in die breite Gesellschaft getragen, aber damit auch einen heftigen Backlash der Kriegsbefürworter ausgelöst.
Der Campus als Inkubator
Die erste Welle der politischen Mobilisierung hatten fünf Jahre früher die Aktivisten der «Free Speech»-Bewegung losgetreten. An der Universität Berkeley in Kalifornien verlangten die Studenten das Recht, sich auf dem Campus auch politisch zu betätigen. Den Studierenden ging es aber immer schon um mehr: Der Campus sollte zu einem Ausgangspunkt für den gesellschaftlichen Wandel werden.
Das widersprach diametral dem herkömmlichen Bild der Universität von einem abgesonderten Ort des Lernens und der körperlichen Ertüchtigung: Idealerweise ausserhalb der Stadt und ihrer Sitten verderbenden Einflüsse gebaut, war der Campus umgeben von grossen parkähnlichen Anlagen. Hier wurden die Kinder der amerikanischen Elite (lange nur die Söhne) unter strenger Aufsicht auf ihre künftige Rolle vorbereitet. «Ein College, das man mit dem Tram erreicht, ist kein College», soll Woodrow Wilson gesagt haben, der, bevor er Präsident wurde, bis 1910 der Universität Princeton vorstand.
Ganz anders sehen das die Studenten, die 1959 die Bewegung Students for a Democratic Society gründen. Einer ihrer Anführer ist Tom Hayden, der spätere Organisator der Proteste in Chicago. Er schreibt 1962 das berühmt gewordene Port Huron Statement, eine Art Grundsatzerklärung. Sie beginnt mit den Worten: «Wir, Menschen dieser Generation, aufgewachsen zumindest in bescheidenem Wohlstand, untergebracht an Universitäten, schauen mit Unbehagen auf die Welt, die wir erben.»
Die Universität, heisst es darin, müsse sich verändern und ein Ort des Wandels werden. Den Verwaltern müsse die Kontrolle entwunden, Bündnisse mit der Bürgerrechtsbewegung und der Friedensbewegung müssten geknüpft werden, um dann zum Angriff auf die Machtstrukturen anzusetzen. Aber das Ziel ist nicht der Umsturz, sondern der Umbau des Systems zu einer «partizipativen Demokratie».
Charisma und Ideologie
Tom Hayden hatte klare politische Vorstellungen, und er hatte Charisma, zwei Eigenschaften, die für den Erfolg der Protestbewegung entscheidend waren. Den ersten Entwurf zum Port Huron Statement schrieb er 1961 in einer Gefängniszelle in Albany, im Bundesstaat Georgia. Wie viele seiner Kommilitonen hatte er an einem «Freedom Ride» teilgenommen. Weisse Studenten aus dem Norden unterstützen schwarze Bürgerrechtler im Süden, indem sie offen gegen die rassistische Segregation im öffentlichen Verkehr verstiessen. Hayden war bei einer solchen Aktion von einem weissen Mob verprügelt und von der Polizei verhaftet worden.
Das FBI legte eine Akte über ihn an und setzte ihn auf die Liste der Unruhestifter (den «Rabble Rouser Index»). Hayden sei ein Aufwiegler und ein mitreissender Redner, berichteten die Agenten. Kampfgefährten beschreiben ihn als sehr selbstbewusst, mit Ausstrahlung und einem Gespür für die öffentliche Wirkung. Viele seiner Kommilitonen lehnen Hierarchien ab. Nicht so Hayden, er ist ein charismatischer «leader», und er liebt die Macht.
Thomas Hayden wurde 1939 in Michigan in eine katholische, irischstämmige Familie geboren. Sein Vater war Buchhalter. Als er zehn Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Tom wächst bei der Mutter auf. Er ist ein rebellischer Geist, der sich schon früh mit den Autoritäten in Kirche und Schule anlegt. Sein politisches «Erweckungserlebnis», so sagt er später, sei aber 1960 ein Interview mit Martin Luther King gewesen. Hayden, zu dieser Zeit Redaktor einer Studentenzeitschrift an der Universität Michigan, ist wie elektrisiert. Er entschliesst sich, Teil der Bewegung zu werden, statt nur über sie zu schreiben.
1965, die Eskalation des Kriegs in Vietnam ist in vollem Gang, unternimmt er – gegen die Anweisung des Aussenministeriums – eine Reise nach Nordvietnam. Darüber schreibt er ein Buch («The Other Side»), bereut aber später den Trip, der von den Nordvietnamesen propagandistisch ausgebeutet wurde. Drei Jahre später gehört er 1968 zu den Organisatoren der grossen Demonstrationen, die Chicago während des demokratischen Parteikongresses für fünf Tage in ein Schlachtfeld verwandeln.
Engagement und Gemeinschaft
Was die politischen Bewegungen an den Universitäten in den 1960er Jahren mit gegenwärtigen Protesten gegen den Gaza-Krieg vielleicht am stärksten verbindet, hat mit den damaligen Veränderungen des Campus als eines sozialen Orts zu tun. Dessen Wandel untersuchten Soziologen wie Seymour Martin Lipset (1922–2006) gleich nach dem Ausbruch der Unruhen. Der konservative, in Stanford und Harvard lehrende Wissenschafter war besorgt über die «scheinbare Explosion des Campus», die den universitären Betrieb auf den Kopf stellte.
Eine erste, zunächst beruhigende Beobachtung war, dass die Gruppe der Aktivisten verhältnismässig klein war. Von den sechs Millionen Studentinnen und Studenten, so Lipset, gehörten bloss etwa 12 000 Studierende zum harten Kern. Das entspricht etwa 0,2 Prozent. Doch das allein besagt noch nichts über ihren Einfluss. Denn schnell wurde klar: Die Proteste sprechen Bedürfnisse der Studenten an, die weit über das rein
Politische hinausgehen. Die Bewegung schafft Gemeinschaft, sie stiftet Sinn und setzt gesellschaftliche Ziele.
Die politische Apathie, Vereinzelung und Entfremdung der Studierenden war ein wiederkehrendes Thema in den frühen 1960er Jahren. Man sprach von der «Silent Generation». Mitte der 1960er Jahre kam eine Umfrage der Universität Wisconsin zum Schluss, dass eine Vielzahl der Studenten in den grossen Universitäten sich dort nicht als Individuen fühlten, «sondern als Nummern und Zahnräder einer Bildungsfabrik».
Da schufen die neuen Formen des Protests schlagartig Abhilfe. Denn es waren immer auch intensive Gemeinschaftserlebnisse: die Sit-ins mit ihren endlosen Diskussionen, die Kritik und Selbstbestätigung der Teach-ins und schliesslich die Sleep-ins in den besetzten Uni-Gebäuden. Hinzu kam das Abenteuer mancher Protestaktionen, wenn Studenten die Militärzüge blockierten oder ihre Militäraufgebote öffentlich verbrannten.
Der Protest war natürlich auch ein Generationenkonflikt. Aber auf überraschende Weise: Es waren nicht die Kinder aus konservativen und traditionellen Elternhäusern, die sich mehrheitlich engagierten. Im Gegenteil. Die Untersuchungen zeigten, dass die Aktivisten mehrheitlich aus liberalen und linken Elternhäusern stammten.
Sie vertraten die Ideen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden, die sie ihre Mütter und Väter gelehrt hatten. Der Streit mit den Eltern drehte sich nicht um die Werte und Ziele, sondern darum, wie dafür gekämpft werden sollte. Die Kinder warfen den Eltern Lauheit vor, nur zu reden, aber nichts zu tun. Auch in dieser Beziehung gibt es zweifellos Parallelen zum heutigen Protest gegen den Gaza-Krieg. Denn auch die Eltern und Professoren der Studierenden in den Zeltdörfern kritisieren die israelische Politik in den besetzten Gebieten. Aber der Protest und seine Parolen gehen ihnen zu weit.
Die Tradition des Protestes
Wer «1968» und 2024 an den amerikanischen Universitäten vergleicht, dem fallen neben den Ähnlichkeiten und Unterschieden auch Ursachen und Wirkungen auf. «Amerikas Colleges ernten, was sie gesät haben», schreibt der Assistenzprofessor Tyler Austin Harper in der Zeitschrift «The Atlantic». Die Proteste sind auch eine Folge davon, wie die Hochschulen mit dem damaligen Aufbruch umgehen. Es gibt an manchen Colleges eine intensive Traditionspflege und Erinnerungskultur mit Blick auf die wilden 1960er Jahre: Bronzetafeln zeugen von den Besetzungen, und an den Jahrestagen werden Gedenk-Rundgänge und Erinnerungs-Vorlesungen an den Orten der Ereignisse veranstaltet.
Universitäten wie jene von Cornell, schreibt Tyler, begrüssten nicht nur die politische Betätigung von Studierenden, sie ermutigten sie ausdrücklich dazu. Andere, wie Columbia, nutzten die Protestgeschichte als Marketingargument für ihre Studienplätze von wenigstens 60 000 Dollar pro Jahr. Doch jetzt treffen die heiss umstrittenen propalästinensischen Demonstrationen auf dieses Routine-Bekenntnis. Und es zeigt sich, so Tyler, dass die Universitätsleitungen damit ebenso überfordert sind wie ihre Vorgänger vor einem halben Jahrhundert: Das aktivistische «branding» des Campus ist als Heuchelei enttarnt.
Man kann das so sehen, oder auch anders. Aber es ist offensichtlich, dass der amerikanische Campus wie nie seit den 1960er Jahren wieder zu einem politischen Akteur geworden ist. Und vieles, was wir dabei beobachten gleicht den Vorgängen von damals. Ob und wie der Protest den Gang der Geschichte auch diesmal beeinflusst, wissen wir nicht. Aber der Blick zurück zeigt: Es ist durchaus möglich.
Es ist der politisierte Campus, der heute am heftigsten gegen Bidens Israel-Politik agitiert und ihm die jungen Wähler abspenstig macht.