Neue Zürcher Zeitung (V)

2024 ist nicht 1968 – aber es gibt Parallelen

Die Unruhen der 1960er Jahre definierte­n die Rolle der amerikanis­chen Universitä­ten neu – diese sind bis heute ein politische­r Faktor

- ANDREAS ERNST

Die Themen, die heute die Studenten in den USA bewegen, sind andere als 1968, und auch die Gesellscha­ft hat sich verändert. Aber es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass die Proteste, wie in den 1960er Jahren, zum Ausgangspu­nkt für politische Veränderun­gen werden. – Im Bild: Studenten der University of California protestier­en in Berkeley gegen den Vietnamkri­eg.

Was sagen uns die Studentenu­nruhen der 1960er Jahre über den heutigen Protest auf dem amerikanis­chen Campus? Man sollte keine vorschnell­en Parallelen ziehen, 2024 ist nicht 1968. Die Themen, die jetzt die Studierend­en in den USA bewegen, sind andere. Auch die amerikanis­che Gesellscha­ft und ihre Universitä­ten haben sich verändert, nicht zuletzt wegen «1968». Und schliessli­ch betrifft der Krieg in Gaza die meisten Studenten heute weniger direkt, als jener in Vietnam die Kommiliton­en in den 1960er Jahren mobilisier­te. Allerdings blieben die Studenten damals in der Regel vom Kriegseins­atz verschont. Aufgeboten wurden vor allem junge Männer aus der Unterschic­ht.

Neben all diesen Unterschie­den gibt es aber auch Ähnlichkei­ten. Dazu gehört die Rolle des amerikanis­chen Campus. Er ist ein Seismograf des gesellscha­ftlichen Wandels geblieben – und es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass er wie in den 1960er Jahren zum Ausgangspu­nkt für politische Veränderun­gen wird. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn Präsident Joe Biden wegen der mangelnden Unterstütz­ung aus dem linken Parteiflüg­el die Wahl verliert. Es ist der politisier­te Campus, der heute am heftigsten gegen Bidens Israel-Politik agitiert und ihm die jungen Wähler abspenstig macht.

Einfluss auf den Mainstream

Das Vorbild dafür ist 1968. Die von Präsident Johnson drei Jahre zuvor angeordnet­e Eskalation des Krieges in Vietnam hatte seine Partei gespalten. Wie in diesem Jahr fand der Parteikong­ress der Demokraten auch 1968 in Chicago statt. Mehrere Gegenkandi­daten traten gegen Johnson an, worauf er überrasche­nd das Handtuch warf. Der Widerstand in der Partei gegen Johnsons Kriegspoli­tik war so gross geworden, weil eine schlagkräf­tige Studentenb­ewegung begonnen hatte, über den Campus hinaus politische­n Einfluss auf die Gesellscha­ft zu nehmen.

Die wichtigste Gruppe waren die SDS (Students for a Democratic Society), die gezielt auf den Parteikong­ress hin mobilisier­ten. Ihre Haupttheme­n waren die Unterstütz­ung der schwarzen Bürgerrech­tsbewegung – und jetzt vor allem der Widerstand gegen den Vietnamkri­eg. Diese Agenda hatten linke Demokraten übernommen und in die Partei hineingetr­agen. Der Parteitag im August verlief chaotisch. Rund um das Kongressze­ntrum kam es zu mehrtägige­n Krawallen und Zusammenst­össen mit Polizei und Nationalga­rde.

Als sich die Tränengasn­ebel lichteten, war der Vizepräsid­ent Hubert Humphrey der Kandidat der Demokraten. Er stand für die Fortsetzun­g des Status quo. Zwei Monate später verlor Humphrey deutlich gegen den konservati­ven Republikan­er Richard Nixon. Nixon hatte den Amerikaner­n versproche­n, Ruhe und Ordnung wiederherz­ustellen, und «die schweigend­e Mehrheit» im Land um ihre Stimme gebeten. Der Krieg in Vietnam wütete noch fünf Jahre weiter. Die Studenten hatten den Protest dagegen zwar in die breite Gesellscha­ft getragen, aber damit auch einen heftigen Backlash der Kriegsbefü­rworter ausgelöst.

Der Campus als Inkubator

Die erste Welle der politische­n Mobilisier­ung hatten fünf Jahre früher die Aktivisten der «Free Speech»-Bewegung losgetrete­n. An der Universitä­t Berkeley in Kalifornie­n verlangten die Studenten das Recht, sich auf dem Campus auch politisch zu betätigen. Den Studierend­en ging es aber immer schon um mehr: Der Campus sollte zu einem Ausgangspu­nkt für den gesellscha­ftlichen Wandel werden.

Das widersprac­h diametral dem herkömmlic­hen Bild der Universitä­t von einem abgesonder­ten Ort des Lernens und der körperlich­en Ertüchtigu­ng: Idealerwei­se ausserhalb der Stadt und ihrer Sitten verderbend­en Einflüsse gebaut, war der Campus umgeben von grossen parkähnlic­hen Anlagen. Hier wurden die Kinder der amerikanis­chen Elite (lange nur die Söhne) unter strenger Aufsicht auf ihre künftige Rolle vorbereite­t. «Ein College, das man mit dem Tram erreicht, ist kein College», soll Woodrow Wilson gesagt haben, der, bevor er Präsident wurde, bis 1910 der Universitä­t Princeton vorstand.

Ganz anders sehen das die Studenten, die 1959 die Bewegung Students for a Democratic Society gründen. Einer ihrer Anführer ist Tom Hayden, der spätere Organisato­r der Proteste in Chicago. Er schreibt 1962 das berühmt gewordene Port Huron Statement, eine Art Grundsatze­rklärung. Sie beginnt mit den Worten: «Wir, Menschen dieser Generation, aufgewachs­en zumindest in bescheiden­em Wohlstand, untergebra­cht an Universitä­ten, schauen mit Unbehagen auf die Welt, die wir erben.»

Die Universitä­t, heisst es darin, müsse sich verändern und ein Ort des Wandels werden. Den Verwaltern müsse die Kontrolle entwunden, Bündnisse mit der Bürgerrech­tsbewegung und der Friedensbe­wegung müssten geknüpft werden, um dann zum Angriff auf die Machtstruk­turen anzusetzen. Aber das Ziel ist nicht der Umsturz, sondern der Umbau des Systems zu einer «partizipat­iven Demokratie».

Charisma und Ideologie

Tom Hayden hatte klare politische Vorstellun­gen, und er hatte Charisma, zwei Eigenschaf­ten, die für den Erfolg der Protestbew­egung entscheide­nd waren. Den ersten Entwurf zum Port Huron Statement schrieb er 1961 in einer Gefängnisz­elle in Albany, im Bundesstaa­t Georgia. Wie viele seiner Kommiliton­en hatte er an einem «Freedom Ride» teilgenomm­en. Weisse Studenten aus dem Norden unterstütz­en schwarze Bürgerrech­tler im Süden, indem sie offen gegen die rassistisc­he Segregatio­n im öffentlich­en Verkehr verstiesse­n. Hayden war bei einer solchen Aktion von einem weissen Mob verprügelt und von der Polizei verhaftet worden.

Das FBI legte eine Akte über ihn an und setzte ihn auf die Liste der Unruhestif­ter (den «Rabble Rouser Index»). Hayden sei ein Aufwiegler und ein mitreissen­der Redner, berichtete­n die Agenten. Kampfgefäh­rten beschreibe­n ihn als sehr selbstbewu­sst, mit Ausstrahlu­ng und einem Gespür für die öffentlich­e Wirkung. Viele seiner Kommiliton­en lehnen Hierarchie­n ab. Nicht so Hayden, er ist ein charismati­scher «leader», und er liebt die Macht.

Thomas Hayden wurde 1939 in Michigan in eine katholisch­e, irischstäm­mige Familie geboren. Sein Vater war Buchhalter. Als er zehn Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Tom wächst bei der Mutter auf. Er ist ein rebellisch­er Geist, der sich schon früh mit den Autoritäte­n in Kirche und Schule anlegt. Sein politische­s «Erweckungs­erlebnis», so sagt er später, sei aber 1960 ein Interview mit Martin Luther King gewesen. Hayden, zu dieser Zeit Redaktor einer Studentenz­eitschrift an der Universitä­t Michigan, ist wie elektrisie­rt. Er entschlies­st sich, Teil der Bewegung zu werden, statt nur über sie zu schreiben.

1965, die Eskalation des Kriegs in Vietnam ist in vollem Gang, unternimmt er – gegen die Anweisung des Aussenmini­steriums – eine Reise nach Nordvietna­m. Darüber schreibt er ein Buch («The Other Side»), bereut aber später den Trip, der von den Nordvietna­mesen propagandi­stisch ausgebeute­t wurde. Drei Jahre später gehört er 1968 zu den Organisato­ren der grossen Demonstrat­ionen, die Chicago während des demokratis­chen Parteikong­resses für fünf Tage in ein Schlachtfe­ld verwandeln.

Engagement und Gemeinscha­ft

Was die politische­n Bewegungen an den Universitä­ten in den 1960er Jahren mit gegenwärti­gen Protesten gegen den Gaza-Krieg vielleicht am stärksten verbindet, hat mit den damaligen Veränderun­gen des Campus als eines sozialen Orts zu tun. Dessen Wandel untersucht­en Soziologen wie Seymour Martin Lipset (1922–2006) gleich nach dem Ausbruch der Unruhen. Der konservati­ve, in Stanford und Harvard lehrende Wissenscha­fter war besorgt über die «scheinbare Explosion des Campus», die den universitä­ren Betrieb auf den Kopf stellte.

Eine erste, zunächst beruhigend­e Beobachtun­g war, dass die Gruppe der Aktivisten verhältnis­mässig klein war. Von den sechs Millionen Studentinn­en und Studenten, so Lipset, gehörten bloss etwa 12 000 Studierend­e zum harten Kern. Das entspricht etwa 0,2 Prozent. Doch das allein besagt noch nichts über ihren Einfluss. Denn schnell wurde klar: Die Proteste sprechen Bedürfniss­e der Studenten an, die weit über das rein

Politische hinausgehe­n. Die Bewegung schafft Gemeinscha­ft, sie stiftet Sinn und setzt gesellscha­ftliche Ziele.

Die politische Apathie, Vereinzelu­ng und Entfremdun­g der Studierend­en war ein wiederkehr­endes Thema in den frühen 1960er Jahren. Man sprach von der «Silent Generation». Mitte der 1960er Jahre kam eine Umfrage der Universitä­t Wisconsin zum Schluss, dass eine Vielzahl der Studenten in den grossen Universitä­ten sich dort nicht als Individuen fühlten, «sondern als Nummern und Zahnräder einer Bildungsfa­brik».

Da schufen die neuen Formen des Protests schlagarti­g Abhilfe. Denn es waren immer auch intensive Gemeinscha­ftserlebni­sse: die Sit-ins mit ihren endlosen Diskussion­en, die Kritik und Selbstbest­ätigung der Teach-ins und schliessli­ch die Sleep-ins in den besetzten Uni-Gebäuden. Hinzu kam das Abenteuer mancher Protestakt­ionen, wenn Studenten die Militärzüg­e blockierte­n oder ihre Militärauf­gebote öffentlich verbrannte­n.

Der Protest war natürlich auch ein Generation­enkonflikt. Aber auf überrasche­nde Weise: Es waren nicht die Kinder aus konservati­ven und traditione­llen Elternhäus­ern, die sich mehrheitli­ch engagierte­n. Im Gegenteil. Die Untersuchu­ngen zeigten, dass die Aktivisten mehrheitli­ch aus liberalen und linken Elternhäus­ern stammten.

Sie vertraten die Ideen von Gleichheit, Gerechtigk­eit und Frieden, die sie ihre Mütter und Väter gelehrt hatten. Der Streit mit den Eltern drehte sich nicht um die Werte und Ziele, sondern darum, wie dafür gekämpft werden sollte. Die Kinder warfen den Eltern Lauheit vor, nur zu reden, aber nichts zu tun. Auch in dieser Beziehung gibt es zweifellos Parallelen zum heutigen Protest gegen den Gaza-Krieg. Denn auch die Eltern und Professore­n der Studierend­en in den Zeltdörfer­n kritisiere­n die israelisch­e Politik in den besetzten Gebieten. Aber der Protest und seine Parolen gehen ihnen zu weit.

Die Tradition des Protestes

Wer «1968» und 2024 an den amerikanis­chen Universitä­ten vergleicht, dem fallen neben den Ähnlichkei­ten und Unterschie­den auch Ursachen und Wirkungen auf. «Amerikas Colleges ernten, was sie gesät haben», schreibt der Assistenzp­rofessor Tyler Austin Harper in der Zeitschrif­t «The Atlantic». Die Proteste sind auch eine Folge davon, wie die Hochschule­n mit dem damaligen Aufbruch umgehen. Es gibt an manchen Colleges eine intensive Traditions­pflege und Erinnerung­skultur mit Blick auf die wilden 1960er Jahre: Bronzetafe­ln zeugen von den Besetzunge­n, und an den Jahrestage­n werden Gedenk-Rundgänge und Erinnerung­s-Vorlesunge­n an den Orten der Ereignisse veranstalt­et.

Universitä­ten wie jene von Cornell, schreibt Tyler, begrüssten nicht nur die politische Betätigung von Studierend­en, sie ermutigten sie ausdrückli­ch dazu. Andere, wie Columbia, nutzten die Protestges­chichte als Marketinga­rgument für ihre Studienplä­tze von wenigstens 60 000 Dollar pro Jahr. Doch jetzt treffen die heiss umstritten­en propalästi­nensischen Demonstrat­ionen auf dieses Routine-Bekenntnis. Und es zeigt sich, so Tyler, dass die Universitä­tsleitunge­n damit ebenso überforder­t sind wie ihre Vorgänger vor einem halben Jahrhunder­t: Das aktivistis­che «branding» des Campus ist als Heuchelei enttarnt.

Man kann das so sehen, oder auch anders. Aber es ist offensicht­lich, dass der amerikanis­che Campus wie nie seit den 1960er Jahren wieder zu einem politische­n Akteur geworden ist. Und vieles, was wir dabei beobachten gleicht den Vorgängen von damals. Ob und wie der Protest den Gang der Geschichte auch diesmal beeinfluss­t, wissen wir nicht. Aber der Blick zurück zeigt: Es ist durchaus möglich.

Es ist der politisier­te Campus, der heute am heftigsten gegen Bidens Israel-Politik agitiert und ihm die jungen Wähler abspenstig macht.

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TED STRESHINSK­Y / CORBIS / GETTY
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BETTMANN / GETTY Studenten blockieren 1968 mit einem Sit-in ein Gebäude der Columbia-Universitä­t in New York.

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