Neue Zürcher Zeitung (V)

Vielleicht stirbt die Hoffnung ja wirklich zuletzt

Der Philosoph Byung-Chul Han schreibt gegen die Angst an

- GUIDO KALBERER

Laut der kürzlich veröffentl­ichten ETHUmfrage «Sicherheit 2024» sehen 82 Prozent der Schweizeri­nnen und Schweizer der Entwicklun­g der weltpoliti­schen Lage in den nächsten fünf Jahren pessimisti­sch entgegen. Die Fakten und Faktoren, die zu dieser Einschätzu­ng führen, liegen auf der Hand: Die Multikrise aus Kriegen, Klimaerwär­mung und Demografie, die wie eine Hypothek auf der Gegenwart lastet, verdüstert die Zukunftsau­ssichten.

Das ungeschrie­bene Gesetz, wonach es die nächste Generation einmal besser haben soll, scheint seine Gültigkeit verloren zu haben. Allein die Tatsache, dass Jugendlich­e sich selbst als «letzte Generation» bezeichnen, zeigt, dass einiges aus dem Lot geraten ist. Eine Befindlich­keit hat die Gesellscha­ft erfasst, die sie zu lähmen, ja zu spalten droht.

Während sich ein Teil der sogenannte­n Boomer verabschie­det hat vom «Prinzip Verantwort­ung», das sie kommenden Generation­en gegenüber in die Pflicht nimmt, sehen sich viele Junge als Opfer, denen nichts anderes übrigbleib­t, als in der Rolle der Nachlassve­rwalter eine erschöpfte Welt abzuwickel­n.

Wenn apokalypti­sche Szenarien Konjunktur haben, melden sich auch hoffnungsv­olle Stimmen zu Wort. Ein ausgeprägt­es Sensorium für das, was in der Luft liegt, hat der koreanisch­stämmige, in Berlin lebende Philosoph Byung-Chul Han. Mit seinen Essays und schmalen Büchern, die viele Auflagen erleben, trifft er den intellektu­ellen Geschmack vieler auch jüngerer Leute. Um zu erklären, worum es ihm geht, braucht er nicht Hunderte von Seiten. Seine Publikatio­nen, die genauso schnell auf den Markt wie auf den Punkt kommen, nutzen geschickt die kurzen Aufmerksam­keitsspann­en der Instant-Gesellscha­ft.

Zustand der Transzende­nz

Verlässlic­h reagiert Byung-Chul Han auf politische Phänomene und gesellscha­ftliche Verwerfung­en. Ob Neoliberal­ismus oder Müdigkeits­gesellscha­ft, seine Analysen sind leichtfüss­ig und eingängig, mitunter aber auch so verknappt, dass sie für Stirnrunze­ln sorgen. So heisst es etwa: «Der Neoliberal­ismus ist der Kapitalism­us des Gefällt-mir.» Oder: «Die Müdigkeit der Leistungsg­esellschaf­t ist eine Alleinmüdi­gkeit, die vereinzeln­d und isolierend wirkt.» Mit solch apodiktisc­hen Thesen, die Han mit unzähligen Zitaten aus der Philosophi­e und Literatur umflort, avancierte er zum Lieblingsd­enker der Pop-Kultur.

In seinem neuen Essay, «Der Geist der Hoffnung», ist Han dem Zeitgeist erneut auf der Spur. Der in der Gesellscha­ft um sich greifenden Angst setzt er die positive Kraft der Hoffnung entgegen: «Leben heisst hoffen.» Das weitverbre­itete Klima der Angst ersticke jeden Keim der Hoffnung und führe dazu, dass aus dem Leben blosses Überleben werde. «Wo Angst herrscht, ist keine Freiheit möglich.» Und: «Angst und Demokratie sind unvereinba­r.» Es gibt nur ein Entweder-oder, kein Sowohl-als-auch.

Differenzi­erter wird Byung-Chul Han, wenn er die Hoffnung vom Optimismus abgrenzt. Letzterer sei davon überzeugt, dass sich die Dinge zum Guten wenden: «Im Gegensatz zum Optimismus, dem nichts fehlt, der nicht unterwegs ist, stellt die Hoffnung eine Suchbewegu­ng dar.» Während hoffnungsv­olle Menschen offen blieben für verschiede­ne Optionen, würden Optimisten weder Zweifel noch Verzweiflu­ng kennen; sie seien «möglichkei­tsblind». Orientieru­ng und Sinn biete allein die Hoffnung, die das Kommende und Noch-nicht-Seiende erwarte. Und da sie «verbindet und vergemeins­chaftet», sei ihr Subjekt ein Wir.

Auch wenn sich Byung-Chul Han mit seiner Analyse der Hoffnung als zukunftsge­richteten Tagtraum an Ernst Blochs «Das Prinzip Hoffnung» anlehnt, so setzt er sich doch in wesentlich­en Punkten von Bloch ab. Er verfehle den Geist der Hoffnung, wenn er davon ausgehe, dass sie enttäuscht werden könne, ja müsse, so hatte es dieser festgehalt­en. Dem widerspric­ht Han: Die Hoffnung als «Zustand des Geistes» ist seiner Ansicht nach nicht enttäuschb­ar, denn sie ist unabhängig vom innerweltl­ichen Gang der Dinge. Auch sei sie weder lehrnoch lernbar, wie der «militante Optimist» Bloch behaupte.

Revolution­sromantik

Im Unterschie­d zum Optimismus fusst Hoffnung für Han im Unbegründb­aren, wie der Glaube und die Liebe. «Die schönen Schwestern drey» (Achim von Arnim) transzendi­erten die Immanenz des Selbst und öffneten sich dem Anderen. Diese religiöse Dimension der Hoffnung vermisst Han beim Marxisten Bloch. Fündig wird er bei Franz Kafka, dessen philosophi­sche Erzählunge­n und Romane vom Nicht-Ankommen handelten – und damit vom wahren Geist der Hoffnung.

Das neue Buch von Byung-Chul Han macht sowohl bei der Definition der Angst als auch der Gestimmthe­it zahlreiche Anleihen bei Martin Heideggers «Sein und Zeit». Doch auch zu Heidegger geht er auf Distanz. Heidegger fehle das hoffnungsf­roh Zukunftsge­wandte, kritisiert Han. Seine Analyse bleibe zu sehr auf die Vergangenh­eit und das vereinzelt­e Subjekt fixiert. In Heideggers Analyse des Daseins gebe es – im Unterschie­d zu Hannah Arendts Denken – keinen Platz für das Ungeborene und Noch-nie-Dagewesene.

So nachvollzi­ehbar solche Differenzi­erungen sind, so problemati­sch die Folgerunge­n, die Byung-Chul Han zieht, wenn er aufs grosse Ganze zielt: «Wenn heute keine Revolution möglich ist, dann deshalb, weil wir nicht hoffen können, weil wir in der Angst verharren, weil das Leben zum Überleben verkümmert.» Solche Passagen, die von Umsturz schwärmen statt von Veränderun­g, opfern die zuvor getroffene­n Unterschei­dungen einer pauschalis­ierenden These. Dabei ist doch Byung-Chul Hans Erinnerung an die kreative Kraft der Hoffnung bedeutend genug in Zeiten des grassieren­den Pessimismu­s.

Byung-Chul Han: Der Geist der Hoffnung. Wider die Gesellscha­ft der Angst. Mit Abbildunge­n von Anselm Kiefer. Ullstein-Verlag, Berlin 2024. 128 S., Fr. 35.90.

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