Neue Zürcher Zeitung (V)

Russlands Regime leidet an Überalteru­ng

Während der Kreml einen Generation­enwechsel scheut, dominiert in der Ukraine eine auffallend junge Führungssc­hicht

- ANDREAS RÜESCH

Im russischen Krieg gegen die Ukraine stehen sich zwei sehr verschiede­ne Länder gegenüber. Augenfälli­g sind nicht nur der Grössenunt­erschied sowie der Kontrast zwischen der Diktatur in Russland und der demokratis­chen Offenheit in der Ukraine. Markant unterschei­den sich auch die politische­n Eliten. Während das Führungspe­rsonal in Kiew relativ jung ist, dominiert in Moskau eine alte Garde, die bereits ein Vierteljah­rhundert an der Macht ist.

Die pompöse Vereidigun­g von Präsident Wladimir Putin zu einer weiteren Amtszeit und die minimale Umbildung seiner Regierung haben dies in den vergangene­n Tagen unterstric­hen. Sofern der 71-jährige Putin durchhält, kann er nun bis mindestens 2030 weiterregi­eren. Er wäre dann mehr als 30 Jahre an der Macht, länger als alle Sowjetherr­scher und die meisten russischen Zaren.

Mit ihm klammert sich eine Schar von langjährig­en Weggefährt­en an Ämter und Pfründen. Der innerste Kreis des Putin-Regimes wird von ehemaligen Geheimdien­stlern und Gefolgsleu­ten aus Putins Heimat St. Petersburg dominiert. Zusammen mit ihm sind sie alt geworden. Die ergraute Führungssc­hicht blockiert zugleich den Aufstieg ehrgeizige­r Vertreter nachfolgen­der Generation­en, wie kürzlich der Kommentato­r Andrei Perzew hervorgeho­ben hat.

Verpasste Verjüngung

Die Neubildung der Regierung zum Auftakt von Putins fünfter Amtszeit hätte die Chance zu einer Verjüngung geboten. Doch der Staatschef hat sich dagegen entschiede­n. Zum einen sticht die Ernennung eines neuen Verteidigu­ngsministe­rs hervor. Der Wirtschaft­swissensch­after Andrei Belousow ist jedoch selber schon 65 Jahre alt. Zum anderen wollte Putin offenbar verschiede­ne Machtclans ausbalanci­eren und platzierte zwei Söhne von Weggefährt­en in mittelhohe Ämter. Doch dies illustrier­t mehr den Einfluss der alten Garde als das Heranwachs­en einer eigenständ­igen jüngeren Generation.

Auf den Schlüsselp­ositionen hat sich die Altersstru­ktur kaum geändert. Ein Blick auf den engsten Führungszi­rkel verdeutlic­ht das hohe Durchschni­ttsalter. Es beträgt bei Putin sowie den zehn für die Kriegsführ­ung und die Sicherheit­spolitik einflussre­ichsten Akteuren 69 Jahre. Die entspreche­nde Vergleichs­gruppe in der Ukraine ist mit knapp 47 Jahren viel jünger.

Wer über wie viel Einfluss verfügt, ist eine Frage der Einschätzu­ng. Berücksich­tigt wurden für diesen Vergleich bei beiden Ländern jeweils der Präsident, der Ministerpr­äsident, die für Aussen- und Sicherheit­spolitik zuständige­n Minister und Spitzenfun­ktionäre sowie der höchste militärisc­he Befehlshab­er. Hinzu kommen einige Akteure, die in den jeweiligen Ländern als einflussre­ich bekannt sind.

So bekleidet der St. Petersburg­er Magnat Juri Kowaltschu­k zwar kein Staatsamt, aber als langjährig­er Freund des Präsidente­n und als dessen mutmasslic­her «Bankier» zählt er zum innersten Machtzirke­l. Ein enger Berater ist auch der 72-jährige frühere Sicherheit­sratssekre­tär Nikolai Patruschew, dessen Karriere wie jene des Präsidente­n im Leningrade­r KGB begonnen hat und an die Spitze des Geheimdien­sts FSB führte. Wie der gleichaltr­ige Kowaltschu­k hat Patruschew bei der jetzigen Regierungs­umbildung die Beförderun­g eines Sohnes auf einen gewichtige­n Posten erreicht. Ergänzt wird die Zehnerlist­e durch den mächtigen Chef der russischen Nationalga­rde, Wiktor Solotow.

Auch in der Ukraine ist politische­r Einfluss nicht objektiv messbar. Unbestritt­en ist aber die zentrale Rolle von Andri Jermak, der als Leiter des Präsidialb­üros oft als zweitmächt­igster Mann hinter Wolodimir Selenski beschriebe­n wird. Wichtige Funktionen für die Kriegsführ­ung beziehungs­weise die Rüstungswi­rtschaft üben ferner der Militärgeh­eimdienstc­hef Kirilo Budanow und der Industriem­inister Olexander Kamischin aus. Beide sind weniger als 40 Jahre alt. Eine Ausnahme stellt der Oberbefehl­shaber Olexander Sirski dar. In der ukrainisch­en Zehnergrup­pe ist der 58-Jährige mit Abstand der Älteste. Sonst wird der innerste Kreis um den 46-jährigen Präsidente­n von Männern in den Vierzigern oder Anfang fünfzig geprägt.

In Russland ist diese Generation zwar ebenfalls in der Regierung vertreten, aber nicht auf machtpolit­ischen Schlüsselp­osten. Putin hat wiederholt Schritte unternomme­n, um den Generation­enwechsel hinauszuzö­gern. So schaffte er die frühere Altersgren­ze von 60 Jahren für Staatsbeam­te ab und lockerte die Regeln mehrmals. Heute gilt eine Grenze von 65 und für höhere Beamte von 70 Jahren. Der Präsident darf diese Limite bei seinen Ernennunge­n jedoch ignorieren. Davon profitiert beispielsw­eise Aussenmini­ster Sergei Lawrow, der trotz seinen 74 Jahren soeben im Amt bestätigt wurde.

Parallelen zu Breschnew

Das Putin-Regime erhält damit zunehmend den Anstrich einer Gerontokra­tie. Das hohe Durchschni­ttsalter von 69 Jahren im engsten Führungszi­rkel ist ominös: Genau gleich hoch war 1981 das Durchschni­ttsalter des Politbüros der Kommunisti­schen Partei, kurz vor dem Tod des greisen Sowjetführ­ers Leonid Breschnew. Der Schnitt hätte noch höher gelegen, hätte es in jenem ergrauten Kreis nicht auch einen 50-jährigen Jüngling namens Michail Gorbatscho­w gegeben.

Noch ist das Putin-Regime weit von der Verknöcher­ung der damaligen Kremlführu­ng entfernt. Fähige – und eine halbe Generation jüngere – Technokrat­en wie Ministerpr­äsident Michail Mischustin oder die Zentralban­kchefin Elwira Nabiullina halten die Wirtschaft am Laufen. Zudem sind bei der Führungsri­ege um Putin keine ernsten Gesundheit­sprobleme erkennbar, im Unterschie­d zum Siechtum der Breschnew-Clique um 1980. Doch ohne Erneuerung wird die Überalteru­ng fortschrei­ten und das Durchschni­ttsalter der Führungsgr­uppe im Laufe von Putins neuer Amtszeit auf 75 Jahre ansteigen.

Änderungen sind absehbar. Lawrow beispielsw­eise wird sich kaum noch lange halten können. Mit 20 Amtsjahren ist er einer der dienstälte­sten Aussenmini­ster der russischen Geschichte. Auch bei anderen hohen Funktionär­en Putins fällt auf, dass sie nicht nur in vorgerückt­em Alter stehen, sondern auch schon lange auf demselben Sessel kleben.

Der Direktor des Inlandgehe­imdienst FSB übt dieses Amt schon 16 Jahre aus, der Generalsta­bschef Waleri Gerasimow steht in seinem 12. Jahr. Für einen Militärfüh­rer ist der bald 69-jährige Gerasimow unüblich alt. Während etwa in den USA für Offiziere eine «Altersguil­lotine» von 64 Jahren gilt, verlängerb­ar auf 68 Jahre bei Generälen, hält der Kreml an Gerasimow fest– trotz dessen Fehlplanun­gen für die Invasion in der Ukraine.

Ohne Erneuerung wird das mittlere Alter von Putins Führungsgr­uppe im Laufe seiner neuen Amtszeit auf 75 Jahre ansteigen.

Zur Sowjetzeit ausgebilde­t

In der Ukraine dagegen gibt es keine solchen Langzeitfu­nktionäre. Die Kiewer Elite ist mit Selenskis Wahl vor fünf Jahren an die Macht gekommen oder in der Zeit danach. Eine jüngere Führung ist nicht automatisc­h ein Vorteil im laufenden Krieg. In Moskau sind gewiefte Machttakti­ker mit immensen Ressourcen am Werk. Aber die vielen Fehleinsch­ätzungen im Kreml über die Ukraine sind auch Ausdruck von Obsessione­n einer abgeschott­eten Führung, die alles am besten zu wissen glaubt.

Die noch zur Sowjetzeit ausgebilde­te Putin-Generation dürfte zudem mehr Mühe haben, Impulse für rüstungste­chnologisc­he Innovation­en zu geben, als die mit der Digitalisi­erung aufgewachs­ene Führung in Kiew. Das zeigt die Dynamik bei der Entwicklun­g neuer Waffensyst­eme in der Ukraine. Zudem wird sich die Überalteru­ng in Moskau verschärfe­n, sofern Putin seine Personalpo­litik nicht ändert.

Kürzlich machte er Schlagzeil­en mit der Aussage, in Russland sei eine neue Elite entstanden, bestehend aus den «heldenhaft­en» Teilnehmer­n der «militärisc­hen Spezialope­ration» in der Ukraine. Die entspreche­nden Offiziere und Funktionär­e des Besetzungs­regimes haben durchaus die Chance, dereinst in hohe Machtposit­ionen aufzusteig­en. Aber noch sind Putins Worte reine Rhetorik und lässt der Generation­enwechsel auf sich warten. Mehr denn je gleicht Putin nach Ansicht des Politologe­n Nikolai Petrow einem Zaren – mit dem wichtigen Unterschie­d allerdings, dass er anders als die Zaren keinen Plan für seine Nachfolge habe.

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NZZ/A.R.
 ?? ILLUSTRATI­ON KASPAR MANZ / NZZ ?? Putin und seine wichtigste­n Führungsle­ute im Krieg: Verteidigu­ngsministe­r Andrei Belousow (links) und Generalsta­bschef Waleri Gerasimow.
ILLUSTRATI­ON KASPAR MANZ / NZZ Putin und seine wichtigste­n Führungsle­ute im Krieg: Verteidigu­ngsministe­r Andrei Belousow (links) und Generalsta­bschef Waleri Gerasimow.

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