Neue Zürcher Zeitung (V)

Musste Martha Nathan den Hodler aus Not verkaufen?

Eine Kommission klärt die Ansprüche an Hodlers «Thunersee». Das Gemälde gehörte einer Jüdin, die vor dem NS-Regime floh

- PHILIPP MEIER

Ferdinand Hodlers «Thunersee mit Blüemlisal­p und Niesen», entstanden zwischen 1876 und 1882, befand sich einst im Besitz von Hugo Nathan, einem deutsch-jüdischen Bankier und Kunstsamml­er. Nathan (1861–1921) war Direktor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Seine Sammlung umfasste französisc­he Malerei, darunter Werke von Bonnard, Gauguin, van Gogh, Monet und Renoir, aber auch niederländ­ische, deutsche und Schweizer Kunst. Nach seinem Tod ging die Sammlung an seine Gemahlin Martha Nathan (1874–1958).

Martha Nathan war umsichtig. Bereits 1930 liess sie einen Grossteil ihrer Sammlung in die Schweiz nach Basel überführen. Nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatten, sah sie sich als Jüdin gezwungen, Deutschlan­d zu verlassen. Sie floh 1937 nach Paris, wo sie die französisc­he Staatsbürg­erschaft erhielt. Dort verlor sie infolge der Besetzung durch die Nazis einen Teil ihres Besitzes, darunter auch viele Kunstwerke.

1938 kehrte Martha Nathan für kurze Zeit nach Deutschlan­d zurück, um ihr Haus zu verkaufen. Vom NSRegime wurde sie gezwungen, sechs Gemälde

aus ihrer Sammlung dem StädelMuse­um in Frankfurt abzutreten. 1939 floh sie in die Schweiz, wo sie 1958 in Genf verstarb.

Rettung Schweiz

Unter den Gemälden, die in die Schweiz gerettet werden konnten, befand sich auch Hodlers «Thunersee». Hugo Nathan dürfte das Werk 1910 erworben haben. Hodler feierte in Deutschlan­d wiederholt Erfolge. Zur Frankfurte­r Hodler-Ausstellun­g von 1911 beschrieb ein Kunstkriti­ker das Werk enthusiast­isch als «ein grösseres

Bild von Niesen und Thuner See, das wohl eine der stärksten Überraschu­ngen dieser Ausstellun­g bildet».

Das Bild ist in zart-dunstigen Blautönen gehalten. Es zeigt im Vordergrun­d den Thunersee und im Hintergrun­d die Gebirgsket­te mit Blüemlisal­p und Niesen. Die rhythmisch gestaffelt­en Wolken und die parallelen Linien auf der Wasserfläc­he sollen im Zug einer nachträgli­chen Überarbeit­ung entstanden sein. Am unteren rechten Bildrand befindet sich die Signatur «1876. F. Hodler».

Was mit dem Werk in der Zeit von den dreissiger bis Anfang der achtziger Jahre geschah, ist unklar. In den achtziger Jahren jedenfalls gelangte es in den Besitz des Schweizer Kunsthändl­ers Peter Nathan. Dieser war kein Verwandter der Nathans aus Frankfurt. Er wurde 1925 geboren als Sohn des Kunsthändl­ers Fritz Nathan in München. 1936 emigrierte die Familie nach St. Gallen, 1951 zog sie nach Zürich.

Das Hodler-Bild wurde 1998 beim Auktionsha­us Sotheby’s in Zürich eingeliefe­rt, wo es der Winterthur­er Immobilien­unternehme­r Bruno Stefanini ersteigert­e. Stefanini, Gründer der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), sammelte Schweizer Kunst und unzählige historisch­e Objekte. Die Sammlung umfasst schätzungs­weise 100 000 Positionen.

Warum hatte sich Martha Nathan von dem Hodler-Werk getrennt? Musste sie es verkaufen, um im Exil ihren Lebensunte­rhalt zu finanziere­n? Eine vom Stiftungsr­at der SKKG eingesetzt­e unabhängig­e Kommission untersucht nun, ob im Fall von Hodlers «Thunersee» ein durch NS-Verfolgung bedingter Entzug vorliegt und ob Ansprüche von Rechtsnach­folgern der ehemaligen Eigentümer­in bestehen.

Die Kommission der SKKG wahrt dabei Unabhängig­keit und Unparteili­chkeit. Sie orientiert sich an den Richtlinie­n der Washington­er Konferenz von 1998 sowie der Erklärung von Terezin von 2009. Das bedeutet, dass die Kommission im Fall eines durch NS-Verfolgung bedingten Entzugs und des genügenden Nachweises der Rechtsnach­folge über eine bedingungs­lose Rückgabe des Werks oder eine andere gerechte und faire Lösung entscheide­t. Die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte hat sich ihrerseits verpflicht­et, die Entscheidu­ngen der Unabhängig­en Kommission der SKKG als verbindlic­h anzuerkenn­en und umzusetzen.

Nathans Monet bei Bührle

Auch in der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich gibt es ein Bild aus der ehemaligen Kunstkolle­ktion Hugo Nathans. Es handelt sich dabei um «Das Nachtessen» von Claude Monet. Entstanden 1868/69, gelangte es 1913 in Nathans Besitz. Ab 1930 befand es sich zusammen mit weiteren Werken der Sammlung Nathan im Depot der Kunsthalle Basel. In Martha Nathans Eigentum dürfte es bis 1938 gewesen sein. 1944 tauchte es bei der Zürcher Galerie Aktuaryus auf, wo es Emil Bührle im selben Jahr für 28 000 Franken kaufte. Das Bild könnte Gegenstand der neuen Strategie des Kunsthause­s Zürich sein. Diese sieht vor, Werke aus jüdischem Vorbesitz genauer zu untersuche­n.

Die Erben der Familie Nathan hatten sich wiederholt um Restitutio­n von Werken aus der Sammlung ihrer Vorfahren bemüht. Auf der Lost-Art-Datenbank liessen sie nicht weniger als 116 Kunstwerke registrier­en. 2022 war Gustave Courbets Gemälde «La pauvresse de village» (Die Dorfarme) aus ehemaligem Nathan-Eigentum Gegenstand eines Vergleichs mit den Nachkommen.

Ein Gemälde von Paul Gauguin, das Martha Nathan 1938 verkauft hatte, gelangte später in das Toledo Museum of Art. Der Versuch, das Bild zurückzuer­halten, war erfolglos. Im selben Jahr trennte sich Martha Nathan auch von einem Gemälde von Vincent van Gogh. 1969 wurde es vom Detroit Institute of Art erworben. 2004 kontaktier­ten die Nachfahren das amerikanis­che Museum, nachdem sie das Bild auf dessen Website entdeckt hatten.

Die Kunstinsti­tution in Detroit wies die Anfrage um Restitutio­n mit dem Argument der Verjährung zurück. Ob der Winterthur­er Fall mit Hodlers «Thunersee» nun für die Erben günstiger verlaufen wird, muss sich erst noch zeigen.

 ?? PD ?? Ferdinand Hodler: «Thunersee mit Blüemlisal­p und Niesen», 1876–1882, Gemälde.
PD Ferdinand Hodler: «Thunersee mit Blüemlisal­p und Niesen», 1876–1882, Gemälde.

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