Musste Martha Nathan den Hodler aus Not verkaufen?
Eine Kommission klärt die Ansprüche an Hodlers «Thunersee». Das Gemälde gehörte einer Jüdin, die vor dem NS-Regime floh
Ferdinand Hodlers «Thunersee mit Blüemlisalp und Niesen», entstanden zwischen 1876 und 1882, befand sich einst im Besitz von Hugo Nathan, einem deutsch-jüdischen Bankier und Kunstsammler. Nathan (1861–1921) war Direktor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Seine Sammlung umfasste französische Malerei, darunter Werke von Bonnard, Gauguin, van Gogh, Monet und Renoir, aber auch niederländische, deutsche und Schweizer Kunst. Nach seinem Tod ging die Sammlung an seine Gemahlin Martha Nathan (1874–1958).
Martha Nathan war umsichtig. Bereits 1930 liess sie einen Grossteil ihrer Sammlung in die Schweiz nach Basel überführen. Nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatten, sah sie sich als Jüdin gezwungen, Deutschland zu verlassen. Sie floh 1937 nach Paris, wo sie die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Dort verlor sie infolge der Besetzung durch die Nazis einen Teil ihres Besitzes, darunter auch viele Kunstwerke.
1938 kehrte Martha Nathan für kurze Zeit nach Deutschland zurück, um ihr Haus zu verkaufen. Vom NSRegime wurde sie gezwungen, sechs Gemälde
aus ihrer Sammlung dem StädelMuseum in Frankfurt abzutreten. 1939 floh sie in die Schweiz, wo sie 1958 in Genf verstarb.
Rettung Schweiz
Unter den Gemälden, die in die Schweiz gerettet werden konnten, befand sich auch Hodlers «Thunersee». Hugo Nathan dürfte das Werk 1910 erworben haben. Hodler feierte in Deutschland wiederholt Erfolge. Zur Frankfurter Hodler-Ausstellung von 1911 beschrieb ein Kunstkritiker das Werk enthusiastisch als «ein grösseres
Bild von Niesen und Thuner See, das wohl eine der stärksten Überraschungen dieser Ausstellung bildet».
Das Bild ist in zart-dunstigen Blautönen gehalten. Es zeigt im Vordergrund den Thunersee und im Hintergrund die Gebirgskette mit Blüemlisalp und Niesen. Die rhythmisch gestaffelten Wolken und die parallelen Linien auf der Wasserfläche sollen im Zug einer nachträglichen Überarbeitung entstanden sein. Am unteren rechten Bildrand befindet sich die Signatur «1876. F. Hodler».
Was mit dem Werk in der Zeit von den dreissiger bis Anfang der achtziger Jahre geschah, ist unklar. In den achtziger Jahren jedenfalls gelangte es in den Besitz des Schweizer Kunsthändlers Peter Nathan. Dieser war kein Verwandter der Nathans aus Frankfurt. Er wurde 1925 geboren als Sohn des Kunsthändlers Fritz Nathan in München. 1936 emigrierte die Familie nach St. Gallen, 1951 zog sie nach Zürich.
Das Hodler-Bild wurde 1998 beim Auktionshaus Sotheby’s in Zürich eingeliefert, wo es der Winterthurer Immobilienunternehmer Bruno Stefanini ersteigerte. Stefanini, Gründer der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), sammelte Schweizer Kunst und unzählige historische Objekte. Die Sammlung umfasst schätzungsweise 100 000 Positionen.
Warum hatte sich Martha Nathan von dem Hodler-Werk getrennt? Musste sie es verkaufen, um im Exil ihren Lebensunterhalt zu finanzieren? Eine vom Stiftungsrat der SKKG eingesetzte unabhängige Kommission untersucht nun, ob im Fall von Hodlers «Thunersee» ein durch NS-Verfolgung bedingter Entzug vorliegt und ob Ansprüche von Rechtsnachfolgern der ehemaligen Eigentümerin bestehen.
Die Kommission der SKKG wahrt dabei Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Sie orientiert sich an den Richtlinien der Washingtoner Konferenz von 1998 sowie der Erklärung von Terezin von 2009. Das bedeutet, dass die Kommission im Fall eines durch NS-Verfolgung bedingten Entzugs und des genügenden Nachweises der Rechtsnachfolge über eine bedingungslose Rückgabe des Werks oder eine andere gerechte und faire Lösung entscheidet. Die Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte hat sich ihrerseits verpflichtet, die Entscheidungen der Unabhängigen Kommission der SKKG als verbindlich anzuerkennen und umzusetzen.
Nathans Monet bei Bührle
Auch in der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich gibt es ein Bild aus der ehemaligen Kunstkollektion Hugo Nathans. Es handelt sich dabei um «Das Nachtessen» von Claude Monet. Entstanden 1868/69, gelangte es 1913 in Nathans Besitz. Ab 1930 befand es sich zusammen mit weiteren Werken der Sammlung Nathan im Depot der Kunsthalle Basel. In Martha Nathans Eigentum dürfte es bis 1938 gewesen sein. 1944 tauchte es bei der Zürcher Galerie Aktuaryus auf, wo es Emil Bührle im selben Jahr für 28 000 Franken kaufte. Das Bild könnte Gegenstand der neuen Strategie des Kunsthauses Zürich sein. Diese sieht vor, Werke aus jüdischem Vorbesitz genauer zu untersuchen.
Die Erben der Familie Nathan hatten sich wiederholt um Restitution von Werken aus der Sammlung ihrer Vorfahren bemüht. Auf der Lost-Art-Datenbank liessen sie nicht weniger als 116 Kunstwerke registrieren. 2022 war Gustave Courbets Gemälde «La pauvresse de village» (Die Dorfarme) aus ehemaligem Nathan-Eigentum Gegenstand eines Vergleichs mit den Nachkommen.
Ein Gemälde von Paul Gauguin, das Martha Nathan 1938 verkauft hatte, gelangte später in das Toledo Museum of Art. Der Versuch, das Bild zurückzuerhalten, war erfolglos. Im selben Jahr trennte sich Martha Nathan auch von einem Gemälde von Vincent van Gogh. 1969 wurde es vom Detroit Institute of Art erworben. 2004 kontaktierten die Nachfahren das amerikanische Museum, nachdem sie das Bild auf dessen Website entdeckt hatten.
Die Kunstinstitution in Detroit wies die Anfrage um Restitution mit dem Argument der Verjährung zurück. Ob der Winterthurer Fall mit Hodlers «Thunersee» nun für die Erben günstiger verlaufen wird, muss sich erst noch zeigen.