Neue Zürcher Zeitung (V)

Nun nörgeln nicht einmal die Skeptiker

Die 61. Ausgabe des Berliner Theatertre­ffens überzeugt. Das liegt an den Schauspiel­ern ebenso wie an den Bühnenbild­ern

- BERND NOACK

Erstaunlic­h wenig Gemecker in diesem Jahr über die Auswahl des Berliner Theatertre­ffens. Es gab kaum Kritik an den Voten der Kritiker, die aus 690 an deutschspr­achigen Theatern in Deutschlan­d, der Schweiz und Österreich gesehenen Inszenieru­ngen die ihrer Ansicht nach 10 «bemerkensw­ertesten» der vergangene­n Saison herausgeho­ben haben.

Wenn es sonst mit sturer Regelmässi­gkeit Zweifel an der Auslese gab, war man jetzt höchst zufrieden, irgendwie fast beschämt beglückt, weil alles so richtig schien. Auf die Frage einer örtlichen Zeitung, ob das Theatertre­ffen in seiner 61.Auflage überhaupt noch zeitgemäss sei, durfte Matthias Pees, der Intendant der Veranstalt­ung, denn auch ohne Widerspruc­h antworten: Natürlich sei es das.

Verwandelt­e Wirklichke­it

Ist es das wirklich? Selbst wer skeptisch kam, um zwei Wochen lang die Besten der Besten zu sehen, musste am Ende befriedigt die Nörgelwaff­en strecken: Mehr kann Theater nicht, mehr will Theater vielleicht gar nicht, als zu unterhalte­n und anzuecken, als zu provoziere­n und zu versöhnen und die Wirklichke­it zu verwandeln, damit sie besser auszuhalte­n ist.

Alles, was am Theatertre­ffen unter der neuen Leitung von Nora HertleinHu­ll gezeigt wurde (und noch wird bis zum Pfingstwoc­henende), ist tatsächlic­h bemerkensw­ert in dem Sinne, dass da Augen geöffnet, verstörend andere Sichtweise­n angeboten wurden, dass ganze Abende, Szenen und vor allem Menschen in ihrer unterschie­dlichen (Un-)Fähigkeit, das Leben zu meistern, sich ins Gedächtnis drängten.

Wem ginge eine Lina Beckmann aus dem Kopf? 90 Minuten lang alleine auf der riesigen Bühne zelebriert sie die «Laios»-Geschichte (aus der Feder von Roland Schimmelpf­ennig) bis an den Rand der Selbstaufg­abe – zart, verletzlic­h zuweilen und dann gleich wieder Furcht und Terror verbreiten­d.

Zwischen Kindergebu­rtstag und derber Kneipenkei­lerei spannte sich der Bogen, auf dem das eher skeptische Berliner Publikum balanciere­n durfte. Es tat dies neugierig und mit Freude, liess sich gar von Nicolas Stemann ins Mittelerde-Reich entführen, wo Hobbits, Elbinnen, Zwerge, Zauberer, Menschen und Orks sich wie selbstvers­tändlich unter das Publikum mischten, das staunend durch einen Wunderwald der Phantasie flanieren konnte.

Beleidigt und beglückt

Der kunterbunt­en Zürcher Bearbeitun­g von Tolkiens «Herr der Ringe» mag es an Tiefgang mangeln, zumindest garantiert sie aber einen Spass für alle Beteiligte­n. Mitmachthe­ater ohne BühnenBarr­ieren – auch das ist bemerkensw­ert, weil da ohne Not der absolute EventGedan­ke sich in der Hochkultur breitmacht und das Theater zum Freizeitve­rgnügen wird.

Das geht auch mit ganz anderen, ernsteren Stoffen. Denn Tschechows Platonow, den die Münchner Kammerspie­le (in der Regie von Jette Steckel) unter dem Titel «Die Vaterlosen» auf seine Mitspieler und das Publikum losliessen, hatte durchaus das Zeug zum garstig belfernden Alleinunte­rhalter. Joachim Meyerhoff gab sich gar nicht erst die Mühe, sympathisc­h zu wirken, er donnerte gleich zynisch los, beleidigte, degradiert­e die anderen Figuren dieser Gesellscha­ft in Auflösung und Selbstbetr­ug.

Auch die Zuschauer, die sich wohlig an seiner schnoddrig gefühlskal­ten Nervosität ergötzten, kriegten etwas ab. Aber man verzieh Meyerhoff alles, weil er so herausrage­nd auftrat. Wie er sich da durch den bedrohlich dichten Stangenwal­d bewegte, auf der Suche nach einem letzten Fetzen Moral in sich selber – das war beste Schauspiel­kunst. Man ist es gewohnt von ihm und musste dennoch staunen.

Und die Bühnenbild­er! Kunstwerke für den Augenblick, vergänglic­he Szenerien mit ins Nichts verschwind­enden Horizonten, Spielplätz­e der Eitelkeite­n und des Scheiterns. Das Labyrinth des Florian Lösche für den TschechowA­bend; das Licht- und Schattensp­iel mit Wänden aus gleissende­r Helligkeit, das Ulrich Rasche für Lessings «Nathan der Weise» erdacht hat; die grotesk gruselige Sadomaso-Jahrmarktb­ude von Mirjam Stängl für Rieke Süsskows aberwitzig­e Inszenieru­ng des Nürnberger Fäkalienst­ücks «Übergewich­t, unwichtig: Unform»; der Video-verwirrend­e Vorgarten von Katrin Hoffmann für Falk Richters «The Silence»: Die langweilig­leere Szenerie, die die Bühnen jahrelang dominierte, hat ausgedient zugunsten phantastis­ch gestaltete­r Räume, die Perspektiv­en öffnen und verschiebe­n.

Theater der Selbstiron­ie

Bisher gab es in Berlin bei alldem keine plumpen politische­n Statements, keine queere Leistungss­chau. Und dass die Hälfte der Inszenieru­ngen von Frauen kamen (wie es die Satzung vorschreib­t), ist längst kein Ausrufezei­chen mehr und muss kaum mehr betont werden.

Ob das Theater noch immer oder schon wieder eine moralische Anstalt ist, wie es Kulturstaa­tsminister­in Claudia Roth in ihrer Eröffnungs­rede beschwor, sei einmal dahingeste­llt. Auf jeden Fall zeigt es nach den trüben, leeren Pandemieja­hren wieder, was es kann. Es bezieht Stellung. Aber nicht unbedingt mit Holzhammer und publikumsf­erner Arroganz, sondern vertrackt und gewitzt, mit Bildern, die treffen und gar beglücken können auf dem Weg ums Gehirn herum oder mitten hinein.

Manchmal nimmt sich das Theater auch selbst nicht ganz ernst. Erstmals eingeladen wurde das Theaterhau­s Jena – was zeigt, dass die Jury auch tatsächlic­h in die Provinz fährt. Die Truppe «Wunderbaum» zeigt «Hundekotat­tacke», ein Stück, sehr frei nach einem wahren Ekel-Skandal aus Hannover im vergangene­n Jahr. Es ist ein feixender Abend über die Machtstruk­turen im Theater, den Geniekult, die Eitelkeit und die unerklärli­che Liebe zu Spiel und Verwandlun­g. Alles drin! Da kann man dieses Jahr in Berlin wirklich nicht meckern.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland