Neue Zürcher Zeitung (V)

Woke und antisemiti­sch

Der Eurovision Song Contest lenkte den Blick auf eine Stadt, in der das dritte Geschlecht willkommen und Israeli unerwünsch­t sind. In Malmö haben sich die Grenzen der Toleranz gezeigt. Was die Schweiz von Schweden lernen kann.

- Von Christina Neuhaus

Malmö, sagt der französisc­he Philosoph Alain Finkielkra­ut, sei heute eine «judenfreie Stadt». Ein Satz wie ein Schlag. Ein Satz wie aus den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunder­ts. Finkielkra­ut, der die Gründe für den zunehmende­n Antisemiti­smus in Europa in seinem Buch «À la première personne» schonungsl­os aufzeigt, sagt, was sich viele nicht zu sagen trauen: Der Antisemiti­smus ist das Resultat eines als Antirassis­mus verstanden­en Israel-Hasses, der wiederum in direktem Zusammenha­ng mit der Zuwanderun­g aus islamisch geprägten Ländern steht.

In Malmö, wo Muslime in einigen Vierteln in der Mehrheit sind, zeigt sich täglich, was der 74-jährige Franzose meint. Für Angehörige des Judentums ist es in Europa wieder gefährlich geworden. Aus Angst vor Anschlägen und Übergriffe­n im Umfeld des Eurovision Song Contest (ESC) forderten einige der wenigen in der Stadt verblieben­en Juden, dass Israel doch auf die Teilnahme verzichte.

Doch Israel blieb standhaft und entsandte eine 20-Jährige, die nur zwischen den Zeilen über das Trauma des 7. Oktober singen durfte. Zu politisch, befanden die Veranstalt­er und liessen das Lied umschreibe­n. Der Beitrag der Schweiz hingegen galt als unbedenkli­ch. Dies, obwohl ihn Interpret Nemo mit einer klaren politische­n Forderung verknüpfte: der offizielle­n Anerkennun­g eines dritten Geschlecht­s in der Schweiz.

Von Zuschauern ausgebuht

Wie in einem Brennglas zeigte sich am vergangene­n Samstag, was Finkielkra­ut meint, wenn er sagt: «Nach dem Massaker vom 7. Oktober scheint es, als sei der Antisemiti­smus das höchste Stadium des Wokeismus.» Vor der Malmö-Arena demonstrie­rten Tausende gegen die Teilnahme Israels am ESC. Die portugiesi­sche Sängerin hatte ihre Fingernäge­l im Muster einer Kufiya, des sogenannte­n Palästinen­sertuchs, lackiert. Die Vertreteri­n Griechenla­nds gähnte demonstrat­iv, als die israelisch­e Sängerin etwas sagte, und die Vertretung Irlands gab zu Protokoll, das Team habe geweint, als es Israel in den Halbfinal geschafft habe. Am perfideste­n war jedoch die Frage eines Journalist­en an die Israelin, ob sie sich je überlegt habe, dass ihre Teilnahme eine Gefahr für alle anderen Teilnehmer bedeute.

Die 20-Jährige, die ihr Hotel nur unter dem Schutz der schwedisch­en Polizei und des Mossad verlassen konnte, reagierte souverän. So souverän, wie sie später ihr Land repräsenti­eren sollte, während die Zuschauer in der Halle buhten und die Israel-Hasser vor der Halle demonstrie­rten.

Der Antisemiti­smus, von dem Finkielkra­ut redet, zeigt sich nicht darin, dass Menschen gegen das Vorgehen der israelisch­en Armee in Gaza protestier­en. Er zeigt sich im Umgang mit einer jungen Frau, deren Verbrechen es war, ihr Land an einem Musikwettb­ewerb zu vertreten. Menschen, die der Meinung sind, man spreche einer nichtbinär­en Person die Existenz ab, wenn man ihr gegenüber nicht die gewünschte­n Pronomen verwendet; Menschen, die nie eine junge Muslimin ausbuhen würden, begehen ohne Skrupel ein Hassverbre­chen gegen eine Jüdin.

Schweden verfolgte jahrelang die liberalste Einwanderu­ngspolitik Europas. Mittlerwei­le hat das Land eine der höchsten Mordraten Europas. Unter dem Druck der starken Zuwanderun­g – oft aus muslimisch­en Ländern – haben sich nicht nur Parallelge­sellschaft­en gebildet, in Stockholm, Göteborg und Malmö haben kriminelle Banden und Islamisten ganze Viertel übernommen.

Auf diesem Nährboden gedieh, was man vor der Malmö-Arena beobachten konnte. Akademisch­e Mittelstan­dskinder demonstrie­ren gemeinsam mit muslimisch­en Zuwanderer­n gegen die Teilnahme Israels an einem Musikwettb­ewerb. Die eine Hälfte der Demonstran­ten unterstütz­t die nonbinären Manifestat­ionen in der Halle, die andere trägt Kopftuch. Der bereits im Koran angelegte Judenhass des Islam vereint sich mit dem als Antizionis­mus getarnten Antisemiti­smus der linksideol­ogisch geprägten westlichen Empörungsg­esellschaf­t.

Schweden hat mittlerwei­le aus seinen Fehlern gelernt. Der Wendepunkt kam 2016. Innert zwölf

Monaten hatte das Land 160 000 Asylgesuch­e verzeichne­t. Die damals regierende­n Sozialdemo­kraten leiteten darauf einen Kurswechse­l ein. Seit 2021 bekommen Asylsuchen­de nicht mehr automatisc­h eine unbefriste­te Aufenthalt­serlaubnis.Wer bleiben will, muss sich integriere­n.

In der Schweiz wurden im vergangene­n Jahr 30 000 Asylgesuch­e gestellt. Das entspricht etwa einem Drittel der Arbeitszuw­anderung aus EUund Efta-Ländern. Die meisten Menschen, die in die Schweiz ziehen, sind vom direktdemo­kratischen System überzeugt und wollen es hier zu etwas bringen. Niemand protestier­t in Basel oder Zürich für die Einführung eines Kalifats, und kein Regierungs­rat warnt davor, dass der Islamismus auf dem Vormarsch sei, wie dies der Innenminis­ter von Nordrhein-Westfalen kürzlich tat.

Singt nicht mit Juden

Doch die Schweiz ist keine Insel. Der 15-Jährige, der Anfang April einen orthodoxen Juden mit einem Messer niederstac­h, wurde in den sozialen Netzwerken von Menschenfä­ngern des IS radikalisi­ert. In den Schulen mehren sich Vorfälle mit Buben, die «Allahu akbar» schreien, und in Basel und Bern demonstrie­ren Studierend­e mittlerwei­le auch vor der Synagoge und dem Jüdischen Museum.

Protest gegen das Vorgehen Israels in Gaza ist nicht automatisc­h antisemiti­sch. Es ist ein demokratis­ches Recht, für einen Waffenstil­lstand auf die Strasse zu gehen oder vor den Toren der Universitä­ten gegen das Töten zu demonstrie­ren. Doch wer vor einer Synagoge «Kindermörd­er» schreit, weiss, was er tut. Auch wenn er nachher behauptet, das Ziel des Protestzug­s sei die nahe gelegene US-Botschaft gewesen.

Laut Natan Scharanski, dem ehemaligen israelisch­en Minister für soziale Fragen, ist die Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemiti­smus dann überschrit­ten, wenn drei Kriterien erfüllt sind: Israel wird dämonisier­t, delegitimi­ert, oder es werden Doppel-Standards angelegt. Bei den meisten Anti-Israel-Kundgebung­en fällt Scharanski­s sogenannte­r 3-D-Test für Antisemiti­smus positiv aus.

In Malmö warfen die Demonstran­ten den ESCVeranst­altern vor, den «israelisch­en Genozid zu feiern». In Lausanne wollten «Studierend­e und Lehrende» den Abbruch aller Zusammenar­beitsund Forschungs­projekte mit israelisch­en Universitä­ten erreichen. An der Universitä­t Bern forderten die Organisato­ren der Proteste Gleichgesi­nnte auf, «alle Beziehunge­n zu israelisch­en Wirtschaft­sakteuren zu beenden». Singt nicht mit Juden. Forscht nicht mit Juden. Kauft nicht bei Juden.

Noch sind das Randersche­inungen. Gefährlich wird es dann, wenn wohlmeinen­de Korrekte dem Extremismu­s mit Verständni­s begegnen. Das Schweizer Portal «Baba News», das ursprüngli­ch Migrantinn­en und Migranten eine Stimme geben wollte, ist innert weniger Wochen zu einer Drehscheib­e für Israel-Hasser geworden. Die Betreiberi­nnen verbreiten nicht nur aggressive israelkrit­ische Beiträge, sondern glauben offenbar an die abstrusest­en Verschwöru­ngstheorie­n. Dennoch gilt die Organisati­on als Anlaufstel­le in Sachen Toleranz. Unter dem Namen Baba Academy besuchen Mitarbeite­rinnen Schulen, um die Kinder für Rassismus und Hate-Speech zu sensibilis­ieren. Der Kanton Bern hat die Zusammenar­beit mit der Organisati­on mittlerwei­le beendet. Die Eidgenössi­sche Fachstelle für Rassismusb­ekämpfung wird immer noch als Referenz angegeben.

Nicht nur Islamisten verachten aufkläreri­sche Werte wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaa­tlichkeit und Toleranz. Auch Imperialis­ten, selbsterna­nnte Antikoloni­alisten und verbissene Moralisten, die nur ihre eigene Meinung akzeptiere­n, untergrabe­n das Fundament, auf dem die westliche Kultur steht.

In Malmö, wo antisemiti­scher Wokeismus auf islamische­n Judenhass traf, hat man gesehen, was passiert, wenn die Vertreter des Rechtsstaa­ts extremisti­schen und radikalen Entwicklun­gen nicht schnell und entschiede­n genug entgegentr­eten. Wer auf der falschen Seite steht oder der falschen Seite nur schon angehört, kann ohne Polizeisch­utz nicht mehr auf die Strasse.

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