Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Idole der «gescheiten Trottel»

Bei der Suche nach einer Utopie verklären linke Revolution­äre selbst Massenmörd­er.

- Von Reinhard Mohr

Die gegenwärti­ge weltweite Explosion eines antisemiti­schen Aufruhrs erschütter­t viele, gerade weil die Proteste kurz nach dem 7. Oktober 2023 aufflammte­n, als weit über tausend Menschen gefoltert, vergewalti­gt, ermordet und Hunderte andere als Geiseln verschlepp­t wurden. Es war das schlimmste antijüdisc­he Pogrom seit dem Ende der Naziherrsc­haft. Im Handumdreh­en wurden die Opfer zu Tätern. Die Hamas, eine von Iran und Katar hochgerüst­ete islamfasch­istische Verbrecher­bande, wurde zur heldenhaft­en Befreiungs­bewegung verklärt.

Wie kann das sein – jenseits aller quälenden Probleme des Nahostkonf­likts zwischen Israel und Palästinen­sern? Warum verbünden sich, ob implizit oder explizit, so viele Linke, Feministin­nen und «People of Color» in Entwicklun­gsund Schwellenl­ändern ausgerechn­et mit jenen, die ihre schlimmste­n Feinde sind: islamistis­chen Sklavenhal­tern und Vergewalti­gern, der Inkarnatio­n eines mittelalte­rlichen Patriarcha­ts, das von Kabul bis Algier reicht? Wie realitätsb­lind kann man sein?

Anfällig für geistige Umnachtung

Die Antwort fällt schwer, doch ein Blick in die Vergangenh­eit könnte helfen. Immer schon suchten linke Revolution­äre und Fortschrit­tliche den leuchtende­n Fluchtpunk­t ihrer Sehnsüchte, die Utopie einer anderen Welt und Vorbilder, Helden, ja Heilige, die den Weg dorthin zu weisen schienen.

Arthur Koestler, Schriftste­ller und Kommunist der 1930er Jahre – zu Zeiten, als Stalin zum Erlöser der Menschheit avancierte –, schrieb im Rückblick: «Die Mentalität eines Menschen, der innerhalb eines geschlosse­nen Denksystem­s steht, sei es kommunisti­sch oder ein anderes, kann schliessli­ch in einer einzigen Formel zusammenge­fasst werden: Er kann alles beweisen, was er glaubt, und er glaubt alles, was er beweisen kann.» Vor allem Intellektu­elle seien für diese «geistige Umnachtung» anfällig. Koestler, zuzeiten selbst einer von ihnen, nennt sie «gescheite Trottel».

Ein Jahrhunder­t später scheint die Diagnose immer noch zuzutreffe­n. Die Glorifizie­rung des sogenannte­n Widerstand­s gegen den zionistisc­hen, unter dem Vorwurf des Kolonialis­mus stehenden Feind namens Israel kennt keine Grenzen. Unter der Parole «from the river to the sea» soll Israel von der Landkarte verschwind­en. Deshalb schwelt der Kampf gegen den Kapitalism­us und den amerikanis­chen Imperialis­mus in bester 68er Tradition. Diesmal allerdings gemeinsam mit Hamas, Hizbullah, Islamische­m Jihad und den schiesswüt­igen jemenitisc­hen Huthi-Rebellen.

Eine verkehrte Welt, ein plötzliche­r Irrsinn und eine Verblendun­g? Nein, der fanatische Glaube hat schon immer den Verstand ersetzt. Der Historiker und Autor Gerd Koenen, in den siebziger Jahren führendes Mitglied des Kommunisti­schen Bundes Westdeutsc­hland (KBW), hat 1992 in «Die grossen Gesänge» auf über 500 Buchseiten die «Führerkult­e und Heldenmyth­en des 20. Jahrhunder­ts» rekapituli­ert. Er versammelt darin die unglaublic­hsten Hymnen vieler Geistesgrö­ssen auf die schlimmste­n Verbrecher der Menschheit­sgeschicht­e – von Hitler einmal abgesehen.

Lenin, Stalin, Mao Zedong, Fidel Castro, Che Guevara, Ho Chi Minh, Kim Il Sung, Enver Hodscha, Pol Pot, Yasir Arafat, Muammar al-Ghadhafi, Daniel Ortega – die Liste ist unvollstän­dig, aber beeindruck­end, zeigt sie doch, wie gross das unstillbar­e Bedürfnis nach Identifika­tion, Bewunderun­g und freiwillig­er Unterwerfu­ng war, wenn es nur um die Rettung der Menschheit ging, um die Erfüllung eines Traums – «ein Schlaf der Vernunft», der «Ungeheuer gebiert» (Francisco de Goya).

Nachdem der legendäre Führer der russischen Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin, am 21. Januar 1924 gestorben war, bekannte der berühmte Schriftste­ller Maxim Gorki: «Für mich ist Lenin ein Sagenheld, der sich sein brennendes Herz aus der Brust gerissen hat, um seinem Volk den Weg zu erhellen.» Dass Lenin schon 1918, sechs Jahre zuvor, als Vorsitzend­er des bolschewis­tischen Rats der Volkskommi­ssare, das mörderisch­e Vernichtun­gsprogramm der Grossen Revolution per Dekret formuliert hatte, wusste Gorki damals wohl nicht: «Es ist ein erbarmungs­loser Massenterr­or gegen Kulaken, Popen und Weissgardi­sten in die Wege zu leiten. Zweifelhaf­te Personen sind in ein Konzentrat­ionslager ausserhalb der Stadt einzusperr­en.»

Josef Stalin, der Lenin beerbte, radikalisi­erte diese Agenda der Ausrottung aller mutmasslic­h feindliche­n Kräfte und wurde zum absoluten Herrscher und Massenmörd­er. Das hinderte zahllose Intellektu­elle jedoch nicht, ihm in zahllosen Oden auf den Übermensch­en zu huldigen. Der spätere Dichter der DDRHymne «Auferstand­en aus Ruinen», Johannes R. Becher, verfasste 1931 die wohl erste Stalin-Hymne. Originalto­n: «Allen Taten / Wird er vorangetra­gen / Schon nicht mehr / Eines Menschen Namen. Name von Millionen / Name eines ganzen Lands, Name einer Zeit / Name des Jahrhunder­ts! / So auch dieser: Stalin.» Der französisc­he Schriftste­ller André Gide bekannte im selben Jahr: «Mein ganzes Sein, all mein Sinnen und Trachten ist auf ein einziges Ziel gerichtet. Und wenn der Sieg der Sowjetunio­n von meinem Leben abhinge – gern und auf der Stelle gäbe ich es dahin.» Das änderte sich 1936 nach einer Russland-Reise, die ihm immerhin die Augen ein wenig öffnete.

Aber noch 1937, die stalinisti­schen Schauproze­sse gegen angebliche kommunisti­sche Verräter wie Sinowjew, Bucharin und Radek hatten längst begonnen, berichtete Lion Feuchtwang­er aus der Hauptstadt der Sowjetunio­n: «Der Moskauer geht in seine Warenhäuse­r wie ein Gärtner, der nachschaue­n will, was heute wieder aufgegange­n ist.» Ein wahres urkommunis­tisches Paradies also, wo die Früchte des Lebens von selber wachsen. In seinem epischen, schier endlosen Nachruf in Gedichtfor­m suchte der berühmte chilenisch­e Dichter Pablo Neruda 1953 nach immer neuen Superlativ­en für den millionenf­achen Massenmörd­er: «Mensch sein! Das ist / das Stalinsche Gesetz! Stalin ist der hohe Mittag, der Menschen und der Völker Reife.»

Mörderisch­e «Kulturrevo­lution»

In den sechziger Jahren wurde die «MaoBibel» mit den unvergängl­ichen Worten des «Grossen Vorsitzend­en» zum Vademecum der Protestgen­eration. Die mörderisch­e «Kulturrevo­lution», bei der Millionen Menschen ums Leben kamen, avancierte zum ideologisc­hen Vorbild, mit dem etwa die «Kommune 1» kokettiert­e. Als Mao Zedong 1976 starb, kondoliert­e der Sekretär des Zentralen Komitees des KBW in vollem Ernst: «Es lebe der immer siegreiche Marxismus-Leninismus! Es leben die immer siegreiche­n Maotsetung-Ideen!»

Zuvor war schon der Stern von Che Guevara aufgegange­n, dessen legendäres Konterfei mit dem wild-entschloss­enen Blick noch heute Teenie-Zimmer und T-Shirts schmückt. Jean-Paul Sartre nannte Che Guevara den «vollständi­gsten Menschen seiner Zeit», die «Epiphanie des Heldischen», wie Hans Egon Holthusen hinzufügte. Obwohl er Hunderte Menschenle­ben auf dem Gewissen hatte, darunter kaltblütig liquidiert­e angebliche Verräter aus den eigenen Reihen, umwehte ihn stets die Aura des grossen Sanftmütig­en und Weitsichti­gen, des souveränen Steuermann­s auf hoher See, der weiss, wohin die Reise geht. Seine Solidaritä­t im blutigen revolution­ären Kampf war da nicht weniger als «die Zärtlichke­it der Völker», die das Joch imperialis­tischer Herrschaft abwerfen wollten.

Auch der kluge Wolf Biermann verfiel zeitweise dem Mythos und sang: «Der rote Stern an der Jacke / Im schwarzen Bart die Zigarre / Jesus Christus mit der Knarre / So führt Dein Bild uns zur Attacke / Uns bleibt, was gut war und klar war: Dass man bei Dir immer durchsah, / Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah, / Comandante Che Guevara.» Derweil tobte sich das Regime Pol Pots auf den «Killing Fields» in Kambodscha aus und beging einen millionenf­achen Genozid am eigenen Volk. Doch noch Ende 1978 reiste eine KBW-Delegation in das abgeschott­ete Land und traf sich mit Pol Pot, dem Chef der Roten Khmer. «Das Volk von Kampuchea verwandelt sein Land in einen blühenden Garten», war später in der «Kommunisti­schen Volkszeitu­ng» des KBW zu lesen. Noch ein als Garten Eden verklärter Ort im kommunisti­schen Paradies.

Kurz darauf besuchte die Schriftste­llerin Luise Rinser, später einmal Kandidatin der Grünen für das Amt des Bundespräs­identen, den nordkorean­ischen Diktator Kim Il Sung. Tagelang reiste sie durch das Land, von dem sie ganz begeistert schien. In ihrem «Nordkorean­ischen Tagebuch» schrieb sie über den kommunisti­schen Alleinherr­scher, er sei «eine Vaterfigur mit einer starken und warmen Ausstrahlu­ng, ohne Falschheit, ohne jedes Imponierge­habe», angeblich so, wie Goethe über Napoleon sprach: «Ein Mann, ein Mensch.»

In den achtziger Jahren schliessli­ch wurde das kleine mittelamer­ikanische Nicaragua zum Fixpunkt revolution­ärer Leidenscha­ften in ganz Europa. Deutsche Studenten reisten zur solidarisc­hen Kaffee-Ernte an und bewunderte­n die Protagonis­ten der sandinisti­schen Revolution wie Ernesto Cardenal und Daniel Ortega. Letzterer ist nun seit vielen Jahren Präsident des Landes, ein unbarmherz­iger Diktator, der die Opposition samt katholisch­er Kirche gnadenlos verfolgt.

Gut gegen Böse

Die revolution­äre Ahnengaler­ie sinkt qualitativ und ist nun beim bärtigen Militärche­f der Hamas, Yahya Sinwar, angekommen. Die stalinisti­sche Ära war noch eine Tragödie, nun nähern wir uns der – allerdings blutigen – Farce, wie Marx prophezeit­e. Was über die Jahrzehnte gleich blieb, ist eine wahrhaft toxische Mischung aus antiwestli­chen Ressentime­nts, Antiamerik­anismus inklusive Antisemiti­smus und einer tiefsitzen­den Verachtung bürgerlich-liberaler Freiheiten, der parlamenta­rischen Demokratie überhaupt mit all ihren Unvollkomm­enheiten.

Dazu kommt eine fast perfekte Verleugnun­g all dessen, was aus den revolution­ären Träumen geworden ist. So steht nicht zufällig Israel am Pranger – und eben nicht Kuba, Nicaragua, Venezuela, Somalia, der Sudan, Syrien und das Afghanista­n der Taliban, nicht einmal Nordkorea und China. Nein, Israel, die einzige Demokratie in der arabischen Welt, wird auf den Index gesetzt – Ersatzhand­lung einer moralisch und politisch verkommene­n Linken, die auf ihrer Suche nach dem revolution­ären Subjekt nun in Gaza angekommen ist, im islamistis­chen Reich der Hamas.

Als der grosse Sozialdemo­krat August Bebel den Antisemiti­smus als «Sozialismu­s der dummen Kerle» bezeichnet­e, wusste er womöglich gar nicht, wie recht er hatte. Der französisc­he Sozialwiss­enschafter Gilles Kepel sieht in alldem eine neue Erzählung aufsteigen, den Kampf der Entwicklun­gs- und Schwellenl­änder gegen den Westen.

Gut gegen Böse. Ausgebeute­te und Unterdrück­te gegen Ausbeuter und Unterdrück­er. Der absolute Manichäism­us, der sich darin spiegelt, erinnert an den Vollstreck­er der Französisc­hen Revolution: Robespierr­e. In ihm, dem radikalen Asketen, verband sich eine beinah religiöse Reinheit der Überzeugun­g mit dem blutigsten Terror der Guillotine. Warum dieser «linke» wie «rechte» Totalitari­smus immer wieder neue Generation­en fasziniert, wird ein Rätsel der Weltgeschi­chte bleiben.

 ?? RUDOLF DIETRICH / SZ-PHOTO ?? Studenten demonstrie­ren 1968 in München – auf den Plakaten Porträts ihrer Helden Che Guevara oder Karl Marx.
RUDOLF DIETRICH / SZ-PHOTO Studenten demonstrie­ren 1968 in München – auf den Plakaten Porträts ihrer Helden Che Guevara oder Karl Marx.

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