Huckleberry Finn war schwarz
Percival Everett erzählt die Geschichte von Mark Twain neu. Der Roman ist revolutionär
Ein Roman, der die Erzähl- und Denkweise einer Epoche radikal umbaute: Lässt sich ein solches Werk in seinen kulturellen und historischen Anlagen noch einmal neu erzählen? Anders gefragt: Kann man ein Buch, das die zeitspezifischen Verhältnisse vom Kopf auf die Füsse stellte, von ebendiesen Füssen reissen und ihm eine neue Position im Diskurs der Gegenwart verschaffen?
Percival Everett ist es gelungen. Er hat einen der bedeutendsten Romane der amerikanischen Literatur, Mark Twains «Die Abenteuer des Huckleberry Finn» (1885), neu geschrieben und dabei den Erzähler ausgewechselt. Die Abenteuer werden nicht mehr von Huck Finn, dem weissen Streuner und Tagedieb, berichtet, sondern von Jim, dem schwarzen Sklaven.
Devoter Jim, wehrhafter James
In Twains Buch war er der unbedarfte «Plantagenneger», der vom Wohlwollen seines weissen Begleiters abhing und am Ende in ein notdürftig herbeifabuliertes Happy End stolperte. In Everetts Roman ist aus dem devoten Jim der stolze, wehrhafte und hochbelesene James geworden. Twains Abenteuer- und Reisegeschichte mit dem Mississippi-Fluss als topografischer Leitspur wird zu Jims/James’ Ermächtigungsfabel, einem wuchtigen Text über barbarisches Unrecht und Gewalt.
Schon Twains literarische Innovation bestand in einem Perspektivwechsel: Er erzählte den Roman konsequent aus der Sicht von Huck, einem ungebildeten Jungen. Entsprechend musste der Stil einfach und anschaulich sein. Der stilistische Ballast der Viktorianischen Ära, der die amerikanische Literatur ästhetisch schwer belastete, wurde über Bord geworfen.
Everett dreht nicht nur das Verhältnis von Held und Sidekick um, er wendet auch das ganze Erzählverfahren gegen sich selbst. James liest heimlich Rousseau, Voltaire und Locke, er schreibt ein Tagebuch mit hellsichtiger Reflexion.
Die naive Schlichtheit, die in Twains Roman den schwarzen Sklaven zu einer Mischung aus Naturbursche und schöner Seele machte, ist bei Everett Teil einer raffinierten Mimikry geworden. James und die anderen Sklaven spielen den Weissen ihr Ungebildetsein nur vor. Der aus Twain berüchtigte «Neger-Slang» ist eine sprachliche Maske, mit der Scharfsinn und kulturelle Kompetenz kaschiert werden. Sind Weisse in der Nähe, schalten James und seine Leidensgenossen per «Sklavenfilter» auf jenen KlischeeJargon um, der letztlich nur eine rassistische Projektion ebendieser Weissen ist.
Nikolaus Stingl hat mit seiner Übersetzung ins Deutsche eine Glanzleistung vollbracht: Statt ein «einfältiges und retardierendes Idiom», so kommentiert Stingl in der «FAZ», zu schaffen, hat er einen künstlichen Dialekt in phonetischer Schreibweise kreiert. So sprechen in der deutschen Übertragung die Sklaven eine zweifach fingierte Mundart, da schon im englischen Original die Schwarzenrhetorik eine Projektion der weissen Machthaber darstellt.
Der Roman ist von solchenTravestien dramaturgisch regelrecht durchzogen. In der satirischen Umwertung und Zuspitzung werden die rassistischen Unrechtsverhältnisse in greller Weise deutlich. Wenn James von einem weissen Gospelchor angeheuert wird, dessen Mitglieder sich das Gesicht schwarz schminken – das sogenannte Blackfacing –, und selber schwarze Schminke anlegen muss,um alsWeisser zu gelten,der sich schwarz gefärbt hat, dann werden die rassistischen Konventionen komplett ad absurdum geführt. Hautfarbe und «Rasse» sind als interessengeleitete Kategorisierungen blossgestellt.
Auch dass James auf seiner Flucht den Sklaven von Huck nur spielt, um im Verkehr mit Weissen nicht aufzufallen – tatsächlich hasst Huck Finn die Sklaverei und leidet unter dem Unrecht, das seinem Freund angetan wird –, ist eine Volte dieses Erzählszenarios. Es erinnert an einen anderen wichtigen Text der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts: die Novelle «Benito Cereno» (1855) von Herman Melville, dem Autor des «Moby Dick».
In dieser Seefahrergeschichte meutern die Schwarzen eines Sklavenschiffs und übernehmen das Kommando. Als auf See ein anderes Schiff auftaucht, spielen die Schwarzen wieder die Sklaven, um keinen Verdacht zu erwecken. Sklaven, die Sklaven darstellen und Weisse, die ihre Macht nur spielen, aber nicht in legitimer Weise verkörpern können: Diese Idee hat Everett wie unter einem literarischen Brennspiegel verdichtet.
Die Radikalität der Pointe
Anders als Twains Original spart James die faktische Gewalt, die Sklaven zu rechtlosen Ressourcen einer brutalen Wirtschaftsform machte, nicht aus. Der Roman ist deshalb auch eine Rachephantasie, weil James seine Peiniger nicht nur intellektuell und schreibend, sondern auch konkret zur Rechenschaft zieht.
Die ganze kritische Wucht von James erschliesst sich allerdings vom Ende her. Spoiler hin oder her, aber das Werk bezieht aus der Pointe seine ganze Radikalität. Huck Finn, so stellt sich heraus, ist der Sohn von James. Er ist selbst ein Schwarzer, nur eben mit sehr heller Haut. Diese Prämisse nutzte Philip Roth für einen seiner besten Romane, «Der menschliche Makel». Ein afroamerikanischer Professor leugnet darin seine ethnische Herkunft und stürzt dadurch ins Verderben.
Jim zu James, das heisst, aus dem geknechteten Opfer einen seinen Peinigern sowohl moralisch als auch intellektuell überlegenen Helden zu machen, ist innovativ. Huck, eine der Gründungsfiguren der amerikanischen Gegenkultur, eine afroamerikanische Herkunft anzudichten, ist revolutionär. Denn eine Erzählung mit Huck, der lange seine wahre Herkunft verkennt und dessen Toleranz auf einem Missverständnis der eigenen Identität beruht, schreibt rückblickend die Literaturgeschichte um.
Twains epochaler Roman, von dem Hemingway sagte, die ganze amerikanische Moderne rühre von ihm her, ist in Everetts Perspektive nur eine Vorstudie zur eigentlichen Erzählung von Huck und Jim, einem Schwarzen, der sich für weiss hält, und einem Schwarzen, der sein Schwarzsein als rassistisches Klischee enttarnt. «James» von Percival Everett ist von gleichem Rang wie Mark Twains Meisterwerk – und weist weit darüber hinaus.
Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser-Verlag, München 2024. 336 Seiten, Fr. 36.90.
«James» von Percival Everett ist von gleichem Rang wie Mark Twains Meisterwerk – und weist weit darüber hinaus.