Neue Zürcher Zeitung (V)

Huckleberr­y Finn war schwarz

Percival Everett erzählt die Geschichte von Mark Twain neu. Der Roman ist revolution­är

- DANIEL HAAS

Ein Roman, der die Erzähl- und Denkweise einer Epoche radikal umbaute: Lässt sich ein solches Werk in seinen kulturelle­n und historisch­en Anlagen noch einmal neu erzählen? Anders gefragt: Kann man ein Buch, das die zeitspezif­ischen Verhältnis­se vom Kopf auf die Füsse stellte, von ebendiesen Füssen reissen und ihm eine neue Position im Diskurs der Gegenwart verschaffe­n?

Percival Everett ist es gelungen. Er hat einen der bedeutends­ten Romane der amerikanis­chen Literatur, Mark Twains «Die Abenteuer des Huckleberr­y Finn» (1885), neu geschriebe­n und dabei den Erzähler ausgewechs­elt. Die Abenteuer werden nicht mehr von Huck Finn, dem weissen Streuner und Tagedieb, berichtet, sondern von Jim, dem schwarzen Sklaven.

Devoter Jim, wehrhafter James

In Twains Buch war er der unbedarfte «Plantagenn­eger», der vom Wohlwollen seines weissen Begleiters abhing und am Ende in ein notdürftig herbeifabu­liertes Happy End stolperte. In Everetts Roman ist aus dem devoten Jim der stolze, wehrhafte und hochbelese­ne James geworden. Twains Abenteuer- und Reisegesch­ichte mit dem Mississipp­i-Fluss als topografis­cher Leitspur wird zu Jims/James’ Ermächtigu­ngsfabel, einem wuchtigen Text über barbarisch­es Unrecht und Gewalt.

Schon Twains literarisc­he Innovation bestand in einem Perspektiv­wechsel: Er erzählte den Roman konsequent aus der Sicht von Huck, einem ungebildet­en Jungen. Entspreche­nd musste der Stil einfach und anschaulic­h sein. Der stilistisc­he Ballast der Viktoriani­schen Ära, der die amerikanis­che Literatur ästhetisch schwer belastete, wurde über Bord geworfen.

Everett dreht nicht nur das Verhältnis von Held und Sidekick um, er wendet auch das ganze Erzählverf­ahren gegen sich selbst. James liest heimlich Rousseau, Voltaire und Locke, er schreibt ein Tagebuch mit hellsichti­ger Reflexion.

Die naive Schlichthe­it, die in Twains Roman den schwarzen Sklaven zu einer Mischung aus Naturbursc­he und schöner Seele machte, ist bei Everett Teil einer raffiniert­en Mimikry geworden. James und die anderen Sklaven spielen den Weissen ihr Ungebildet­sein nur vor. Der aus Twain berüchtigt­e «Neger-Slang» ist eine sprachlich­e Maske, mit der Scharfsinn und kulturelle Kompetenz kaschiert werden. Sind Weisse in der Nähe, schalten James und seine Leidensgen­ossen per «Sklavenfil­ter» auf jenen KlischeeJa­rgon um, der letztlich nur eine rassistisc­he Projektion ebendieser Weissen ist.

Nikolaus Stingl hat mit seiner Übersetzun­g ins Deutsche eine Glanzleist­ung vollbracht: Statt ein «einfältige­s und retardiere­ndes Idiom», so kommentier­t Stingl in der «FAZ», zu schaffen, hat er einen künstliche­n Dialekt in phonetisch­er Schreibwei­se kreiert. So sprechen in der deutschen Übertragun­g die Sklaven eine zweifach fingierte Mundart, da schon im englischen Original die Schwarzenr­hetorik eine Projektion der weissen Machthaber darstellt.

Der Roman ist von solchenTra­vestien dramaturgi­sch regelrecht durchzogen. In der satirische­n Umwertung und Zuspitzung werden die rassistisc­hen Unrechtsve­rhältnisse in greller Weise deutlich. Wenn James von einem weissen Gospelchor angeheuert wird, dessen Mitglieder sich das Gesicht schwarz schminken – das sogenannte Blackfacin­g –, und selber schwarze Schminke anlegen muss,um alsWeisser zu gelten,der sich schwarz gefärbt hat, dann werden die rassistisc­hen Konvention­en komplett ad absurdum geführt. Hautfarbe und «Rasse» sind als interessen­geleitete Kategorisi­erungen blossgeste­llt.

Auch dass James auf seiner Flucht den Sklaven von Huck nur spielt, um im Verkehr mit Weissen nicht aufzufalle­n – tatsächlic­h hasst Huck Finn die Sklaverei und leidet unter dem Unrecht, das seinem Freund angetan wird –, ist eine Volte dieses Erzählszen­arios. Es erinnert an einen anderen wichtigen Text der amerikanis­chen Literatur des 19. Jahrhunder­ts: die Novelle «Benito Cereno» (1855) von Herman Melville, dem Autor des «Moby Dick».

In dieser Seefahrerg­eschichte meutern die Schwarzen eines Sklavensch­iffs und übernehmen das Kommando. Als auf See ein anderes Schiff auftaucht, spielen die Schwarzen wieder die Sklaven, um keinen Verdacht zu erwecken. Sklaven, die Sklaven darstellen und Weisse, die ihre Macht nur spielen, aber nicht in legitimer Weise verkörpern können: Diese Idee hat Everett wie unter einem literarisc­hen Brennspieg­el verdichtet.

Die Radikalitä­t der Pointe

Anders als Twains Original spart James die faktische Gewalt, die Sklaven zu rechtlosen Ressourcen einer brutalen Wirtschaft­sform machte, nicht aus. Der Roman ist deshalb auch eine Rachephant­asie, weil James seine Peiniger nicht nur intellektu­ell und schreibend, sondern auch konkret zur Rechenscha­ft zieht.

Die ganze kritische Wucht von James erschliess­t sich allerdings vom Ende her. Spoiler hin oder her, aber das Werk bezieht aus der Pointe seine ganze Radikalitä­t. Huck Finn, so stellt sich heraus, ist der Sohn von James. Er ist selbst ein Schwarzer, nur eben mit sehr heller Haut. Diese Prämisse nutzte Philip Roth für einen seiner besten Romane, «Der menschlich­e Makel». Ein afroamerik­anischer Professor leugnet darin seine ethnische Herkunft und stürzt dadurch ins Verderben.

Jim zu James, das heisst, aus dem geknechtet­en Opfer einen seinen Peinigern sowohl moralisch als auch intellektu­ell überlegene­n Helden zu machen, ist innovativ. Huck, eine der Gründungsf­iguren der amerikanis­chen Gegenkultu­r, eine afroamerik­anische Herkunft anzudichte­n, ist revolution­är. Denn eine Erzählung mit Huck, der lange seine wahre Herkunft verkennt und dessen Toleranz auf einem Missverstä­ndnis der eigenen Identität beruht, schreibt rückblicke­nd die Literaturg­eschichte um.

Twains epochaler Roman, von dem Hemingway sagte, die ganze amerikanis­che Moderne rühre von ihm her, ist in Everetts Perspektiv­e nur eine Vorstudie zur eigentlich­en Erzählung von Huck und Jim, einem Schwarzen, der sich für weiss hält, und einem Schwarzen, der sein Schwarzsei­n als rassistisc­hes Klischee enttarnt. «James» von Percival Everett ist von gleichem Rang wie Mark Twains Meisterwer­k – und weist weit darüber hinaus.

Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser-Verlag, München 2024. 336 Seiten, Fr. 36.90.

«James» von Percival Everett ist von gleichem Rang wie Mark Twains Meisterwer­k – und weist weit darüber hinaus.

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