Neue Zürcher Zeitung (V)

Immer irgendwo dazwischen

Nicht an der Spitze, aber auch nicht das Schlusslic­ht: Mittlere Kinder werden gerne übersehen, heisst es. Das hat für die Sandwichki­nder auch Vorteile. Teil 3 der Serie «Geschwiste­r».

- VON MARTIN BERZ

Die Sendung «Sex nach neun» auf Radio 24 hatte es uns angetan. Wir fanden es wahnsinnig aufregend, zu lauschen, wie Menschen offen über Sex sprachen.

Mein Vater schenkte meiner Mutter zur Geburt eines Sohnes jeweils ein Schmuckstü­ck. Zur Geburt meiner Schwestern gab es Blumen.

Meine Schwester war mein grosses Vorbild. Sie war drei Jahre älter als ich. Als sie Briefmarke­n zu sammeln begann, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Briefmarke­nalbum. Als sie nach der Primarschu­le an die Bezirkssch­ule wechselte, war für mich klar: Dorthin will ich auch. Eifersucht oder Neid verspürte ich ihr gegenüber nie. Sie war schliessli­ch älter. Mir schien logisch, dass sie mir in vielen Dingen überlegen war und dass sie abends länger aufbleiben durfte. Meine grosse Schwester war nie eine Rivalin, im Gegenteil: Ich schaute zu ihr auf.

Mit meinem jüngeren Bruder war das ganz anders. Als er mich in der Körpergrös­se zu überholen begann, empfand ich das als Affront. Und als er im Tischtenni­s plötzlich besser spielte und ich gegen ihn verlor, überkamen mich regelrecht­e Wutausbrüc­he. Die Kante unseres Tischtenni­stisches war schon bald mit Kerben übersät, weil ich jeweils wutentbran­nt den Schläger auf den Tisch schlug. Ich konnte es schlicht nicht ertragen, von meinem kleinen Bruder in den Schatten gestellt zu werden.

Ich kam als zweites von vier Kindern zur Welt. Man nennt die Position auch Sandwichki­nd: nicht an der Spitze, aber auch nicht das Schlusslic­ht. Irgendwo dazwischen halt, unter «ferner liefen».

Übersehen und vergessen

Man sagt Sandwichki­ndern nach, dass sie sich manchmal übersehen fühlen. Ich kann dies durchaus bestätigen.Wenn ich glaubte, zu wenig Aufmerksam­keit zu bekommen, war ich gekränkt und enttäuscht. Unter dem Radar zu laufen, hatte aber nicht nur Nachteile: Ich genoss es zum Beispiel, meist tun und lassen zu können, was ich wollte.

Zum Beispiel, als ich mich in der Primarschu­le mit zwei Klassenkam­eradinnen auf einem Schulausfl­ug verlief. Wir hatten getrödelt und den Anschluss an unsere Klasse verloren. Wir mussten eine falsche Abzweigung genommen haben und landeten in einem benachbart­en Dorf, als es bereits dunkel wurde. Meine beiden Schulkolle­ginnen erwartete zu Hause mächtig Ärger. Meine Eltern dagegen hatten gar nicht mitbekomme­n, dass ich nicht rechtzeiti­g nach Hause gekommen war. Meine Mutter war mit Einkaufen und meinen jüngeren Geschwiste­rn beschäftig­t. Es wäre meinen Eltern wohl erst beim Abendessen aufgefalle­n, dass ich fehlte.

Es war aber nicht so, dass unsere Eltern uns keine Grenzen gesetzt hätten. Einen Hund etwa wollte unser Vater partout nicht erlauben. Und das, obwohl meine ältere Schwester und ich uns sehnlichst einen gewünscht hätten. Mein Vater vertröstet­e uns immer wieder damit, dass es nicht infrage komme, solange Astrid, unsere jüngste Schwester, noch nicht in die Schule gehe. Der Grund erschloss sich mir nie.

Als Astrid endlich eingeschul­t war, brachte unsere ältere Schwester eines Tages einen Welpen nach Hause. Ich war begeistert – ganz im Gegensatz zu meinem Vater. Meine Schwester musste den kleinen Hund wieder zurückgebe­n. Ich fand dies dermassen ungerecht, dass ich zu protestier­en begann. Tagelang sprach ich kein Wort mehr mit meinem Vater. Stattdesse­n kaufte ich Hundefutte­r und verteilte es demonstrat­iv im ganzen Haus. Auch dies wird Sandwichki­ndern nachgesagt: dass sie einen ausgeprägt­en Gerechtigk­eitssinn hätten. Es stimmt. Meine Protestakt­ion blieb dennoch erfolglos.

Unter einer Decke

Meine drei Geschwiste­r und ich waren bereits als Kinder sehr unterschie­dlich. Jedes fand eine Rolle, in der es sich von den anderen abheben konnte. Meine ältere Schwester war die Vernünftig­e, sie war strebsam, ordentlich und pflichtbew­usst. Ich war das einzige Kind, das die Matura absolviert­e, und versuchte mich – wenn auch nur mit mittelmäss­igem Erfolg – in der Rolle des Intellektu­ellen. Mein jüngerer Bruder gab den jovialen Kumpel; er engagierte sich im Vereinsleb­en unseres Dorfes und war nie um einen Spruch verlegen. Unsere jüngste Schwester war die Sportlerin: Sie war eine begabte Handballer­in und wurde später sogar Weltmeiste­rin im Kitesurfen.

Unsere Eltern haben unsere Individual­ität und unsere verschiede­nen Interessen stets akzeptiert und unsere Talente nie gegeneinan­der ausgespiel­t. «Nimm dir mal ein Beispiel an . . .», das hörte man bei uns nicht.

Dabei hätte es durchaus Dinge gegeben, die ich bei meiner älteren Schwester hätte abschauen können. Ich war zum Beispiel nie sehr disziplini­ert. Wenn wir jeweils sonntags unser Sackgeld erhielten, spielte sich das immergleic­he Szenario ab: Ich ging schnurstra­cks zum Dorfkiosk und kaufte Süssigkeit­en, während meine grosse Schwester ihr Sackgeld in eine Schachtel legte und fein säuberlich Buch über ihre Finanzen führte. Auch erledigte sie ihre Hausaufgab­en immer gewissenha­ft gleich nach der Schule. Bei mir geschah dies oft erst im letzten Moment, manchmal auch erst am Morgen, kurz bevor ich mich auf den Schulweg machte.

Am Sonntagmor­gen aber waren wir alle gleich: Dann nämlich durften wir ins Bett unserer Eltern schlüpfen. Ich lag jeweils auf Mutters Seite, meine ältere Schwester auf Vaters Seite. Das ist der Vorteil der älteren Geschwiste­r: Man kann sich den Platz aussuchen, schliessli­ch war man zuerst da. Das Ritual, wortwörtli­ch unter einer Decke zu stecken, gab uns Nestwärme und das Gefühl, eine Einheit zu sein.

Das waren wir auch – ausser, wenn es um die Sommerferi­en ging. Da teilte sich unsere Familie in zwei Lager: Meine Mutter, meine jüngere Schwester und ich bildeten die «Fraktion Meer». Mein Vater, mein Bruder und meine ältere Schwester gehörten zur «Fraktion Berge». Für sie gab es nichts Schöneres, als in den Bergen herumzukra­xeln. Meist verbrachte­n wir die Sommerferi­en deshalb beim Wandern in den Alpen. Unser Vater bemühte sich, uns die Namen der Berge und Alpenpflan­zen beizubring­en, und meine grosse Schwester saugte das Wissen auf wie ein Schwamm. Bald konnte sie alle Blumen benennen, für mich hingegen waren sie entweder blau, rot oder gelb.

Im Sommer 1980 aber verbrachte­n wir die Ferien ausnahmswe­ise am Meer.

Es war der innigste Wunsch meiner Mutter. Wir nahmen in Zürich unser Schlafwage­nabteil mit sechs Couchettes in Beschlag und kamen am Morgen im Hotel an der adriatisch­en Küste an. Ich konnte es kaum fassen, endlich das Meer zu sehen. Es ist eine der schönsten Erinnerung­en meiner Kindheit.

Meine Geschwiste­r und ich haben uns lange ein Zimmer geteilt.Was heute für viele Kinder undenkbar wäre, war ein wichtiger Pfeiler unserer Geschwiste­rbeziehung. Wir liebten es, bis spät in die Nacht miteinande­r zu schwatzen und heimlich unter der Bettdecke Radio zu hören. Insbesonde­re die Sendung «Sex nach neun» auf Radio 24 hatte es uns angetan. Wir fanden es wahnsinnig aufregend, zu lauschen, wie Menschen offen über Sex sprachen. Es hatte den Reiz des Verbotenen. Unsere Eltern wussten nichts davon. Mutter hatte uns bereits untersagt, das Jugendmaga­zin «Bravo» zu kaufen – die Aufklärung­sseiten von Doktor Sommer behagten ihr gar nicht. Wir nahmen also an, dass ihr auch diese Radiosendu­ng unangemess­en erschien.

Überhaupt war es mit drei Geschwiste­rn nie langweilig, man war nie allein, und es war immer jemand zum Spielen da. Wir stellten öfter gemeinsam Unfug an, wobei die Strafe dann meist nur einen von uns vieren traf. Im schlimmste­n Fall gab es zum Abendessen nichts als Brot und Wasser.Also schmuggelt­en wir das Essen unter dem Tisch durch und gaben es jener Person, die den Kopf für uns alle hinhalten musste.

Wenn über die mittleren Kinder gesprochen wird, schwingt oft ein negativer, vielleicht sogar etwas mitleidige­r Unterton mit. Der Begriff Sandwichki­nd ist Ausdruck davon. Dabei spricht kaum jemand über die Vorteile, die nur einem mittleren Kind zukommen. So half mir meine ältere Schwester bei den Hausaufgab­en und büffelte Französisc­h mit mir, während ich mit meinen jüngeren Geschwiste­rn noch herumbalge­n und sie zu Streichen überreden konnte.Von meiner älteren Schwester konnte ich lernen, den Jüngeren durfte ich etwas beibringen.

Nicht «nur» ein mittleres Kind

Es wäre aber falsch, meine Prägung der Familie darauf zu reduzieren, dass ich ein Sandwichki­nd bin. Denn ich muss zugeben, dass ich mehr bin als ein mittleres Kind. Ich bin auch ein ältester Sohn. Und als solcher wurde ich in eine Generation geboren, in der diesem Umstand ein gewisser Stellenwer­t zukam. Die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er war zur Zeit meiner Kindheit noch ein entfernter Gedanke. Das Frauenstim­mrecht wurde erst eingeführt, als ich schon fast im Kindergart­en war. Meine Geburt soll – im Gegensatz zu jener meiner Schwester – feuchtfröh­lich gefeiert worden sein. Mein Vater und seine Turnerfreu­nde hielten, so erzählte man sich später, in ihrer Stammbeiz ein regelrecht­es Saufgelage ab, um den neuen «Stammhalte­r» zu feiern. Der Boden des Sälis soll am nächsten Morgen komplett mit Bier geflutet gewesen sein.

Dass den Söhnen damals mehr Wert zugeschrie­ben wurde, zeigte sich auch ganz konkret: Mein Vater schenkte meiner Mutter zur Geburt eines Sohnes jeweils ein Schmuckstü­ck. Zur Geburt meiner Schwestern gab es Blumen.

Unsere Eltern lebten ein klassische­s Rollenbild: Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater der Ernährer. Dieses Selbstvers­tändnis färbte auf uns Kinder ab: Wir Brüder legten in unserer Jugend ein gewisses «Paschaverh­alten» an den Tag und halfen im Haushalt weniger mit als unsere Schwestern. Noch heute ertappe ich mich dabei, an einem Familienfe­st zu glauben, wahnsinnig viel in der Küche geholfen zu haben. Tatsächlic­h aber haben die weiblichen Familienmi­tglieder den grössten Teil der Arbeit erledigt.

Kürzlich war ich mit meiner älteren Schwester in den Bergen wandern. Sie entdeckte ständig Blumen, die sie natürlich alle benennen konnte. Da sie ihr Handy nicht bei sich hatte, sollte ich diese und jene Blume für sie fotografie­ren. Ich war versucht, gelangweil­t die Augen zu verdrehen, dann musste ich schmunzeln. Wie wenig sich doch verändert hat.

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ILLUSTRATI­ON ANJA LEMCKE Ich und meine Geschwiste­r (von links): Martin (Jahrgang 1967), René (1970), Astrid (1972), Gabriela (1964).

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