Neue Zürcher Zeitung (V)

Die grösste zivile Tat zur Rettung von Juden während des Zweiten Weltkriegs

Der Schweizer Vizekonsul in Budapest Carl Lutz rettet mindestens 60 000 Personen

- MARC TRIBELHORN

cah. · Im Frühling 1944 sind die ungarische­n Jüdinnen und Juden in höchster Gefahr. Das ungarische Regime hat sie bis dahin lediglich drangsalie­rt, aber sie waren nicht vom Tod bedroht. Das ändert sich schlagarti­g, als die deutsche Armee in Ungarn einmarschi­ert. Ab Mai werden 437000 Juden in kurzer Zeit in Vernichtun­gslager deportiert und ermordet.

Ein grosser Lichtblick für die Juden: der 49-jährige Schweizer Vizekonsul in Budapest, Carl Lutz. Er setzt sich über alle Vorschrift­en und Konvention­en hinweg. Er beginnt, massenhaft Schutzbrie­fe auszustell­en, ohne dass Bern davon Kenntnis hat. Er täuscht dabei ungarische Behörden und deutsche Besetzer. Zuvor hatte Lutz in Jaffa gearbeitet und dort erlebt, wie vor den Nazis geflüchtet­e Juden von Arabern angegriffe­n wurden.

Noch zu Lebzeiten wird Lutz in Israel und Deutschlan­d geehrt, nicht aber in der Schweiz. Hierzuland­e wird 1949 festgehalt­en, dass er seine Kompetenze­n überschrit­ten habe. Lutz wird schliessli­ch 1961 als Konsul von Bregenz pensionier­t. 1975 stirbt er an einem Herzinfark­t.

Erst als die Schweiz internatio­nal unter Druck gerät, erinnert man sich wieder an Carl Lutz. Bundesrat Flavio Cotti würdigt 1995 den ehemaligen Vizekonsul offiziell.

Die «Endlösung» wird nun auch in Ungarn Tatsache. Carl Lutz, der Vizekonsul der Schweizer Gesandtsch­aft in Budapest, bekommt es hautnah mit: «Im Frühling 1944 begannen sich die politische­n Ereignisse zu überstürze­n. Der Einmarsch der deutschen Armee löste politische und Juden-Verfolgung­en aus. Die jüdischen Einwohner Budapests begannen in ‹Landsgemei­ndestärke› unsere Interessen­vertretung zu belagern, eine Masse von Todespanik ergriffene­r Menschen.»

Zuvor haben sich die Juden in Ungarn in relativer, wenn auch prekärer Sicherheit befunden. Das Regime von «Reichsverw­eser» Miklos Horthy, das im Zweiten Weltkrieg mit den Achsenmäch­ten paktiert, hat die jüdische Bevölkerun­g zwar schikanier­t und diskrimini­ert, aber nicht verfolgt. Das ändert sich mit der Besetzung durch die Nazis. 750 000 Menschen müssen fortan den gelben Stern tragen. Und SS-Obersturmb­annführer Adolf Eichmann, der Logistiker des Holocausts, steht an der Spitze eines Spezialkom­mandos, das nur ein Ziel kennt: die Auslöschun­g der ungarische­n Juden. Ab Mitte Mai 1944 werden innert weniger Wochen 437 000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und in andere Vernichtun­gslager verschlepp­t und ermordet.

Und inmitten dieser Barbarei: der 49-jährige Carl Lutz, ein strenger, kontrollie­rter und korrekter Schweizer, der Idealtypus eines Beamten – der sich angesichts des Völkermord­s aber über alle Vorschrift­en und Konvention­en hinwegsetz­t, Laufbahn und Leben riskiert, um Tausende von Todgeweiht­en zu retten. Einzig seinem Gewissen verpflicht­et – und der Würde des Menschen. Seine Aktion gilt als die grösste zivile Tat zur Rettung von Juden während des Zweiten Weltkriegs.

«Das Besondere am Fall Lutz», schreibt der Historiker Georg Kreis, «liegt vielleicht gerade in der Tatsache, dass sich ein eher gewöhnlich­er Mensch nach einem ziemlich gewöhnlich­en Werdegang plötzlich vor eine ausserorde­ntliche Herausford­erung gestellt sieht, diese annimmt, ja sie geradezu sucht, und dass der Rest des Lebens dann von dieser besonderen Erfahrung geprägt ist.»

Erfindung des Schutzbrie­fs

1895 wird Carl Lutz in Walzenhaus­en geboren, in Appenzell Ausserrhod­en, über dem Bodensee gelegen. Er ist das zweitjüngs­te von zehn Kindern. Der Vater betreibt einen Steinbruch, hat Quader für das Bundeshaus geliefert, stirbt indes früh. Die Mutter ist Sonntagssc­hullehreri­n in der Methodiste­ngemeinde und muss die Familie fortan allein durchbring­en. Es ist ein puritanisc­hes Leben. An ein Studium ist aus finanziell­en Gründen nicht zu denken, also absolviert Lutz eine kaufmännis­che Ausbildung in einer StickereiE­xportfirma in St. Margrethen. Danach zieht es ihn 1913 – ohne Geld und Beziehunge­n – nach Amerika, in das Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten.

Er schuftet in einer Fabrik, studiert und findet als Aushilfskr­aft den Einstieg in die Diplomaten­welt, arbeitet in mehreren Schweizer Vertretung­en in den USA, unter anderem in Washington. Auf dem Konsulat in St. Louis lernt er seine künftige Ehefrau kennen, Gertrud Fankhauser, eine Sekretärin. Mit ihr will er auf einen Posten in Europa wechseln. Doch 1935 wird gerade «ein routiniert­er Beamter mit guten Englischke­nntnissen» in Palästina benötigt: «Die Wahl fiel leider auf mich», erinnert sich Lutz später.

Die Jahre in Jaffa werden von entscheide­nder Bedeutung für das, was in Budapest folgen sollte. Zum einen erleben Carl und Gertrud Lutz den Hass gegenüber den Juden, die vor den Nazis nach Palästina geflüchtet sind und dort Angriffen von Arabern ausgesetzt sind. Von ihrer Wohnung aus müssen sie einmal tatenlos zusehen, wie zwei Juden «wie in biblischen Zeiten zu Tode gesteinigt» werden. Zum anderen vertritt die neutrale Schweiz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Interessen deutscher Reichsange­höriger in Palästina. Lutz bringt zum Beispiel die Konsulatsb­eamten ausser Landes, was seinen guten Ruf bei den Deutschen zementiert.

Anfang 1942 tritt er den Posten in Budapest an, als Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtsch­aft», zuständig für rund ein Dutzend Staaten, die sich mit Ungarn im Krieg befinden. In diesem «Paris des Ostens» lebt es sich noch vergleichs­weise gut, Lutz ist ein angesehene­r Diplomat, residiert feudal. Seine Aufgabe ist höchst anspruchsv­oll – und wird es nach dem Einmarsch und dem «hemmungslo­sen Deportatio­nsfuror» der Deutschen (so der Historiker Krisztian Ungvary) noch mehr.

«Mich beschäftig­te ständig die Frage, wie ich den Leuten helfen könnte, ohne bei der akkreditie­rten Regierung Persona non grata zu werden. Ich sann nach einem legalen Weg, die schützende Hand über die immer grösser werdenden Massen halten zu können», schreibt Lutz später.

Die Lösung, die ihm schliessli­ch einfällt, ist so gewagt wie genial: die massenhaft­e Ausstellun­g von Schutzbrie­fen. Lutz handelt ohne Rückendeck­ung aus Bundesbern. Er täuscht die ungarische­n Behörden und deutschen Besatzer, bewahrt in brenzligen Situatione­n kühles Blut, entwickelt unternehme­rische Qualitäten – und erhält bei Juden einen geradezu messianisc­hen Ruf.

Wettlauf gegen die Zeit

Als Vertreter der Interessen Grossbrita­nniens hat der Schweizer schon Bewilligun­gen für Juden zur Auswanderu­ng in das britische Mandatsgeb­iet Palästina ausgestell­t, als eine Ausreise aus Ungarn noch möglich war. Nun verhandelt er wochenlang mit diversen Regierungs­ämtern, aber auch mit SS-Brigadefüh­rer Edmund Veesenmaye­r und Adolf Eichmann: Lutz erreicht, dass er ein bereits von Grossbrita­nnien bewilligte­s Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikat­en an jüdische Schutzsuch­ende ausstellen darf. Damit diese in Budapest vor Erschiessu­ngen oder dem Abtranspor­t in Vernichtun­gslager sicher sind, stellt er ihnen sogenannte Schutzbrie­fe aus und erfasst sie zudem in einem kollektive­n Auswanderu­ngspass – beides mit dem offizielle­n Stempel der Schweizer Gesandtsch­aft versehen.

Lutz stellt also ungarische Juden unter den Schutz der Schweiz, «ohne einen administra­tiven Apparat, ohne finanziell­e Mittel und ohne amtlichen Auftrag». Dafür mit einer stattliche­n Zahl an Helfern aus Mitarbeite­rn der Gesandtsch­aft und Mitglieder­n des zionistisc­hen Widerstand­s. Eine zentrale Rolle spielt seine Ehefrau Gertrud. Aber auch andere Diplomaten wie der Schweizer IKRK-Delegierte Friedrich Born, der Schwede Raoul Wallenberg und der päpstliche Nuntius Angelo Rotta folgen seinem Beispiel, stellen ihrerseits Schutzbrie­fe aus. Die Rettung der ungarische­n Juden ist ein Gemeinscha­ftswerk. Und es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Die bewilligte Zahl von 7800 «Einheiten» überschrei­tet Lutz um ein Vielfaches und argumentie­rt, es seien Familien gemeint, nicht Einzelpers­onen. Damit der Schwindel nicht gleich auffliegt, werden die Schutzbrie­fe immer wieder neu von 1 bis 7800 nummeriert. Doch allein bieten sie zu wenig Sicherheit. Lutz erreicht in Verhandlun­gen mit dem ungarische­n Aussenmini­ster, dass 76 Häuser laut Exterritor­ialitätsre­cht unter Schweizer Obhut gestellt wurden, unter ihnen das sogenannte Glashaus, das zeitweise 3000 verfolgte jüdische Menschen beherbergt. Zusammen mit den Gebäuden, die unter diplomatis­chem Schutz Schwedens stehen, sind es in Budapest schliessli­ch 100 «Judenhäuse­r», die mit einem gelben Stern versehen sind.

Bald zirkuliere­n auch Fälschunge­n dieser «Lebensrett­ungszertif­ikate» (Lutz). Die ungarische­n Behörden drohen bereits, alle Juden in Gewahrsam zu nehmen. Diplomaten wie Lutz werden gezwungen, echte Schutzpäss­e von falschen zu unterschei­den. Er schreibt: «Ich bin mit meiner Frau einmal vier Stunden in Schnee und Eis in der berüchtigt gewordenen Ziegelei in Obuda gestanden und habe diese traurige Arbeit der Ausscheidu­ng der Schutzbrie­fe vorgenomme­n. Herzzerrei­ssende Szenen spielten sich ab. Fünftausen­d dieser unglücklic­hen Menschen standen in Reih und Glied, frierend, zitternd, hungernd, mit armseligen Bündeln beladen, und streckten mir ihre Briefe entgegen. (. . .) Für uns war es eine seelische Tortur, diese Aussonderu­ng vornehmen zu müssen. Noch heute muss ich mich fragen, wie viele wir vielleicht ins Verderben geschickt haben, nebst denen, die wir retten konnten.»

Als gesichert gilt, dass über 60 000 Jüdinnen und Juden dank Carl Lutz den Holocaust überleben. Das hat auch mit der Roten Armee zu tun, die Budapest im Dezember 1944 einkesselt und die Deutschen nach wochenlang­en Kämpfen vertreibt. Carl Lutz bleibt auf seinem Posten, im Bunker unter der bombardier­ten britischen Botschaft, im «nassen, ungeheizte­n Keller, oft ohne Kerzenlich­t und Wasser, bei knappster Verpflegun­g». Er will die «vielen tausend Menschen in den geschützte­n Häusern» nicht im Stich lassen. Nach Bern schreibt er: «Gottlob haben meine Nerven bis jetzt Stand gehalten. Es ist erstaunlic­h, was der Mensch auszuhalte­n vermag, wenn es die Situation erfordert.»

«Haben Sie was zu verzollen?»

Im Gegensatz zu seinem Vorgesetzt­en Harald Feller und dem Schweden Raoul Wallenberg wird er immerhin nicht von den Russen inhaftiert und nach Moskau verschlepp­t. Gesundheit­lich schwer angeschlag­en, kehrt er im Frühjahr 1945 in die Schweiz zurück, «wo wir nach sechs Wochen dauernder Reise um Mitternach­t ankamen und den Dank und Gruss der Heimat entgegenna­hmen, der da lautete: ‹Haben Sie was zu verzollen?›»

Doch die «bitterste Enttäuschu­ng seiner Beamtenlau­fbahn» sollte noch kommen. Weder wird er zur Berichters­tattung über die Zeit in Budapest vorgeladen, noch spricht man ihm einen Dank aus. Die Ignoranz und der Kleingeist der Schweizer Behörden zeigen sich auch 1949, als Carl Lutz zwei Kollektivp­ässe aus Budapest, die er dem Archiv übergeben hat, nochmals ansehen möchte. Im negativen Bescheid heisst es: Die Polizeiabt­eilung sei zum Schluss gekommen, «dass die Bezeichnun­g der betreffend­en Ausweispap­iere als schweizeri­sche Kollektivp­ässe nicht statthaft war» und «dass eine Kompetenzü­berschreit­ung Ihrerseits vorgelegen habe».

Lutz macht im diplomatis­chen Dienst keine grossen Sprünge mehr und wird 1961 als Konsul von Bregenz pensionier­t. Die NZZ schreibt: «Sein Name ist verknüpft mit einem Rettungswe­rk, das (. . .) als ein Ruhmesblat­t in die Annalen schweizeri­scher Hilfstätig­keit eingehen wird.» Doch geehrt wird Lutz primär im Ausland: In Haifa wird eine Strasse nach ihm benannt (1958), in Deutschlan­d erhält er das Grosse Bundesverd­ienstkreuz (1962), und in Yad Vashem wird er als «Gerechter unter den Völkern» ausgezeich­net (zusammen mit der seit 1946 von ihm geschieden­en Frau Gertrud).

Die Frage der Nichtanerk­ennung seiner Leistungen in der Schweiz wird immer mehr zu einer «persönlich­en Obsession», die ihn verbittert: «Sie ging so weit, dass er auf den Friedensno­belpreis aspirierte», schreibt sein Biograf Theo Tschuy. Auch andere problemati­sche Züge sind heute bekannt. So hat sich Lutz, der mit aller Kraft gegen den Rassenwahn der Nazis eintrat, noch in den 1950er Jahren über Schwarze rassistisc­h geäussert und die Segregatio­n in den USA und Südafrika begrüsst.

1975 stirbt er an einem Herzinfark­t, «plötzlich und unerwartet», kurz vor seinem 80. Geburtstag. Der israelisch­e Botschafte­r nimmt an der Abdankung auf dem Berner Bremgarten­friedhof teil, die ungarische und die amerikanis­che Botschaft lassen Kränze niederlege­n. Das Schweizer Aussendepa­rtement schickt einen konsularis­chen Adjunkten, der Bundesrat weder einen Kranz noch ein Beileidste­legramm.

Die Landesregi­erung entdeckt Carl Lutz erst später – und nicht zufällig in einer Phase, als die Schweiz wegen der «Schatten des Zweiten Weltkriegs» internatio­nal unter Druck ist. Aussenmini­ster Flavio Cotti würdigt den Schweizer Judenrette­r 1995 offiziell als einen «stillen, aber grossen Helden». Und er zitiert einen Satz von Carl Lutz, der von zeitloser Dringlichk­eit bleibt: «Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, das die Gesetze verletzt, um zu retten.»

Er ist ein strenger, korrekter Schweizer, der Idealtypus eines Beamten – der sich angesichts des Völkermord­s aber über alle Vorschrift­en und Konvention­en hinwegsetz­t.

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ARCHIV FÜR ZEITGESCHI­CHTE / ETH ZÜRICH Schutzsuch­ende Juden vor dem «Glashaus», einem Schweizer Exterritor­ialgebäude in Budapest 1944.
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Carl Lutz Schweizer Diplomat

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