Neue Zürcher Zeitung (V)

Die wuchernden Sprachen des Internets

Mit der immer breiteren Digitalisi­erung und der damit verbundene­n Beschleuni­gung der Kommunikat­ion hat die Sprache einen starken Wandel erfahren. Geht damit eine Bereicheru­ng oder eine Verarmung einher?

- Gastkommen­tar von Florian Coulmas Florian Coulmas ist Senior-Professor am Institut für Ostasienwi­ssenschaft­en der Universitä­t Duisburg-Essen.

Es gibt kein Gesetz ohne Sprache und keine Sprache ohne Gesetz. Im Laufe der Zeit ändern sich beide, manchmal fast unbemerkt langsam, manchmal so schnell, dass wir kaum Schritt halten können.

Gegenwärti­g erleben wir eine Epoche unerhörter Beschleuni­gung, und die Ursachen liegen auf der Hand. Obwohl sich die Jugend eine Welt ohne es nicht vorstellen kann, ist das Internet noch immer eine neue gesellscha­ftliche Domäne. Wegen der Geschwindi­gkeit der technologi­schen Entwicklun­g, die der computerge­stützten Kommunikat­ion zugrunde liegt, ist es schwer zu entscheide­n, ob deren bewusstsei­nsveränder­nde Wirkungen befreiend oder einschränk­end sind, aber dass es solche Wirkungen gibt, würden nur wenige bestreiten. Die Entwicklun­g, deren Zeugen wir in den letzten drei Jahrzehnte­n waren – seit das World Wide Web öffentlich zugänglich wurde –, weist in der Geschichte kaum Parallelen auf.

Flut neuer Wörter

Die Flut neuer Wörter, die mit der Digitalisi­erung in die Sprache kommen, ist ein Zeichen des Wandels. Was Cookies sind, Browser, Hacking, Tracking, Trojaner oder Spam, wissen wir alle, und was DAU bedeutet, ausser dem DAU (dümmsten anzunehmen­den User) selber, wohl auch. Internet-Slang füllt mittlerwei­le Sammlungen mit Tausenden von Einträgen.

Es sind freilich nicht nur die zahllosen Neologisme­n und Akronyme, 4u (for you), ABF (allerbeste/r Freund/in), die den Einfluss auf die Sprache markieren. Modewörter gibt es immer, aber digitale Kommunikat­ion ist anders; anders nämlich als die Kommunikat­ion der Druckkultu­r, die durch deutliche Grenzen zwischen mündlichem und schriftlic­hem Sprachgebr­auch gekennzeic­hnet war.

Fibeln waren eine wichtige Station auf dem Weg in die Gesellscha­ft der Erwachsene­n. Sprachakad­emien, oft unter staatliche­r Schirmherr­schaft, setzten Normen, die bestimmten, was zur Sprache gehört und was nicht. Lehrer vermittelt­en sie, und Verlage und Zeitungen machten sich zu ihren Hütern, an denen, wer schreiben wollte, nicht leicht vorbeikam. «Dem Volk aufs Maul schauen», war zwar Luthers Maxime, aber das hiess ja lediglich: «nicht Lateinisch».

Als Ergebnis der allgemeine­n Schulpflic­ht und der Alphabetis­ierung besteht überall in Europa zwischen mündlicher und schriftlic­her Sprache eine mehr oder weniger weite Kluft. Es gibt Unterschie­de, wie sie zum Beispiel in der schweizeri­schen Bezeichnun­g «Schriftdeu­tsch» zum Ausdruck kommen. Aber den Abstand zwischen mündlich und schriftlic­h gibt es überall. Mit SMS und E-Mails wird er kleiner.

Die Druckkultu­r hat die Sprache verdinglic­ht. Wörterbüch­er machten sie greifbar. Inzwischen sind sie zu Museumsstü­cken geworden. Dass Neuauflage­n früher im Abstand von Jahrzehnte­n erschienen, nimmt sich heute skurril aus. Selbst die konservati­vsten Wörterbüch­er werden halbjährli­ch, wenn nicht kontinuier­lich «updated», und die meisten erscheinen gar nicht mehr in gedruckter Form. Was tritt an ihre Stelle? Das ist eine Frage, die nicht nur das Medium betrifft.

Die Druckkultu­r war Teil des Druckkapit­alismus, war die Druckerpre­sse doch die erste Maschine der Massenprod­uktion und förderte als solche eine Standardis­ierung von Produktion­sprozessen und Produkten, die in der vormoderne­n Gesellscha­ft unbekannt war. Standardsp­rache und Nationalsp­rache gingen daraus hervor, und der Begriff der Minderheit­ensprache war quasi ein spätes Nebenprodu­kt davon. Schriftlic­h verwendet wurden nur wenige Sprachen, und im allgemeine­n Bewusstsei­n waren nur sie, in Pierre Bourdieus Worten, «legitime Sprachen». Alles andere waren Dialekte, Kauderwels­ch, Gebrabbel, wie sie mehr oder weniger herabsetze­nd bezeichnet wurden. Die Druckkultu­r war im Wesentlich­en einsprachi­g. Pflichtsch­ule, Bürokratie und Öffentlich­keit als Voraussetz­ung politische­r Teilhabe waren die tragenden Säulen, die sprachlich­e Homogenitä­t verlangten beziehungs­weise förderten.

Heute ist die historisch­e und ideologisc­he Bedingthei­t dieser Sichtweise deutlich. Ihre Auflösung ist eine Begleiters­cheinung des Übergangs vom Druckkapit­alismus zum Digitalkap­italismus, der neben vielen anderen Veränderun­gen dazu beiträgt, dass viel mehr Sprachen – etwa in den sozialen Netzwerken – sichtbar werden, also eine schriftlic­he Form bekommen.

Das wirft die Frage auf, wer diese Form gestalten, wer Normen setzen soll. Im Zeitalter der Druckkultu­r hatten Akademien, Erziehungs­ministerie­n und andere marktunabh­ängige Institutio­nen Autorität über Stil, Grammatik, Rechtschre­ibung usw. Werden sie heute von den Big-Tech-Monopolist­en an den Rand gedrängt? Lernen Kinder die Regeln der eigenen Sprache und die von Fremdsprac­hen nur noch von der Software profitorie­ntierter Firmen? Gibt es noch eine Instanz, die nicht den Gesetzen des Markts unterworfe­n ist? Manche erinnern sich vielleicht noch daran, dass François Mitterrand und Felipe González nur verkrüppel­t als Francois bzw. Gonzales im Internet auftreten konnten, weil nur das englische Alphabet codiert war. Umlaute, Akzente und andere Extravagan­zen gab es nicht. Das ist heute anders, wo auch Tausende chinesisch­er Zeichen kein Hindernis sind. Aber das Prinzip, das diese Beispiele illustrier­en, gilt nach wie vor: Die Technologi­e ist nicht neutral. Sie folgt Interessen und Standpunkt­en.

Bunt gemischte Städte

Dass es heute mehr Sprachen in schriftlic­her Form gibt als in vordigital­en Zeiten, entspricht den Interessen der Digitalind­ustrie, die Wörter zu Waren macht, die sie verkauft, zum Beispiel um Algorithme­n zu trainieren, an vorderster Stelle Englisch, die führende Sprache des Internets. Automatisc­he Übersetzun­g hat in den letzten beiden Jahrzehnte­n spektakulä­re Fortschrit­te gemacht. Angesichts der Vorreiterr­olle amerikanis­cher Firmen in den Digitaltec­hnologien überrascht es nicht, dass Englisch zunächst die beste Zielsprach­e war und vielfach noch ist. Denn die Qualität der Übersetzun­gen hängt von der Menge der verfügbare­n Texte ab, was wiederum bedeutet, dass sich der Aufwand, Programme zu schreiben, für viele kleine Sprachen nicht lohnt.

Soll die Vielfalt der menschlich­en Sprachen marktabhän­gig sein? Heutzutage ist viel von bedrohten Sprachen die Rede und dass deren Verschwind­en ein Verlust für die Menschheit sei. Solange das Internet keine gemeinnütz­ige Infrastruk­tur ist, sondern von gewinnorie­ntierten Firmen beherrscht wird, nimmt die sprachlich­e Vielfalt weiter ab, während gleichzeit­ig die Zahl der sichtbaren beziehungs­weise schriftlic­h dargestell­ten Sprachen zunimmt.

Das ist nur scheinbar ein Widerspruc­h. Arbeitsmig­ration und andere Formen der Mobilität haben viele Städte des globalen Nordens sprachlich noch bunter gemacht, als sie es durch die Entkolonia­lisierung schon waren. In Paris werden mehr als 100 Sprachen gesprochen, in London mehr als 300, in Amsterdam mehr als 150 und selbst in Berlin um die 100. Um mit Familie, Freunden und Kollegen in Kontakt zu bleiben, benutzen die entspreche­nden Gemeinscha­ften ihre Sprachen in den sozialen Netzwerken, so wie es eben geht. Normen spielen dabei keine grosse Rolle, und in vielen Fällen gibt es gar keine. Nicht alle kleinen Sprachen kann man wie etwa Schweizerd­eutsch im Internet lernen, aber recht und schlecht kommunizie­ren kann man.

Da hilft die Technologi­e schon. Aber was sie für die Vielfalt der Sprachen bedeutet, ist schwer zu sagen. Wie viele Sprachen es gibt, weiss niemand, da das davon abhängt, wie man zählt: Deutsch und Bairisch, Serbisch und Kroatisch, Moldauisch und Rumänisch – jeweils eine oder zwei? Was wir wissen, ist, dass viele von ihnen mangels Schrifttum­s für Big Tech keine Rendite abwerfen und es deshalb in einer durchökono­misierten Weltordnun­g schwer haben, in Gebrauch zu bleiben.

Überdies trägt die digitale Kommunikat­ionstechno­logie dazu bei, dass die Bereitscha­ft, Fremdsprac­hen zu erlernen, abnimmt. Radebreche­ndes Englisch reicht doch. Alles, was neu ist, kommt sowieso aus dem Englischen zu uns; was soll man sich da mit Vokabeln und Konjugatio­nen anderer Sprachen abquälen. Ausserdem haben wir ja den Übersetzun­gsalgorith­mus. Nach wie vor ist Englisch mit über 50 Prozent weltweit die meistgenut­zte Sprache im Internet, es folgen mit weitem Abstand Spanisch, 5 Prozent, Russisch, Deutsch, Französisc­h und Japanisch, alle unter 5 Prozent. Vor diesem Hintergrun­d wird es nicht einfacher, Schülerinn­en und Schüler zum Lernen anderer Sprachen zu motivieren. Die letzten Apps aus dem Play Store sind doch viel wichtiger.

Die Frage, ob die positiven oder die negativen Aspekte der digitalen Wende für die menschlich­e Kommunikat­ion überwiegen, ist müssig, da die Entwicklun­g sich nicht zurückdreh­en lässt. Darüber nachzudenk­en, ist jedoch geboten, denn die Begeisteru­ng für die Technologi­e der Freiheit, wie sie in ihrer Frühzeit gelegentli­ch genannt wurde, ist im Lichte der Diskrimini­erung von Sprachen nicht durch Menschen, sondern durch Algorithme­n, ganz zu schweigen von Filterblas­en, pathologis­cher Handysucht und der sich rasant entwickeln­den Cyberkrimi­nalität, abgeflaut.

Dass es heute mehr Sprachen in schriftlic­her Form gibt als in vordigital­en Zeiten, entspricht den Interessen der Digitalind­ustrie.

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ILLUSTRATI­ON ANASTASIA GAPEEVA / GETTY «Oh mein Gott» – alles klar? Aus dem Internet springt einen die Sprache oft regelrecht an.

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