Als Basel zur «Kartellhauptstadt» wurde
Bei Preisabsprachen für Vitamine nahm Roche eine führende Rolle ein – bis die USA dem Treiben ein Ende setzten
Es war «die weitreichendste und schädlichste kriminelle Kartellverschwörung, die jemals aufgedeckt worden ist». Das amerikanische Department of Justice sparte an der Pressekonferenz, die am 20. Mai 1999 in Washington abgehalten wurde, nicht mit Superlativen. Und das zu Recht. Die Konspiration, welche die amerikanische Justiz vor 25 Jahren aufgedeckt hatte, wies ein riesiges Ausmass auf.
21 Vitaminhersteller aus Europa und Asien hatten 16 verschiedene Kartelle gebildet und, verteilt über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten, Absprachen getroffen, mit denen sie ihre Kunden systematisch übervorteilten. Wie sich weiter herausstellte, stand das Basler Unternehmen Roche im Zentrum des Komplotts; der Konzern hatte zusammen mit den Hauptmitverschwörern BASF und Rhône-Poulenc die Fäden gezogen. Roches Rädelsführerschaft trug Basel den wenig schmeichelhaften Titel «Kartellhauptstadt der Welt» ein.
Die gegen die Basler verhängten Strafen waren drakonisch. Zu den Bussen, welche die US-Behörden und später die EU-Behörden Roche auferlegten, kamen die Entschädigungen hinzu, die den geprellten Kunden zu entrichten waren. Alles in allem summierten sich die Zahlungen auf 5 Milliarden Franken. Eine zusätzliche Schmach war, dass drei Manager, die ins Roche-Vitamingeschäft involviert gewesen waren, in den USA mehrmonatige Gefängnisstrafen absitzen mussten. Dass nicht nur Firmen, sondern auch Firmenverantwortliche gebüsst wurden, war in der US-Kartellrechtsgeschichte ein Novum.
Datenspuren verwischt
Zum allgemeinen Erstaunen versicherte die oberste Konzernführung, von den Machenschaften nichts gewusst zu haben. Der Verwaltungsratspräsident Fritz Gerber machte geltend, erst von der amerikanischen Justiz ins Bild gesetzt worden zu sein, und der Geschäftsführer Franz Humer (seit 1996 operativer Chef und ab 1998 CEO) sprach von einer «ausgeklügelten Verschwörung, die von einer kleinen Gruppe von Angestellten vollkommen geheim gehalten worden war». Das waren rührende Beteuerungen, denen allerdings niemand ernsthaft Glauben schenkte.
Beispiellos war das Vitaminkartell nicht nur wegen seiner internationalen Dimension, sondern auch wegen der komplexen Organisation, die Roche und die Mitverschwörer aufgebaut hatten. Obschon die Vereinbarungen «vollkommen geheim» in der Abgeschiedenheit von Hotelhinterzimmern und Basler Privathäusern oder in Restaurants getroffen wurden, betrieb man das Kartell mit der Effizienz eines Einzelunternehmens. Die «Vitamin Inc.» hatte den Charakter eines Joint Venture, mit dem besonderen Merkmal allerdings, dass man Abmachungen mündlich traf und Datenspuren vermied oder verwischte.
Das wichtigste Kartell, gegründet 1989, war jenes für die Vitamine A und E, die damals grössten Produkte in dieser Wirkstoffkategorie. Was beeindruckte, war die Gewissenhaftigkeit, mit der die Verschwörer zu Werke gingen. Quartal für Quartal wurden Treffen abgehalten, deren Ablauf fix traktandiert war: Man legte Preise und Verkaufsquoten fest; man führte genau Buch über die Absatzzahlen aller Mitglieder, und falls es zu Abweichungen von den Vereinbarungen kam, wurden die Mengen nach festgelegten Regeln unter den Teilnehmern ausgeglichen.
Man beobachtete sich gegenseitig mit Argusaugen, und wer Vorgaben missachtete, musste mit Sanktionen rechnen (wobei Roche in der Rolle des einschüchternden Rabauken dafür sorgte, dass Verstösse gegen den Kartellkodex selten vorkamen). Geschah es, dass sich am Markt ein Drittanbieter blicken liess, der die Kartellpreise unterbot, stellte die «Vitamin Inc.» mit einem temporären Überangebot und Dumpingpreisen sicher, dass sich der Eindringling bald wieder verzog.
Zur Vernebelung des Kartells gehörte das bauernschlaue Vorgehen bei der Ankündigung von Preiserhöhungen. Bei jedem Quartalstreffen wurde festgelegt, welche Partei die nächste Runde ankündigen sollte. Mit diesem Rollenspiel wurde der Eindruck erweckt, die Preisführerschaft liege einmal beim einen Anbieter, dann wieder beim anderen.
Die «Vitamin A und E Inc.» war so erfolgreich, dass das Modell zur Vorlage für eine ganze Reihe weiterer Kartelle wurde. Nach dem gleichen Schema funktionierten die Syndikate für die Vitamine B2, B5, B6, B9, B12 sowie für Biotin und Carotinoide. Und überall hatte Roche massgeblich die Finger im Spiel.
Von alldem hatte die Konzernführung scheinbar nicht nur keine Ahnung; sie konnte sich offenbar auch nicht erklären, wie es zu den Absprachen gekommen war. «Es ist sicherlich nicht einfach, die Gründe für die Handlungen von Mitarbeitern zu verstehen, die heimlich eine Verschwörung dieser Art organisiert haben», sagte der CEO Humer an der Pressekonferenz in Washington.
Einst weltweiter Marktführer
Ganz so rätselhaft waren die Beweggründe der Preismanipulatoren allerdings nicht. Für das Verständnis bedarf es keines besonderen Spürsinns; es genügen ein paar Kenntnisse über die Entwicklung dieses speziellen Geschäfts.
Der Basler Konzern war beim Synthetisieren von Vitaminen einst Pionier gewesen und etablierte sich ab den 1930er Jahren weltweit als Marktführer. Man belieferte Produzenten, die Lebensmittel vitaminisierten, und baute so ein rasch wachsendes Tätigkeitsfeld auf; Anfang der 1940er Jahre machten die Vitamine die Hälfte der gesamten Firmenerlöse aus.
Der Erfolg erwies sich als nachhaltig, und Roches Vormachtstellung am Markt hielt bis in die 1990er Jahre an. Vitaminpreisabsprachen waren schon lange Teil des Geschäftsmodells – vor den 1990er Jahren einfach weniger formalisiert als nachher –, und namentlich in der kartellisierten Schweizer Wirtschaft wäre niemand auf die Idee gekommen, daran Anstoss zu nehmen.
Obschon die Vitaminproduktion erfreulich gedieh, stellte sie Roche vor ein Dilemma. Schon in den 1930er Jahren war absehbar, dass sich Vitamine zu einem Massengeschäft entwickeln würden, was namentlich dem damaligen Generaldirektor, Emil Barell, ein Dorn im Auge war. Für ihn war Roche ein Unternehmen, das hochwertige Pharmaspezialitäten herstellte und nicht Bulkware für den industriellen Gebrauch. Da das Vitamingeschäft jedoch ebenso lukrativ wie das Pharmageschäft war, beschloss man, beide Bereiche fortzuführen, womit die Lösung des Dilemmas auf die lange Bank geschoben wurde.
Ein formeller Waffenstillstand
Bei homogenisierten und standardisierten Massenprodukten wie den Vitaminen rückte der Preis als Differenzierungsfaktor unweigerlich ins Zentrum des kommerziellen Kalküls. Als in den 1970er Jahren der Wettbewerbsdruck grösser wurde, weil deutsche Firmen wie BASF und Merck in den Vitaminmarkt vordrangen, wurde der Preis zunehmend zum Kampfinstrument. Um die Vormachtstellung zu verteidigen, gewährte Roche seinen Kunden Treuerabatte, wenn sie die Vitamine in Basel bezogen und nicht bei der Konkurrenz – ein Lockangebot, das nach EG-Recht verboten war.
Ein (verärgerter) Roche-Manager erstattete bei der Wettbewerbsbehörde daraufhin in Brüssel Anzeige, worauf der Konzern eine hohe Busse erhielt. Das Ganze wurde als Stanley-AdamsAffäre bekannt.
Nach diesem ersten Vitaminskandal war das Vordringen konkurrierender Anbieter – nebst BASF und Merck auch Rhône-Poulenc oder Hoechst – nicht mehr zu verhindern, und die Preiskämpfe wurden intensiver. Roche war genötigt, immer grössere und leistungsfähigere Produktionsanlagen zu bauen, um die Kosten den sinkenden Preisen entsprechend tief zu halten. Angesichts des wachsenden Drucks war es naheliegend, mit den Konkurrenten einen formellen Waffenstillstand zu vereinbaren und mithilfe eines Syndikats dem ruinösen Wettbewerb ein Ende zu bereiten.
Die Kartellvereinbarung fiel umso leichter, als in den 1980er Jahren chinesische Anbieter am Vitaminmarkt aufgetaucht waren, die mit preiswerter Ware den Wettbewerb weiter anheizten. Das bestärkte die Europäer in ihrem Plan (an dem am Rande auch Japaner beteiligt waren), sich mit einem Schulterschluss gegen die Eindringlinge aus dem Osten zu wehren. Dank dem Kartell gelang es, die Vitaminpreise trotz wachsender Konkurrenz regelmässig zu erhöhen, und es fällt schwer zu glauben, dass dieses Kuriosum der Roche-Führung nicht aufgefallen sein soll.
Die Allianz gegen China war auch eine Allianz gegen die USA, die zu den bedeutendsten Abnehmern der Vitamine zählten. Anfänglich liessen sich die höheren Preise dort mühelos durchsetzen. Was Roche und seine Mitstreiter jedoch nicht erkannten, war der Gesinnungswandel, der sich in Amerika abzuzeichnen begann. Bis Anfang der 1990er Jahre konnte man davon ausgehen, dass die USA nicht imstande waren, gegen internationale Preiskartelle vorzugehen. Es gab zwar die Sherman Act (von 1890), die Absprachen verbot; länderübergreifend war die Bestimmung jedoch nicht durchsetzbar.
1993 beschloss die Regierung von Präsident Bill Clinton dann allerdings, die Antitrust-Politik zu verschärfen und – im Zuge der beschleunigten Globalisierung und der höheren Reichweite der amerikanischen Unternehmen – auch gegen globale Preisabsprachen vorzugehen. Um Kartellisten das Handwerk zu legen, schuf man neue Rechtsinstrumente: So wurde etwa die Verwendung von Tonbandaufnahmen konspirativer Treffen vor Gericht erlaubt.
Radikaler Strategiewechsel
Noch bedeutsamer war, dass man entschied, reumütigen Whistleblowern im Rahmen von Kronzeugenregelungen Straffreiheit zu gewähren. Absprachen, die in der Schweiz noch als Kavaliersdelikt galten, wurden in den USA mit einem Mal kriminalisiert. Das wurde Roche zum Verhängnis.
Der Abtrünnige, der die «Vitamin Inc.» als Kronzeuge mit einem Schuldbekenntnis beim Department of Justice zu Fall brachte, war Rhône-Poulenc. Der Grund für die Beichte war, dass die Franzosen Fusionsgespräche mit Hoechst begonnen hatten (woraus schliesslich Aventis entstand) und sicherstellen wollten, dass die Amerikaner ihre Pläne nicht durchkreuzten. Damit der neue Pharmakonzern seine Geschäfte künftig am amerikanischen Markt tätigen konnte, bedurfte es des Segens der amerikanischen Behörden. Der Preis für das Wohlwollen Washingtons war die Selbstanklage. Die Franzosen bewiesen damit zum einen, dass ihnen das Hemd näher war als die Hose, zum andern, dass für sie das Pharmageschäft zukunftsträchtiger schien als jenes mit Vitaminen.
Eine ähnliche Erleuchtung hatte man kurze Zeit später auch bei Roche. Das Dilemma Massenware contra Spezialitäten, das seit den 1930er Jahren bestanden hatte, wurde gelöst, allerdings nicht durch das Management, sondern durch die misslichen Umstände. Die exorbitanten Bussen und die Aussicht, ohne Kartelle fortan mit chronisch tiefen Vitaminpreisen rechnen zu müssen, gaben Anlass zu einem radikalen Strategiewechsel. 2002 verkaufte Roche das Vitamingeschäft für 3,4 Milliarden Franken an die niederländische DSMGruppe. Die Basler wandten sich so von der Bulkware ab.
Man setzte alles auf die Karte hochspezialisierte Krebsmittel – ein riskantes Manöver, das sich, wie man heute weiss, auszahlte. Auch ohne den Charakter von Massenware anzunehmen, erreichten die biotechnologisch hergestellten Krebsmittel riesige Umsätze. Verantwortlich dafür waren erneut hohe Preise, die sich nun allerdings ganz regulär erzielen liessen.
Zum allgemeinen Erstaunen versicherte die Konzernführung, von den Machenschaften nichts gewusst zu haben.