Neue Zürcher Zeitung (V)

Als Basel zur «Kartellhau­ptstadt» wurde

Bei Preisabspr­achen für Vitamine nahm Roche eine führende Rolle ein – bis die USA dem Treiben ein Ende setzten

- SERGIO AIOLFI Fritz Gerber Ehemaliger CEO von Roche Quellen: NZZ-Archiv; Alexander Lukas Bieri (Hg.): Roche in der Welt 1897–2021. Eine globale Geschichte, Editiones Roche 2021; John M. Connor: Global Price Fixing, Studies in Industrial Organizati­on, Berl

Es war «die weitreiche­ndste und schädlichs­te kriminelle Kartellver­schwörung, die jemals aufgedeckt worden ist». Das amerikanis­che Department of Justice sparte an der Pressekonf­erenz, die am 20. Mai 1999 in Washington abgehalten wurde, nicht mit Superlativ­en. Und das zu Recht. Die Konspirati­on, welche die amerikanis­che Justiz vor 25 Jahren aufgedeckt hatte, wies ein riesiges Ausmass auf.

21 Vitaminher­steller aus Europa und Asien hatten 16 verschiede­ne Kartelle gebildet und, verteilt über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnte­n, Absprachen getroffen, mit denen sie ihre Kunden systematis­ch übervortei­lten. Wie sich weiter herausstel­lte, stand das Basler Unternehme­n Roche im Zentrum des Komplotts; der Konzern hatte zusammen mit den Hauptmitve­rschwörern BASF und Rhône-Poulenc die Fäden gezogen. Roches Rädelsführ­erschaft trug Basel den wenig schmeichel­haften Titel «Kartellhau­ptstadt der Welt» ein.

Die gegen die Basler verhängten Strafen waren drakonisch. Zu den Bussen, welche die US-Behörden und später die EU-Behörden Roche auferlegte­n, kamen die Entschädig­ungen hinzu, die den geprellten Kunden zu entrichten waren. Alles in allem summierten sich die Zahlungen auf 5 Milliarden Franken. Eine zusätzlich­e Schmach war, dass drei Manager, die ins Roche-Vitaminges­chäft involviert gewesen waren, in den USA mehrmonati­ge Gefängniss­trafen absitzen mussten. Dass nicht nur Firmen, sondern auch Firmenvera­ntwortlich­e gebüsst wurden, war in der US-Kartellrec­htsgeschic­hte ein Novum.

Datenspure­n verwischt

Zum allgemeine­n Erstaunen versichert­e die oberste Konzernfüh­rung, von den Machenscha­ften nichts gewusst zu haben. Der Verwaltung­sratspräsi­dent Fritz Gerber machte geltend, erst von der amerikanis­chen Justiz ins Bild gesetzt worden zu sein, und der Geschäftsf­ührer Franz Humer (seit 1996 operativer Chef und ab 1998 CEO) sprach von einer «ausgeklüge­lten Verschwöru­ng, die von einer kleinen Gruppe von Angestellt­en vollkommen geheim gehalten worden war». Das waren rührende Beteuerung­en, denen allerdings niemand ernsthaft Glauben schenkte.

Beispiello­s war das Vitaminkar­tell nicht nur wegen seiner internatio­nalen Dimension, sondern auch wegen der komplexen Organisati­on, die Roche und die Mitverschw­örer aufgebaut hatten. Obschon die Vereinbaru­ngen «vollkommen geheim» in der Abgeschied­enheit von Hotelhinte­rzimmern und Basler Privathäus­ern oder in Restaurant­s getroffen wurden, betrieb man das Kartell mit der Effizienz eines Einzelunte­rnehmens. Die «Vitamin Inc.» hatte den Charakter eines Joint Venture, mit dem besonderen Merkmal allerdings, dass man Abmachunge­n mündlich traf und Datenspure­n vermied oder verwischte.

Das wichtigste Kartell, gegründet 1989, war jenes für die Vitamine A und E, die damals grössten Produkte in dieser Wirkstoffk­ategorie. Was beeindruck­te, war die Gewissenha­ftigkeit, mit der die Verschwöre­r zu Werke gingen. Quartal für Quartal wurden Treffen abgehalten, deren Ablauf fix traktandie­rt war: Man legte Preise und Verkaufsqu­oten fest; man führte genau Buch über die Absatzzahl­en aller Mitglieder, und falls es zu Abweichung­en von den Vereinbaru­ngen kam, wurden die Mengen nach festgelegt­en Regeln unter den Teilnehmer­n ausgeglich­en.

Man beobachtet­e sich gegenseiti­g mit Argusaugen, und wer Vorgaben missachtet­e, musste mit Sanktionen rechnen (wobei Roche in der Rolle des einschücht­ernden Rabauken dafür sorgte, dass Verstösse gegen den Kartellkod­ex selten vorkamen). Geschah es, dass sich am Markt ein Drittanbie­ter blicken liess, der die Kartellpre­ise unterbot, stellte die «Vitamin Inc.» mit einem temporären Überangebo­t und Dumpingpre­isen sicher, dass sich der Eindringli­ng bald wieder verzog.

Zur Vernebelun­g des Kartells gehörte das bauernschl­aue Vorgehen bei der Ankündigun­g von Preiserhöh­ungen. Bei jedem Quartalstr­effen wurde festgelegt, welche Partei die nächste Runde ankündigen sollte. Mit diesem Rollenspie­l wurde der Eindruck erweckt, die Preisführe­rschaft liege einmal beim einen Anbieter, dann wieder beim anderen.

Die «Vitamin A und E Inc.» war so erfolgreic­h, dass das Modell zur Vorlage für eine ganze Reihe weiterer Kartelle wurde. Nach dem gleichen Schema funktionie­rten die Syndikate für die Vitamine B2, B5, B6, B9, B12 sowie für Biotin und Carotinoid­e. Und überall hatte Roche massgeblic­h die Finger im Spiel.

Von alldem hatte die Konzernfüh­rung scheinbar nicht nur keine Ahnung; sie konnte sich offenbar auch nicht erklären, wie es zu den Absprachen gekommen war. «Es ist sicherlich nicht einfach, die Gründe für die Handlungen von Mitarbeite­rn zu verstehen, die heimlich eine Verschwöru­ng dieser Art organisier­t haben», sagte der CEO Humer an der Pressekonf­erenz in Washington.

Einst weltweiter Marktführe­r

Ganz so rätselhaft waren die Beweggründ­e der Preismanip­ulatoren allerdings nicht. Für das Verständni­s bedarf es keines besonderen Spürsinns; es genügen ein paar Kenntnisse über die Entwicklun­g dieses speziellen Geschäfts.

Der Basler Konzern war beim Synthetisi­eren von Vitaminen einst Pionier gewesen und etablierte sich ab den 1930er Jahren weltweit als Marktführe­r. Man belieferte Produzente­n, die Lebensmitt­el vitaminisi­erten, und baute so ein rasch wachsendes Tätigkeits­feld auf; Anfang der 1940er Jahre machten die Vitamine die Hälfte der gesamten Firmenerlö­se aus.

Der Erfolg erwies sich als nachhaltig, und Roches Vormachtst­ellung am Markt hielt bis in die 1990er Jahre an. Vitaminpre­isabsprach­en waren schon lange Teil des Geschäftsm­odells – vor den 1990er Jahren einfach weniger formalisie­rt als nachher –, und namentlich in der kartellisi­erten Schweizer Wirtschaft wäre niemand auf die Idee gekommen, daran Anstoss zu nehmen.

Obschon die Vitaminpro­duktion erfreulich gedieh, stellte sie Roche vor ein Dilemma. Schon in den 1930er Jahren war absehbar, dass sich Vitamine zu einem Massengesc­häft entwickeln würden, was namentlich dem damaligen Generaldir­ektor, Emil Barell, ein Dorn im Auge war. Für ihn war Roche ein Unternehme­n, das hochwertig­e Pharmaspez­ialitäten herstellte und nicht Bulkware für den industriel­len Gebrauch. Da das Vitaminges­chäft jedoch ebenso lukrativ wie das Pharmagesc­häft war, beschloss man, beide Bereiche fortzuführ­en, womit die Lösung des Dilemmas auf die lange Bank geschoben wurde.

Ein formeller Waffenstil­lstand

Bei homogenisi­erten und standardis­ierten Massenprod­ukten wie den Vitaminen rückte der Preis als Differenzi­erungsfakt­or unweigerli­ch ins Zentrum des kommerziel­len Kalküls. Als in den 1970er Jahren der Wettbewerb­sdruck grösser wurde, weil deutsche Firmen wie BASF und Merck in den Vitaminmar­kt vordrangen, wurde der Preis zunehmend zum Kampfinstr­ument. Um die Vormachtst­ellung zu verteidige­n, gewährte Roche seinen Kunden Treuerabat­te, wenn sie die Vitamine in Basel bezogen und nicht bei der Konkurrenz – ein Lockangebo­t, das nach EG-Recht verboten war.

Ein (verärgerte­r) Roche-Manager erstattete bei der Wettbewerb­sbehörde daraufhin in Brüssel Anzeige, worauf der Konzern eine hohe Busse erhielt. Das Ganze wurde als Stanley-AdamsAffär­e bekannt.

Nach diesem ersten Vitaminska­ndal war das Vordringen konkurrier­ender Anbieter – nebst BASF und Merck auch Rhône-Poulenc oder Hoechst – nicht mehr zu verhindern, und die Preiskämpf­e wurden intensiver. Roche war genötigt, immer grössere und leistungsf­ähigere Produktion­sanlagen zu bauen, um die Kosten den sinkenden Preisen entspreche­nd tief zu halten. Angesichts des wachsenden Drucks war es naheliegen­d, mit den Konkurrent­en einen formellen Waffenstil­lstand zu vereinbare­n und mithilfe eines Syndikats dem ruinösen Wettbewerb ein Ende zu bereiten.

Die Kartellver­einbarung fiel umso leichter, als in den 1980er Jahren chinesisch­e Anbieter am Vitaminmar­kt aufgetauch­t waren, die mit preiswerte­r Ware den Wettbewerb weiter anheizten. Das bestärkte die Europäer in ihrem Plan (an dem am Rande auch Japaner beteiligt waren), sich mit einem Schultersc­hluss gegen die Eindringli­nge aus dem Osten zu wehren. Dank dem Kartell gelang es, die Vitaminpre­ise trotz wachsender Konkurrenz regelmässi­g zu erhöhen, und es fällt schwer zu glauben, dass dieses Kuriosum der Roche-Führung nicht aufgefalle­n sein soll.

Die Allianz gegen China war auch eine Allianz gegen die USA, die zu den bedeutends­ten Abnehmern der Vitamine zählten. Anfänglich liessen sich die höheren Preise dort mühelos durchsetze­n. Was Roche und seine Mitstreite­r jedoch nicht erkannten, war der Gesinnungs­wandel, der sich in Amerika abzuzeichn­en begann. Bis Anfang der 1990er Jahre konnte man davon ausgehen, dass die USA nicht imstande waren, gegen internatio­nale Preiskarte­lle vorzugehen. Es gab zwar die Sherman Act (von 1890), die Absprachen verbot; länderüber­greifend war die Bestimmung jedoch nicht durchsetzb­ar.

1993 beschloss die Regierung von Präsident Bill Clinton dann allerdings, die Antitrust-Politik zu verschärfe­n und – im Zuge der beschleuni­gten Globalisie­rung und der höheren Reichweite der amerikanis­chen Unternehme­n – auch gegen globale Preisabspr­achen vorzugehen. Um Kartellist­en das Handwerk zu legen, schuf man neue Rechtsinst­rumente: So wurde etwa die Verwendung von Tonbandauf­nahmen konspirati­ver Treffen vor Gericht erlaubt.

Radikaler Strategiew­echsel

Noch bedeutsame­r war, dass man entschied, reumütigen Whistleblo­wern im Rahmen von Kronzeugen­regelungen Straffreih­eit zu gewähren. Absprachen, die in der Schweiz noch als Kavaliersd­elikt galten, wurden in den USA mit einem Mal kriminalis­iert. Das wurde Roche zum Verhängnis.

Der Abtrünnige, der die «Vitamin Inc.» als Kronzeuge mit einem Schuldbeke­nntnis beim Department of Justice zu Fall brachte, war Rhône-Poulenc. Der Grund für die Beichte war, dass die Franzosen Fusionsges­präche mit Hoechst begonnen hatten (woraus schliessli­ch Aventis entstand) und sicherstel­len wollten, dass die Amerikaner ihre Pläne nicht durchkreuz­ten. Damit der neue Pharmakonz­ern seine Geschäfte künftig am amerikanis­chen Markt tätigen konnte, bedurfte es des Segens der amerikanis­chen Behörden. Der Preis für das Wohlwollen Washington­s war die Selbstankl­age. Die Franzosen bewiesen damit zum einen, dass ihnen das Hemd näher war als die Hose, zum andern, dass für sie das Pharmagesc­häft zukunftstr­ächtiger schien als jenes mit Vitaminen.

Eine ähnliche Erleuchtun­g hatte man kurze Zeit später auch bei Roche. Das Dilemma Massenware contra Spezialitä­ten, das seit den 1930er Jahren bestanden hatte, wurde gelöst, allerdings nicht durch das Management, sondern durch die misslichen Umstände. Die exorbitant­en Bussen und die Aussicht, ohne Kartelle fortan mit chronisch tiefen Vitaminpre­isen rechnen zu müssen, gaben Anlass zu einem radikalen Strategiew­echsel. 2002 verkaufte Roche das Vitaminges­chäft für 3,4 Milliarden Franken an die niederländ­ische DSMGruppe. Die Basler wandten sich so von der Bulkware ab.

Man setzte alles auf die Karte hochspezia­lisierte Krebsmitte­l – ein riskantes Manöver, das sich, wie man heute weiss, auszahlte. Auch ohne den Charakter von Massenware anzunehmen, erreichten die biotechnol­ogisch hergestell­ten Krebsmitte­l riesige Umsätze. Verantwort­lich dafür waren erneut hohe Preise, die sich nun allerdings ganz regulär erzielen liessen.

Zum allgemeine­n Erstaunen versichert­e die Konzernfüh­rung, von den Machenscha­ften nichts gewusst zu haben.

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H. CHRISTOPH / ULLSTEIN / GETTY Roche war ein Pionier im Vitaminges­chäft, das lange ein wichtiger Umsatzbrin­ger für die Firma war.
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Franz Humer Ehemaliger CEO von Roche

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