Die Atombombe war für Kahn die letzte Option
Das Werk des Abschreckungstheoretikers ist wieder aktuell
igl. · Seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine tauchen Vokabular und Strategien aus dem Kalten Krieg wieder auf. Der russische Präsident hat mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht, China erweitert sein Atomarsenal, und wichtige internationale Abrüstungsvereinbarungen werden ausgesetzt. Vielleicht wird Iran bald eigene Nuklearwaffen haben, Nordkorea bleibt ohnehin unberechenbar. Die Atombombe ist zurück, und mit ihr die Angst: Wird es bald zum Einsatz der Waffe kommen? Es wäre ein Tabubruch.
Unter Militärstrategen wird daher wieder das Werk von Herman Kahn besprochen. Er war der populärste Abschreckungstheoretiker des Kalten Krieges und beeinflusste Staatsmänner wie Ronald Reagan oder Henry Kissinger. Kahns Leitsatz war es, über das Undenkbare nachzudenken. Nur wer davon ausgehe, dass der Atomkrieg tatsächlich stattfinde, könne ihn auch gewinnen. Ein Atomkrieg führe nicht zwangsläufig zur Auslöschung der Menschheit.
Kahn dachte rational und entwickelte Szenarien, um das Undenkbare so möglicherweise verhindern zu können. Er machte den Amerikanern klar: Wer den Krieg unter keinen Umständen führen wolle, bewirke genau das Gegenteil. Nur wer glaubwürdig mache, dass er im Zweifel auch Atombomben einsetze, schrecke seine Gegner ab. Doch der Einsatz von Atomwaffen war für Kahn stets die allerletzte Option, je nach Szenario lasse sich eine atomare Konfrontation auch mit weniger endgültigen Mitteln bewältigen. Er sprach von einer Eskalationsleiter.
Herman Kahn wurde 1922 in den USA als Sohn jüdischer Einwanderer aus Polen geboren, er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Später studierte er Mathematik und Physik und beriet schliesslich die amerikanische Regierung in Verteidigungsfragen. Kahn war hochintelligent, bei einem Intelligenztest des amerikanischen Militärs erzielte er derart gute Ergebnisse, dass man Robert Oppenheimer informierte, den Vater der amerikanischen Atombombe. Kahn arbeitete daraufhin eine Weile an der Entwicklung der Wasserstoffbombe mit. Mit seinem Denken wurde Kahn weltweit berühmt.
Die Atombombe ist zurück, und mit ihr die Angst. Seit Wladimir Putin im Ukraine-Krieg mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht hat, rätseln die Regierungen im Westen: alles nur Rhetorik und Bluff? Oder ist dem russischen Diktator der Tabubruch zuzutrauen, wenn er militärisch in die Enge gedrängt wird?
Auf jeden Fall hat Putin Wirkung erzielt. Plötzlich tauchen Vokabular und Strategien aus dem Kalten Krieg wieder in der politischen Arena auf. Verstärkt noch durch das massive Wettrüsten auf der Welt, etwa in China, das sein Atomarsenal zügig erweitert. Während zugleich wichtige Abrüstungsvereinbarungen ausgesetzt wurden. New Start, der letzte Vertrag zur Begrenzung der strategischen Nuklearkräfte, ist von Russland und den USA nicht verlängert worden, er läuft Anfang 2026 aus. «Wir driften in eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte», sagt Dan Smith, der Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri.
Und so wird unter Militärstrategen auch wieder das Werk eines Mannes diskutiert, der in den letzten Jahrzehnten höchstens noch als bombenbesessene Karikatur mit Kugelbauch erinnert wurde: Herman Kahn, amerikanischer Futurologe und der populärste Abschreckungstheoretiker während des Kalten Krieges. Ronald Reagan nannte ihn einst einen «Giganten», Henry Kissinger sein Schaffen «wahrlich grossartig». Stanley Kubrick setzte ihm mit «Dr. Strangelove» ein groteskes filmisches Denkmal.
Supergenie im Think-Tank
«Nachdenken über das Undenkbare», lautete Herman Kahns Leitsatz. Und so analysierte der selbsternannte «Clausewitz des Atomzeitalters» mit gelehrter Ernsthaftigkeit die Folgen eines Nuklearkriegs, spielte theoretisch Szenario um Szenario durch – mit Zerstörungszonen, Strahlungsfallout, Megatonnen und Megadeath. Sein Ziel: «Die Gefahren eines atomaren Weltenbrandes dem Kalkül menschlichen Geistes zu unterwerfen».
Zu lange, so kritisierte Kahn, habe es die Gesellschaft versäumt, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Zu stark sei der Glaube an ein «Gleichgewicht des Schreckens». Und zu starr das Denken von «alles oder nichts», sollte es doch je zum Nuklearinferno kommen. Seine These, die ihn berühmt und berüchtigt machte, lautete: Der Atomkrieg ist eine reale Möglichkeit, er kann gewonnen werden, und er hat nicht zwingend die Auslöschung der Menschheit zur Folge. «There are degrees of awfulness», sagte Kahn – es gibt Abstufungen der Schrecklichkeit.
Geboren wurde Herman Kahn im Jahr 1922 als Spross jüdischer Einwanderer aus Polen. Er wuchs in der Bronx in ärmlichen Verhältnissen auf, interessierte sich schon als Kind für ScienceFiction und Naturwissenschaften. Später studierte er Mathematik und Physik in Kalifornien, schlug dann aber keine akademische Laufbahn ein, sondern machte eine Karriere, die nur im Kontext des Kalten Kriegs denkbar war. Er wurde zu einem «civilian defense intellectual». 1948 startete er im ersten und wichtigsten der damals neu entstehenden Think-Tanks – der Rand Corporation, welche die amerikanische Regierung und das Militär in Verteidigungsfragen beriet.
Kahns Intelligenzquotient war damals schon legendär: Beim Army General Classification Test, der Diagnose, ob er geeignet sei, fiel sein IQ so sensationell hoch aus, dass Robert Oppenheimer informiert wurde, der Vater der amerikanischen Atombombe. «Supergenie» Kahn arbeitete dann vorübergehend im Team, das an der Entwicklung der Wasserstoffbombe tüftelte. Vor allem aber dachte er den Krieg im atomaren Zeitalter neu: mit kühler Rationalität, mathematischen Formeln, Spieltheorie und Stochastik. «Wir versuchen, Szenarien zu entwickeln, und so die Geschichte zu bewältigen, bevor sie passiert», lautete der Anspruch. Die Kritik von Veteranen, den Akademikern fehle die militärische Erfahrung, konterte er mit der Frage: «Wie viele thermonukleare Kriege haben Sie schon gekämpft?»
Hunderte Millionen Tote
Herman Kahn füllte Vortragssäle im ganzen Land, trug auf unterhaltsame Weise vor, was höchst verstörend war. 1960 erschienen seine Ausführungen in Buchform: «Vom thermonuklearen Krieg», 650 Seiten dick und sogleich Gesprächsstoff unter Politikern und Militärs – im Westen wie hinter dem Eisernen Vorhang. Kahn rechnete den Amerikanern vor, dass die Vorstellung, unter keinen Umständen den atomaren Konflikt führen zu wollen, genau das Gegenteil bewirken könne von dem, was beabsichtigt sei: Sie mache die erwünschte Abschreckung hinfällig und führe zu politischer Erpressbarkeit. Der Gegner müsse davon ausgehen, dass alles Verfügbare auch eingesetzt werde: «Wir wollen sogar die Verrückten abschrecken!» Das neue Zauberwort hiess Glaubwürdigkeit. Nur wer glaubwürdig zu verstehen gibt, dass er im Zweifel vor nichts zurückschreckt, schreckt seine Feinde ab. Krieg als Feiglingsspiel.
Anhand von Modellen zeigte Kahn, dass ein Atomkrieg bei der richtigen Vorbereitung – sprich: hohen Investitionen im Zivilschutz – auch keinesfalls das Ende der USA oder der Menschheit bedeutete. «In dem schlimmsten Krieg, mit dem wir uns theoretisch befasst haben, wurden mehr als hundert Millionen Amerikaner, hundert Millionen Russen, zweihundert bis dreihundert Millionen Europäer und fast alle Chinesen getötet», sagte er einmal im deutschen «Spiegel». Und eine verstrahlte und zerstörte Umwelt wollte er auch nicht überdramatisieren: «Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, dass die Überlebenden die Toten beneidet hätten.»
Während Kahns Studie für die Planer im Pentagon als neue Bibel galt, gab es anderswo Empörung. In der Zeitschrift «Scientific American» schrieb ein Rezensent: «Es handelt sich um ein moralisches Traktat über Massenmord: Wie man ihn plant und ausführt, danach straffrei bleibt und ihn noch rechtfertigt.» Kahn wurde vorgeworfen, er fördere den Militarismus, er rede die Gefahren des Atomkriegs klein und mache ihn so wahrscheinlicher. Es gab indes auch Pazifisten, die das Buch begrüssten, da es vor Augen führe, dass es im Grunde nur einen Ausweg gäbe: die totale Abrüstung. Kahn selbst wusste, dass «ein Buch dieser Art eine Gefahr» sei. «Es könnte die Sowjets zu einer Probe aufs Exempel ermutigen», schrieb er im Vorwort. Aber weil es nun einmal Atomwaffen gab, konnten sie auch eingesetzt werden – und darüber müsse nachgedacht werden.
Eskalieren – in 44 Stufen
Nach den Erfahrungen der Kuba-Krise 1962, die mit viel Glück und John F. Kennedys atomarer Drohung glimpflich ausgegangen war, legte Kahn eine weitere Studie vor: «Eskalation – Die Politik mit der Vernichtungsspirale». Dafür hatte er die Kriege der Menschheitsgeschichte studiert und eine Eskalationsleiter entwickelt, die 44 Sprossen umfasste – von der politischen Petitesse bis zum Armageddon. Damit wollte Kahn verdeutlichen, dass Konflikte nach gewissen Spielregeln ablaufen und dass nicht blinde Unvernunft herrschen würde, die unvermeidlich ins Verderben führe. Auch eine nukleare Konfrontation liesse sich also je nach Szenario Schritt für Schritt bewältigen, dozierte er.
Wie einflussreich Herman Kahn war, zeigte sich 1967, als die USA und die Nato in ihrer Doktrin zu einer «Strategie der flexiblen Antwort» wechselte, die bis zum Ende des Kalten Kriegs gültig blieb. Sie sah als Reaktion auf einen nuklearen Angriff nicht mehr automatisch einen massiven Atomwaffeneinsatz vor, sondern sie hielt mehrere Optionen offen, dosiert oder umfassend zu antworten, nuklear oder konventionell.
Längst hatte es Kahn, der bebrillte 300-Pfund-Nerd, zu internationaler Popularität gebracht. Zeitungen, Magazine und TV-Teams reisten an, um den «fleischgewordenen Computer» (so der britische «Guardian») zu porträtieren. 1961 hatte er die Rand Corporation verlassen und eine eigene Denkfabrik gegründet – das Hudson-Institut, in einer ehemaligen Alkoholikerklinik ausserhalb New Yorks untergebracht, samt Golfplatz und 20 Hektaren Wald. «Es wirkt alles eher unorganisiert und lässig», beschrieb der amerikanische Journalist Arthur Herzog einmal die Atmosphäre in diesen neuen Fabriken ohne Fliessbänder: «Die grossen schwarzen Wandtafeln sind voll von urtümlichen Krakeln, man sieht, dass hier jemand nachgedacht hat. Aber die meiste Zeit scheinen die Leute miteinander zu reden, endlos.»
«Die Sichtweise Gottes»
Geradezu megaloman war der Anspruch der Zukunftsforschung, wie sie Hermann Kahn verstand: «Wir nehmen die Sichtweise Gottes. Die Sichtweise des Präsidenten. Gross. Aus der Luft. Global. Galaktisch. Ätherisch. Räumlich. Insgesamt.» Er beschäftigte sich weiter mit Fragen des Nuklearkriegs, beriet die amerikanische Regierung, gab in den Medien Auskunft. Aber das machte nur noch einen Teil seiner Arbeit aus. Er extrapolierte nunmehr allerlei Techniktrends in die Zukunft – von der Raumfahrt bis zur Robotik – oder die Wirtschaftsentwicklung Japans und Deutschlands, immer optimistisch und fortschrittsgläubig. In seinem Bestseller «Ihr werdet es erleben» schrieb er, was im Jahr 2000 auf die Menschheit zukommen dürfte: eine Lebenserwartung von 100 bis 150 Jahren, programmierbare Träume, die Kontrolle über das Klima und, als «sehr wahrscheinlich», die Nutzung nuklearer Sprengsätze im Berg- und Tiefbau.
Das meiste kam nicht so, wie es Herman Kahn vorausgesehen hatte. Er starb 1983, erst 61-jährig, an einem Herzinfarkt. Seine futurologischen Bücher gelten heute als sonderbare Relikte einer untergegangenen Epoche. Auch seine nuklearstrategischen Studien wurden nach dem Ende des Kalten Krieges höchstens noch als Dokumente eines wahnwitzigen Zeitgeistes gelesen. Das könnte sich nun ändern: angesichts der neuen Grossmachtrivalität zwischen den USA und China sowie dem Neoimperialismus Russlands, angesichts schwer berechenbarer Atomwaffenstaaten wie Nordkorea oder vielleicht bald Iran – und fehlenden Rüstungskontrollen. Der frühere Nato-Oberkommandierende James Stavridis hat bereits auf Herman Kahn und dessen Eskalationsleiter zurückgegriffen: In seinem Bestseller «2034: A Novel of the Next World War» endet die Handlung mit dem Einsatz strategischer Nuklearwaffen auf Grossstädte.
«Was treibt einen Vier-Sterne-Admiral an, einen Thriller zu schreiben?», fragte ihn die «Zeit». Stavridis’ Antwort: «Ich glaube, es gibt heute einen Mangel an Vorstellungskraft hinsichtlich der Möglichkeit eines weiteren Weltkriegs.» Oder wie es Herman Kahn formuliert hätte: «Man muss über das Undenkbare nachdenken.»
Das neue Zauberwort hiess Glaubwürdigkeit. Nur wer glaubwürdig zu verstehen gibt, dass er im Zweifel vor nichts zurückschreckt, schreckt seine Feinde ab.