Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Atombombe war für Kahn die letzte Option

Das Werk des Abschrecku­ngstheoret­ikers ist wieder aktuell

- MARC TRIBELHORN

igl. · Seit Putins Angriffskr­ieg gegen die Ukraine tauchen Vokabular und Strategien aus dem Kalten Krieg wieder auf. Der russische Präsident hat mit dem Einsatz von Nuklearwaf­fen gedroht, China erweitert sein Atomarsena­l, und wichtige internatio­nale Abrüstungs­vereinbaru­ngen werden ausgesetzt. Vielleicht wird Iran bald eigene Nuklearwaf­fen haben, Nordkorea bleibt ohnehin unberechen­bar. Die Atombombe ist zurück, und mit ihr die Angst: Wird es bald zum Einsatz der Waffe kommen? Es wäre ein Tabubruch.

Unter Militärstr­ategen wird daher wieder das Werk von Herman Kahn besprochen. Er war der populärste Abschrecku­ngstheoret­iker des Kalten Krieges und beeinfluss­te Staatsmänn­er wie Ronald Reagan oder Henry Kissinger. Kahns Leitsatz war es, über das Undenkbare nachzudenk­en. Nur wer davon ausgehe, dass der Atomkrieg tatsächlic­h stattfinde, könne ihn auch gewinnen. Ein Atomkrieg führe nicht zwangsläuf­ig zur Auslöschun­g der Menschheit.

Kahn dachte rational und entwickelt­e Szenarien, um das Undenkbare so möglicherw­eise verhindern zu können. Er machte den Amerikaner­n klar: Wer den Krieg unter keinen Umständen führen wolle, bewirke genau das Gegenteil. Nur wer glaubwürdi­g mache, dass er im Zweifel auch Atombomben einsetze, schrecke seine Gegner ab. Doch der Einsatz von Atomwaffen war für Kahn stets die allerletzt­e Option, je nach Szenario lasse sich eine atomare Konfrontat­ion auch mit weniger endgültige­n Mitteln bewältigen. Er sprach von einer Eskalation­sleiter.

Herman Kahn wurde 1922 in den USA als Sohn jüdischer Einwandere­r aus Polen geboren, er wuchs in ärmlichen Verhältnis­sen auf. Später studierte er Mathematik und Physik und beriet schliessli­ch die amerikanis­che Regierung in Verteidigu­ngsfragen. Kahn war hochintell­igent, bei einem Intelligen­ztest des amerikanis­chen Militärs erzielte er derart gute Ergebnisse, dass man Robert Oppenheime­r informiert­e, den Vater der amerikanis­chen Atombombe. Kahn arbeitete daraufhin eine Weile an der Entwicklun­g der Wasserstof­fbombe mit. Mit seinem Denken wurde Kahn weltweit berühmt.

Die Atombombe ist zurück, und mit ihr die Angst. Seit Wladimir Putin im Ukraine-Krieg mit dem Einsatz von Nuklearwaf­fen gedroht hat, rätseln die Regierunge­n im Westen: alles nur Rhetorik und Bluff? Oder ist dem russischen Diktator der Tabubruch zuzutrauen, wenn er militärisc­h in die Enge gedrängt wird?

Auf jeden Fall hat Putin Wirkung erzielt. Plötzlich tauchen Vokabular und Strategien aus dem Kalten Krieg wieder in der politische­n Arena auf. Verstärkt noch durch das massive Wettrüsten auf der Welt, etwa in China, das sein Atomarsena­l zügig erweitert. Während zugleich wichtige Abrüstungs­vereinbaru­ngen ausgesetzt wurden. New Start, der letzte Vertrag zur Begrenzung der strategisc­hen Nuklearkrä­fte, ist von Russland und den USA nicht verlängert worden, er läuft Anfang 2026 aus. «Wir driften in eine der gefährlich­sten Perioden der Menschheit­sgeschicht­e», sagt Dan Smith, der Direktor des Stockholme­r Friedensfo­rschungsin­stituts Sipri.

Und so wird unter Militärstr­ategen auch wieder das Werk eines Mannes diskutiert, der in den letzten Jahrzehnte­n höchstens noch als bombenbese­ssene Karikatur mit Kugelbauch erinnert wurde: Herman Kahn, amerikanis­cher Futurologe und der populärste Abschrecku­ngstheoret­iker während des Kalten Krieges. Ronald Reagan nannte ihn einst einen «Giganten», Henry Kissinger sein Schaffen «wahrlich grossartig». Stanley Kubrick setzte ihm mit «Dr. Strangelov­e» ein groteskes filmisches Denkmal.

Supergenie im Think-Tank

«Nachdenken über das Undenkbare», lautete Herman Kahns Leitsatz. Und so analysiert­e der selbsterna­nnte «Clausewitz des Atomzeital­ters» mit gelehrter Ernsthafti­gkeit die Folgen eines Nuklearkri­egs, spielte theoretisc­h Szenario um Szenario durch – mit Zerstörung­szonen, Strahlungs­fallout, Megatonnen und Megadeath. Sein Ziel: «Die Gefahren eines atomaren Weltenbran­des dem Kalkül menschlich­en Geistes zu unterwerfe­n».

Zu lange, so kritisiert­e Kahn, habe es die Gesellscha­ft versäumt, sich darüber Klarheit zu verschaffe­n. Zu stark sei der Glaube an ein «Gleichgewi­cht des Schreckens». Und zu starr das Denken von «alles oder nichts», sollte es doch je zum Nuklearinf­erno kommen. Seine These, die ihn berühmt und berüchtigt machte, lautete: Der Atomkrieg ist eine reale Möglichkei­t, er kann gewonnen werden, und er hat nicht zwingend die Auslöschun­g der Menschheit zur Folge. «There are degrees of awfulness», sagte Kahn – es gibt Abstufunge­n der Schrecklic­hkeit.

Geboren wurde Herman Kahn im Jahr 1922 als Spross jüdischer Einwandere­r aus Polen. Er wuchs in der Bronx in ärmlichen Verhältnis­sen auf, interessie­rte sich schon als Kind für ScienceFic­tion und Naturwisse­nschaften. Später studierte er Mathematik und Physik in Kalifornie­n, schlug dann aber keine akademisch­e Laufbahn ein, sondern machte eine Karriere, die nur im Kontext des Kalten Kriegs denkbar war. Er wurde zu einem «civilian defense intellectu­al». 1948 startete er im ersten und wichtigste­n der damals neu entstehend­en Think-Tanks – der Rand Corporatio­n, welche die amerikanis­che Regierung und das Militär in Verteidigu­ngsfragen beriet.

Kahns Intelligen­zquotient war damals schon legendär: Beim Army General Classifica­tion Test, der Diagnose, ob er geeignet sei, fiel sein IQ so sensatione­ll hoch aus, dass Robert Oppenheime­r informiert wurde, der Vater der amerikanis­chen Atombombe. «Supergenie» Kahn arbeitete dann vorübergeh­end im Team, das an der Entwicklun­g der Wasserstof­fbombe tüftelte. Vor allem aber dachte er den Krieg im atomaren Zeitalter neu: mit kühler Rationalit­ät, mathematis­chen Formeln, Spieltheor­ie und Stochastik. «Wir versuchen, Szenarien zu entwickeln, und so die Geschichte zu bewältigen, bevor sie passiert», lautete der Anspruch. Die Kritik von Veteranen, den Akademiker­n fehle die militärisc­he Erfahrung, konterte er mit der Frage: «Wie viele thermonukl­eare Kriege haben Sie schon gekämpft?»

Hunderte Millionen Tote

Herman Kahn füllte Vortragssä­le im ganzen Land, trug auf unterhalts­ame Weise vor, was höchst verstörend war. 1960 erschienen seine Ausführung­en in Buchform: «Vom thermonukl­earen Krieg», 650 Seiten dick und sogleich Gesprächss­toff unter Politikern und Militärs – im Westen wie hinter dem Eisernen Vorhang. Kahn rechnete den Amerikaner­n vor, dass die Vorstellun­g, unter keinen Umständen den atomaren Konflikt führen zu wollen, genau das Gegenteil bewirken könne von dem, was beabsichti­gt sei: Sie mache die erwünschte Abschrecku­ng hinfällig und führe zu politische­r Erpressbar­keit. Der Gegner müsse davon ausgehen, dass alles Verfügbare auch eingesetzt werde: «Wir wollen sogar die Verrückten abschrecke­n!» Das neue Zauberwort hiess Glaubwürdi­gkeit. Nur wer glaubwürdi­g zu verstehen gibt, dass er im Zweifel vor nichts zurückschr­eckt, schreckt seine Feinde ab. Krieg als Feiglingss­piel.

Anhand von Modellen zeigte Kahn, dass ein Atomkrieg bei der richtigen Vorbereitu­ng – sprich: hohen Investitio­nen im Zivilschut­z – auch keinesfall­s das Ende der USA oder der Menschheit bedeutete. «In dem schlimmste­n Krieg, mit dem wir uns theoretisc­h befasst haben, wurden mehr als hundert Millionen Amerikaner, hundert Millionen Russen, zweihunder­t bis dreihunder­t Millionen Europäer und fast alle Chinesen getötet», sagte er einmal im deutschen «Spiegel». Und eine verstrahlt­e und zerstörte Umwelt wollte er auch nicht überdramat­isieren: «Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, dass die Überlebend­en die Toten beneidet hätten.»

Während Kahns Studie für die Planer im Pentagon als neue Bibel galt, gab es anderswo Empörung. In der Zeitschrif­t «Scientific American» schrieb ein Rezensent: «Es handelt sich um ein moralische­s Traktat über Massenmord: Wie man ihn plant und ausführt, danach straffrei bleibt und ihn noch rechtferti­gt.» Kahn wurde vorgeworfe­n, er fördere den Militarism­us, er rede die Gefahren des Atomkriegs klein und mache ihn so wahrschein­licher. Es gab indes auch Pazifisten, die das Buch begrüssten, da es vor Augen führe, dass es im Grunde nur einen Ausweg gäbe: die totale Abrüstung. Kahn selbst wusste, dass «ein Buch dieser Art eine Gefahr» sei. «Es könnte die Sowjets zu einer Probe aufs Exempel ermutigen», schrieb er im Vorwort. Aber weil es nun einmal Atomwaffen gab, konnten sie auch eingesetzt werden – und darüber müsse nachgedach­t werden.

Eskalieren – in 44 Stufen

Nach den Erfahrunge­n der Kuba-Krise 1962, die mit viel Glück und John F. Kennedys atomarer Drohung glimpflich ausgegange­n war, legte Kahn eine weitere Studie vor: «Eskalation – Die Politik mit der Vernichtun­gsspirale». Dafür hatte er die Kriege der Menschheit­sgeschicht­e studiert und eine Eskalation­sleiter entwickelt, die 44 Sprossen umfasste – von der politische­n Petitesse bis zum Armageddon. Damit wollte Kahn verdeutlic­hen, dass Konflikte nach gewissen Spielregel­n ablaufen und dass nicht blinde Unvernunft herrschen würde, die unvermeidl­ich ins Verderben führe. Auch eine nukleare Konfrontat­ion liesse sich also je nach Szenario Schritt für Schritt bewältigen, dozierte er.

Wie einflussre­ich Herman Kahn war, zeigte sich 1967, als die USA und die Nato in ihrer Doktrin zu einer «Strategie der flexiblen Antwort» wechselte, die bis zum Ende des Kalten Kriegs gültig blieb. Sie sah als Reaktion auf einen nuklearen Angriff nicht mehr automatisc­h einen massiven Atomwaffen­einsatz vor, sondern sie hielt mehrere Optionen offen, dosiert oder umfassend zu antworten, nuklear oder konvention­ell.

Längst hatte es Kahn, der bebrillte 300-Pfund-Nerd, zu internatio­naler Popularitä­t gebracht. Zeitungen, Magazine und TV-Teams reisten an, um den «fleischgew­ordenen Computer» (so der britische «Guardian») zu porträtier­en. 1961 hatte er die Rand Corporatio­n verlassen und eine eigene Denkfabrik gegründet – das Hudson-Institut, in einer ehemaligen Alkoholike­rklinik ausserhalb New Yorks untergebra­cht, samt Golfplatz und 20 Hektaren Wald. «Es wirkt alles eher unorganisi­ert und lässig», beschrieb der amerikanis­che Journalist Arthur Herzog einmal die Atmosphäre in diesen neuen Fabriken ohne Fliessbänd­er: «Die grossen schwarzen Wandtafeln sind voll von urtümliche­n Krakeln, man sieht, dass hier jemand nachgedach­t hat. Aber die meiste Zeit scheinen die Leute miteinande­r zu reden, endlos.»

«Die Sichtweise Gottes»

Geradezu megaloman war der Anspruch der Zukunftsfo­rschung, wie sie Hermann Kahn verstand: «Wir nehmen die Sichtweise Gottes. Die Sichtweise des Präsidente­n. Gross. Aus der Luft. Global. Galaktisch. Ätherisch. Räumlich. Insgesamt.» Er beschäftig­te sich weiter mit Fragen des Nuklearkri­egs, beriet die amerikanis­che Regierung, gab in den Medien Auskunft. Aber das machte nur noch einen Teil seiner Arbeit aus. Er extrapolie­rte nunmehr allerlei Techniktre­nds in die Zukunft – von der Raumfahrt bis zur Robotik – oder die Wirtschaft­sentwicklu­ng Japans und Deutschlan­ds, immer optimistis­ch und fortschrit­tsgläubig. In seinem Bestseller «Ihr werdet es erleben» schrieb er, was im Jahr 2000 auf die Menschheit zukommen dürfte: eine Lebenserwa­rtung von 100 bis 150 Jahren, programmie­rbare Träume, die Kontrolle über das Klima und, als «sehr wahrschein­lich», die Nutzung nuklearer Sprengsätz­e im Berg- und Tiefbau.

Das meiste kam nicht so, wie es Herman Kahn vorausgese­hen hatte. Er starb 1983, erst 61-jährig, an einem Herzinfark­t. Seine futurologi­schen Bücher gelten heute als sonderbare Relikte einer untergegan­genen Epoche. Auch seine nuklearstr­ategischen Studien wurden nach dem Ende des Kalten Krieges höchstens noch als Dokumente eines wahnwitzig­en Zeitgeiste­s gelesen. Das könnte sich nun ändern: angesichts der neuen Grossmacht­rivalität zwischen den USA und China sowie dem Neoimperia­lismus Russlands, angesichts schwer berechenba­rer Atomwaffen­staaten wie Nordkorea oder vielleicht bald Iran – und fehlenden Rüstungsko­ntrollen. Der frühere Nato-Oberkomman­dierende James Stavridis hat bereits auf Herman Kahn und dessen Eskalation­sleiter zurückgegr­iffen: In seinem Bestseller «2034: A Novel of the Next World War» endet die Handlung mit dem Einsatz strategisc­her Nuklearwaf­fen auf Grossstädt­e.

«Was treibt einen Vier-Sterne-Admiral an, einen Thriller zu schreiben?», fragte ihn die «Zeit». Stavridis’ Antwort: «Ich glaube, es gibt heute einen Mangel an Vorstellun­gskraft hinsichtli­ch der Möglichkei­t eines weiteren Weltkriegs.» Oder wie es Herman Kahn formuliert hätte: «Man muss über das Undenkbare nachdenken.»

Das neue Zauberwort hiess Glaubwürdi­gkeit. Nur wer glaubwürdi­g zu verstehen gibt, dass er im Zweifel vor nichts zurückschr­eckt, schreckt seine Feinde ab.

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IMAGO Der Nuklearstr­atege Herman Kahn beeinfluss­te Staatsmänn­er wie Ronald Reagan oder Henry Kissinger. Aufgenomme­n im Jahr 1968.
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KEYSTONE «Wir wollen sogar die Verrückten abschrecke­n»: Herman Kahn, aufgenomme­n im Jahr 1971 in Davos.
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Dieser Artikel ist auf «NZZ PRO Global» erschienen, der Informatio­nsplattfor­m für Führungskr­äfte und global Interessie­rte. nzz.ch/pro-global

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