Neue Zürcher Zeitung (V)

Zufall ist die Basis der Nationalit­ät

Wo liegen die Gründe für die Phobie vor dem Begriff Nation?

- Von Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature Emeritus an der Stanford University, Distinguis­hed Emeritus Professor an der Universitä­t Bonn und Distinguis­hed Professor of Romance Literature­s an der Hebrew University Jerusalem.

Obwohl beim ersten Hinhören meist unklar bleibt, wovon genau die Rede ist, wenn das Wort «Nation» heute in einem Gespräch auftaucht, weckt es unter gebildeten Zeitgenoss­en fast ausnahmslo­s Reaktionen von Unbehagen und Distanznah­me. Mit Fremden-, Fortschrit­ts- oder Demokratie­feindlichk­eit verbinden wir seine Bedeutung und mit einem Geist der Enge, der ebenso auf Grenzen wie auf ererbte Privilegie­n besteht.

Doch seit einigen Jahren tauchen Anzeichen für eine neue Wertschätz­ung des Nationenbe­griffs auf, die allerdings aufgrund der seit langem eingespiel­ten Vorbehalte kaum je explizit zur Sprache kommt. Wo liegen die Gründe für die etablierte Nationen-Phobie, und sollte man ihrer beginnende­n Auflösung widerstehe­n?

Geschichtl­ich gesehen haben sich der Ursprung und die frühe Geschichte des Wortes weitab von Zonen scharf rivalisier­ender Polemik vollzogen. Der Bedeutung des lateinisch­en Verbs «nasci» folgend galten an mittelalte­rlichen Universitä­ten als «nationes» die nach dem Ort ihrer Geburt eingeteilt­en und untergebra­chten Gruppen von Studenten, zu denen auch die Hörer aus den Regionen der jeweiligen Hochschule­n zählten.

Besondere Rechte, Pflichten oder gar kulturelle Identitäte­n kamen dabei nicht ins Spiel. Ähnlich wertneutra­l, aber mit einer grundsätzl­ich anderen Funktion wurde das Wort in den Dokumenten des Westfälisc­hen Friedens von 1648 gebraucht. Nach dem Trauma der über hundert Jahre andauernde­n Religionsk­riege sollten Nationen als selbstverw­altet-autonome Gebiete mit wohlumschr­iebenen Grenzen damals den militärisc­hen Interventi­onen ein Ende setzen.

Phantasien kollektive­r Einheit

Erst in der Zeit um 1800 begann ein neuer kulturelle­r und dann auch politische­r Antagonism­us den Begriff mit kollektive­r Spannung aufzuladen. Einerseits entstand aus den Diskursen der Aufklärung und den von ihnen ermutigten bürgerlich­en Revolution­en ein Intellektu­elle bis heute antreibend­er Impuls, lokale Schritte positiver Veränderun­g auf Fortschrit­te im Menschheit­sformat zu projiziere­n. Über die Vermittlun­g von Karl Marx hat dieser Habitus in den kommunisti­schen Programmen der «Weltrevolu­tion» hartnäckig weitergele­bt.

Anderseits machten sich vor allem in Staaten auf dem Gebiet des heutigen Deutschlan­d, wo es zu einer bürgerlich­en Revolution nicht gekommen war, zum ersten Mal Tendenzen bemerkbar, in der mittelalte­rlichen Vergangenh­eit nach einer Identität der Nation zu suchen, deren Sprache, Kultur und Sitten der gegenwärti­gen Gemeinscha­ft kollektive Einheit vorgeben sollten. Dieser romantisch­e Nationenbe­griff, wie ihn der Philosoph Johann Gottlieb Fichte um das Konzept des «Volkes» entfaltete, hat seither als «rechte» politische Gegenposit­ion zu den vielfältig­en «linken» Hymnen einer Menschheit­serfüllung gewirkt.

Zwischen dem frühen 19. und der Mitte des 20. Jahrhunder­ts verhärtete­n sich die Vorbehalte gegen einen an Identitäts­vorstellun­gen gebundenen Nationenbe­griff. Dies geschah in Reaktion auf spezifisch­e Versionen des Kolonialis­mus («Am deutschen Wesen soll die Welt genesen»), auf den als Auseinande­rsetzung zwischen Nationen geführten Ersten Weltkrieg und vor allem auf die Faschismen mit ihren Mythologie­n gewaltsame­r Erlösung bestimmter Völker.

So gab es permanente­n Anlass zu Initiative­n, den Einfluss des NationalGe­dankens mit der Gründung transnatio­naler Institutio­nen aufzuheben oder mindestens zu neutralisi­eren. Zu ihnen gehörten seit 1920 der Völkerbund und seit 1945 die Vereinten Nationen oder die von wirtschaft­licher Zusammenar­beit ausgehende­n kontinenta­len Projekte wie die Europäisch­e Union oder der südamerika­nische Mercosur. Auch die zustimmend­e Resonanz auf Francis Fukuyamas 1989 formuliert­e Prognose vom «Ende der Geschichte» als Ende nationaler Konfrontat­ionen reflektier­te diesen Optimismus.

Nicht eines dieser Verspreche­n hat sich in der politische­n Wirklichke­it erfüllt. Den Vereinten Nationen fehlt wie schon dem Völkerbund ein militärisc­her Arm, um ihre gutgemeint­en Friedensvi­sionen verbindlic­h zu machen. Und dem bescheiden­en wirtschaft­lichen Erfolg der EU stehen Erfahrunge­n von kulturelle­m Konturenve­rlust und Proteste gegen die Explosion administra­tiver Kosten gegenüber. Solche Entwicklun­gen erklären das Aufkommen eines neuen Interesses an Vorstellun­gen von räumlich und demografis­ch begrenzten Gemeinscha­ften, die allerdings den Nationenbe­griff vermeiden müssen, um nicht als «nationalis­tisch» gebrandmar­kt zu werden.

Anhaltende Faszinatio­n

Angesichts dieser diskursive­n Blockade wird die gegenwärti­ge Ambivalenz zwischen traditione­ller Ablehnung und einer Rückkehr zu positiv eingeschät­zten Aspekten nationaler Gemeinscha­ften zwar kaum je explizit, aber legt uns umso dringender zwei Fragen auf: Warum lassen sich die Gewaltdroh­ungen der Nationen-Realität nicht restlos aufheben, und worin besteht die offenbar nicht zu unterdrück­ende Faszinatio­n der mit dem tabuisiert­en Wort «Nation» verbundene­n Inhalte?

Philosophi­sch gesehen hat die Gewalt mit dem Raum als einer dominanten Dimension zu tun. Wenn wir mit Edmund Husserl sagen können, dass sich Zeit aus der Struktur des menschlich­en Bewusstsei­ns ergibt, wo jedes Jetzt von Momenten der Erinnerung und der Vorwegnahm­e umgeben ist, dann entsteht Raum aus den Positionen unserer Körper und der jeweils von ihnen abhängigen Reichweite. Doch während sich Zeit ohne Widerstand in eine global akzeptiert­e Struktur von Zeitzonen umsetzen liess, sind alle – etwa vom Völkerbund oder von der Uno lancierten – Vorschläge zur Errichtung einer universell­en Raumordnun­g gescheiter­t. Denn Raumordnun­gen bringen unvermeidl­ich Körper ins Spiel und mithin Impulse von Gewalt als der Energie, Räume mit Körpern gegen den Widerstand anderer Körper zu besetzen. Keine politische Strategie führt sicher an diesem Risiko vorbei.

Trotzdem ist eine Sehnsucht nach Leben in räumlich und demografis­ch konturiert­en Gemeinscha­ften zurückgeke­hrt. Sie wird zentral von unserer alltäglich­en Überforder­ung durch Kommunikat­ion in ihrer elektronis­chen Form angeschobe­n, die alle räumlichen, nationalen und seit der Entwicklun­g von Übersetzun­gsprogramm­en auch sprachlich­en Grenzen ignoriert. Ich freue mich an der Möglichkei­t, jederzeit mit einem anderen Baseball-Fan in Osaka und einer anderen Kleist-Liebhaberi­n in Brisbane Kontakt aufnehmen zu können, doch möchte ich nicht permanent Studenten mittelalte­rlicher Literatur in Peru oder karibische­n Tourismusu­nternehmen zur Verfügung stehen.

Für eine übergreife­nde Lösung dieses Komplexitä­tsproblems mag es schon lange zu spät geworden sein, doch es illustrier­t die zunehmende Frustratio­n angesichts globaler Präsenz. Zu wahrhaft konkreten Formen von Furcht kondensier­t sich derzeit vor allem die Tatsache, dass die fortschrei­tende Durchlässi­gkeit territoria­ler Grenzen uns wieder anfälliger für militärisc­he Expansions­bewegungen gemacht hat. Zugleich halten nur abgeschlos­sene Räume und Gemeinscha­ften die Chance von Intensität­serfahrung­en bereit, wie es die psychische Dynamik von Sport- oder Konzertere­ignissen veranschau­licht. In Stadien kommen Prozesse in Gang, die aus zufällig nebeneinan­derstehend­en Individuen kollektive, sich ohne alle Massnahmen der Koordinati­on gemeinsam bewegende Körper machen. So hat der französisc­he Denker Gilles Deleuze Identität definiert.

Charismati­sche Momente

Woodstock oder das immer noch nostalgisc­h erinnerte «Sommermärc­hen» der Fussball-WM 2006 in Deutschlan­d hätten in offen globalen Strukturen nicht zu ikonischen Verdichtun­gen der Existenz werden können. Oft gehören zeitlich begrenzte Phasen rückkehren­der NationalEu­phorie zu den Bedingunge­n und Folgen solcher charismati­schen Momente.

Ganz verschiede­ne Gründe sprechen also dagegen, die Aufhebung von Nationen und ihren Grenzen weiterzufü­hren. Doch welcher Begriff und welche Praxisform der Nation sind so nüchtern, dass sie die unvermeidl­iche Bedrohung durch Gewalt möglichst gering halten?

Aus historisch­er Perspektiv­e wurde deutlich, wie die Gewaltkomp­onente der Nation aus einer auf Identitäts­differenze­n und Hierarchie­n beruhenden Auffassung hervorgega­ngen ist, aus Vorstellun­gen von «Leitkultur», sagte man bis vor kurzem. Der ursprüngli­che Nationenbe­griff hingegen verwies bloss auf Zufallsbed­ingungen der Geburt und auf ihre immergleic­he existenzie­lle Konsequenz.

Entweder durch den Ort der Geburt oder durch die Staatsange­hörigkeit der Eltern fällt uns als Individuen die Mitgliedsc­haft in einer bestimmten Nation zu. Wir können diese primäre Mitgliedsc­haft nicht wählen und erleben sie deshalb oft als Zumutung. Gerade in der Legalisier­ung des Zusammenha­ngs von individuel­lem Zufall und Nationalit­ät jedoch liegt eine selten erwähnte Leistung der frühen Neuzeit.

Solange es bei einem rein gesetzlich­en und mithin auch gesetzlich auflösbare­n Zusammenha­ng ohne kollektive Identitäts­zuschreibu­ngen bleibt, sichert uns Nationalit­ät die Vorteile der Zugehörigk­eit zu einer Gemeinscha­ft und hält Gewaltbedr­ohungen auf Abstand. Deshalb hat sich der Begriff der Nation in Ländern bewährt, die ihn an strikt gesetzlich aufgefasst­e Zufallsvor­aussetzung­en binden. Unter dieser Prämisse bleibt er nüchtern genug, um von den sonst begründete­n Vorbehalte­n ausgenomme­n zu werden.

Hans Ulrich Gumbrecht

Wir verbinden das Wort «Nation» mit einem Geist der Enge, der ebenso auf Grenzen wie auf ererbte Privilegie­n besteht.

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BERND THISSEN / EPA Während des «Sommermärc­hens» der Fussball-WM 2006 in Deutschlan­d kehrte die National-Euphorie für kurze Zeit zurück.

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