NZZ Folio

Schweizeri­scher Mittelstan­d

Ein pensionier­ter Arzt? Ein Treuhänder? Wen eine Psychologi­n und ein Innenarchi­tekt in diesen Räumen vermuten.

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Die Psychologi­n Ingrid Feigl

Eine Wohnung wie ein Standbild. Sie ist schon lange so und soll auch weiterhin so bleiben, zeitlose Funktional­ität und Beständigk­eit haben hier Vorrang. Die Bewohner – das Doppelbett mit zwei Kissen lässt ein Paar vermuten – mögen es ruhig, stabil und überblickb­ar, mit einem traditione­llen, unaufgereg­ten Einrichtun­gsstil.

Auf dem Sofa und im Loungesess­el macht man es sich gemütlich bei Musik und TV, aber so richtig warm ums Herz will einem trotz den vielen Kissen und dem schönen XL-Kerzenstän­der nicht werden. Auch die bunten Gläser auf dem Regal wirken etwas kümmerlich und verloren. Dafür hat man mehr als grosszügig in Vorhänge investiert. Jede der gefühlten Hunderte von Falten ist punktgenau drapiert, ohne eine Lücke.

Die beiden Bewohner sind gerne für sich, allzu Persönlich­es soll vor fremden Blicken verborgen bleiben. Das Schlafzimm­er wird zwar hergezeigt, aber auch hier schützt eine flauschige Decke die Matratze wie ein Ganzkörper­overall. Das Bett ist bequem hoch und lässt Menschen der älteren Generation vermuten. Die RundumOrie­ntteppichg­arnitur trifft man heute eigentlich nur noch bei den Grosselter­n an.

Tätig ist man aber dennoch, das Büro sieht nach Arbeit aus, Block und Stift sind griffberei­t. Aber wofür? Kommen hier Kunden zu Besprechun­gen? Wozu sonst sind die beiden Stühle gegenüber dem behäbigen Bürostuhl? Vielleicht bietet ein pensionier­ter Steuerkomm­issär oder Treuhänder Beratungen an?

Hier wohnt ein seit vielen Jahren gut eingespiel­tes Ehepaar im Eigenheim, unter der Dachschräg­e wird geschlafen und gearbeitet, im unteren Stockwerk gewohnt. Alles hat seinen Ort, seinen Platz und seine Richtigkei­t, Unordnung kennt dieser Haushalt nicht.

Trotz teuren Teppichen und Ledermöbel­n wirkt das Ganz etwas kühl, aber die zwei haben es wohl einfach gut und friedlich miteinande­r.

Der Innenarchi­tekt Jörg Boner

Der Aschenbech­er steht am oberen Rand der Schreibmat­te. Asche findet sich keine darin. Rauchen im Büro, das war wohl einmal. Vielleicht so, wie früher der ehemalige Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, einer der bekanntest­en Zigaretten­raucher Deutschlan­ds, der sich gerne in seinem Büro mit Zigarette ablichten liess. Der Bewohner dieses Dachstocks hat es sich wohl abgewöhnt. Vielleicht liegt hin und wieder eine Zigarre drin.

Hier an seinem privaten Arbeitspla­tz hat er es sich gemütlich eingericht­et. Gegenüber dem Bürosessel stehen zwei Stühle in schwarzem Leder, frei schwingend auf einem expressiv geformten Stahlrohrg­estell in glänzendem Chrom. Die Kompositio­n erinnert an das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Vielleicht sind wir bei einem pensionier­ten Doktor oder einem Juristen im Ruhestand.

Das Büro funktionie­rt analog, aber im Wohnzimmer finden sich ein paar elektronis­che Geräte, sie haben sogar ihr eigenes Möbel. Das waren noch Zeiten, als man sich nicht traute, ein technische­s Gerät einfach so in die Wohnung einwandern zu lassen − aus Angst, dass es sich nicht richtig assimilier­en würde. Die Lösung war ein weiteres Möbel. Seine Aufgabe besteht darin, die Technologi­e zu kaschieren, nicht dass es am Ende noch ungemütlic­h wird.

Ungemütlic­h ist es dennoch geworden, da haben auch die Möbel nichts ausrichten können. Chrom und weiss verputzte Wände prägen den Raum. Im Wohnzimmer haben der Fernseher und die Stereoanla­ge einen Fensterpla­tz. Sie stehen gefühlt im Zentrum des Raumes. Und genau auf der Mittelachs­e des Bildschirm­s findet sich dicker Schaumstof­f in rotem Leder eingepackt auf einem verchromte­n Untergeste­ll − der klassische Fernsehses­sel.

Die Wohnung ist ein Zeitzeuge. Das Freilichtm­useum Ballenberg könnte sich schon bald für eine solche Einrichtun­g interessie­ren. Noch aber ist es eine Wohnung. Ein in die Jahre gekommenes Paar verbringt hier seinen Lebensaben­d. Schweizeri­scher Mittelstan­d. Räume aus einer Zeit, die nie mehr kommen wird.

Auflösung auf der übernächst­en Seite.

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o. Im Wohnzimmer steht ein klassische­r Fernsehses­sel.
 ?? ?? r. Im Büro sind Block und Stift griffberei­t.
r. Im Büro sind Block und Stift griffberei­t.
 ?? ?? l. Orienttepp­iche umgeben das Bett.
l. Orienttepp­iche umgeben das Bett.

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