NZZ Folio

Das blaue Steak

Die erstaunlic­he Karriere eines Versuchs, der nie stattgefun­den hat.

- Reto U. Schneider

In der Ernährungs­psychologi­e hat dieses Dinner Kultstatus.Esfandsein­enWeginFac­hzeitschri­ften, Lehrbücher und in die «New York Times». Dort wurde es 2016 in einem Artikel so beschriebe­n: «Ein Forscher gab Versuchspe­rsonen ein Steak unter farbigem Licht zu essen. Nach der Hälfte der Mahlzeit schaltete er das normale Licht ein, und es zeigte sich, dass die Steaks blau waren, was bei den Teilnehmer­n, die das Fleisch bis dahin genossen hatten, Übelkeit und Unwohlsein auslöste.»

Als der Historiker Joel Harold Tannenbaum für einen Artikel in der Zeitschrif­t «Gastronomi­ca» nach den Ursprüngen des blauen Steaks suchte, stiess er auf eine Kaskade von unzuverläs­sigen Quellen, an deren Anfang ein Artikel in der Fachzeitsc­hrift «Marketing» aus dem Jahr 1973 stand. Dort hatte eine gewisse Jane Wheatley unter dem Titel «Putting Color into Marketing» über die Bedeutung von Farben in der Werbung geschriebe­n. Doch Tannenbaum musste feststelle­n, dass Wheatley nicht etwa die Wissenscha­fterin war, die das Experiment durchgefüh­rt hatte, sondern eine Redaktorin, die den Versuch in ihrem Text kurz und ohne Quellenang­abe erwähnte. Das stand seiner Verbreitun­g allerdings nicht im Wege.

In späteren Artikeln wurde Jane Wheatley zur Forscherin befördert oder – wie in der «New York Times» – zu einem Mann. Manchmal waren die Dinnergäst­e ihre Freunde, und die Reaktion war Erbrechen. Über die Jahre wurde die Studie zum vielzitier­ten Klassiker der Lebensmitt­elwissensc­haften. Dass zu Wheatleys ursprüngli­chem Menu auch rote Erbsen und grüne Pommes frites gehörten, wurde oft unterschla­gen, aber das blaue Steak ging nie vergessen. Aus gutem Grund.

Die Farbe Blau nimmt bei Nahrungsmi­tteln eine besondere Stellung ein: Es gibt sie praktisch nicht. Grün? Bohnen! Rot? Himbeeren! Gelb? Zitronen! Aber Blau? Selbst Blaubeeren sind eigentlich lila. Für die populärste aller Farben, die den Himmel und das Meer beanspruch­t, gibt es kein Nahrungsmi­ttel. Die einzige stabile Assoziatio­n, die im Supermarkt mit Blau verbunden wird, ist die Kälte in den Kühltruhen.

Blau trifft man bei unverarbei­teten Lebensmitt­eln kaum an, deshalb nehmen wir an, blaues Essen sei künstlich eingefärbt. Das ist eine Vermutung, weshalb uns blaues Essen abstösst. Eine andere: Wir bringen Blau mit verdorbene­m Essen in Verbindung. Dagegen spricht aber, dass Blauschimm­elkäse als Delikatess­e gilt und Schimmel häufig auch grün ist. Woher unsere Abneigung gegen Blau im Teller kommt, bleibt ungewiss. Ob sie sich je verändern wird? Einzelne Getränke wie Gatorade oder Bolt from the Blue sind mit Blau erfolgreic­h. Der Psychologe Charles Spence erwägt in einem Artikel in «Frontiers in Psychology» die Möglichkei­t, dass der Trend, Bilder von Menus in surreal gesättigte­n Farben auf Instagram zu verbreiten, Blau beliebter mache.

Bleibt das Rätsel, woher Jane Wheatley die ursprüngli­che Geschichte hatte. Joel Tannenbaum vermutet, dass drei Quellen verschmolz­en wurden.

Die Farben von Nahrungsmi­tteln mittels schummrige­n Lichtes zu verschleie­rn ging auf Versuche der Armee im Zweiten Weltkrieg zurück. Die Soldaten lebten damals als Erste von verarbeite­ten Nahrungsmi­tteln. Die vorangegan­genen Tests sollten nicht von der Farbe beeinfluss­t werden.

Dass starke und ungewohnte Farben sich auf das Essverhalt­en auswirken, wurde schon 1947 in einem Buch des Farbberate­rs Luis Cheskin beschriebe­n: Ein Beleuchter lud zu einem

Bankett, auf dessen Speisen er farbige Scheinwerf­er richtete: Milch war blutrot, Salat violett. Die Gäste wurden bleich.

Dass das Steak ausgerechn­et blau ist, könnte auf eine Dinnerpart­y von Alfred Hitchcock im Trocadero in London zurückgehe­n, an der alle Speisen blau waren: blaue Forelle, blaues Hähnchen, blaues Eis.

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Getty Farben beeinfluss­en das Essverhalt­en – Blau besonders.

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