DIE EXZENTRISCHE INSEL
Eine Exkursion durch die isländische Kulturwelt
Bereits Jules Verne hat die Faszination von Island erkannt, und mit dem berühmten Buch «Die Reise zum Mittelpunkt der Erde» führte er uns nördlich des Polarkreises auf die faszinierende Halbinsel Snaefellsnes. Mystisch und einsam ist es im Land der Elfen, aber auch mächtig und abenteuerlich. Die Berge sind vereist, der Boden ist heiss, und als grösste Vulkaninsel der Welt ist Island sowohl geologisch als auch kulturell ein kleines Wunder. Wenngleich Gletscher und Lavafelder die sagenhafte Landschaft charakterisieren, gibt es auf der kleinen isolierten Insel inmitten des Nordatlantiks auch kulturell viel zu entdecken. Man könnte gar vermuten, die Isländer besässen ein eigenes Gen für Kreativität. Ob Film, Literatur, Musik oder Design, in dem kleinen Land mit nur 360'000 Einwohnern leben so viele Künstlerinnen und Künstler von internationalem Format wie nirgendwo sonst.
DIE SPRACHE ALS KULTURELLE IDENTITÄT
Es gibt keine Sprache ohne Kultur und keine Kultur ohne Sprache. Die Sprache ist nicht nur ein Instrument der Kommunikation, vielmehr hat sie eine eigene Kultur und spiegelt zugleich die Identität einer ganzen Nation wider. Verschont von den Einflüssen der Aussenwelt ist die isländische Sprache relativ unberührt geblieben. Gewiss lag das auch an der Abgeschiedenheit der Insel, aber auch die Regierung hat entschieden, anstatt fremde Begriffe in das Vokabular zu integrieren, einzigartige isländische Bezeichnungen für neue internationale Wörter zu konstruieren.
Mit den «grossen skandinavischen Geschwistern» Schweden oder Norwegen kann Island literarisch womöglich nicht ganz mithalten, aber auch hier gibt es eine Reihe bemerkenswerter Autoren – denn auch am nördlichen Polarkreis ist die Vorliebe für Krimis sehr ausgeprägt. «Die eine Hälfte der Bewohner liest, die andere Hälfte schreibt», sagen die Isländer über ihre Landsleute. Und angeblich veröffentlicht einer von zehn Isländern einmal im Leben ein Buch. Einer davon war Halldór Laxness. 1955 erhielt er den Literaturnobelpreis, und als er 1998 starb, hinterliess er 60Bücher, die in 40 Sprachen übersetzt wurden. «In Island glauben wir an die Literatur, sie ist unsere Hauptreligion», sagt der Schriftsteller Hallgrimur Helgason. Als einer der meistgelesenen Schriftsteller gilt Helgason als Kultautor und starke Stimme Islands. Mit seinem Durchbruch «101 Reykjavik» begründete er seinen Ruf als skurriler und schwarzhumoriger Erzähler. Für Schriftsteller gilt ja bekanntlich die Regel «je langweiliger ihre Werke, desto spannender ihr Privatleben», und wenn diese Sentenz stimmt, muss Hallgrimur Helgason sicher ein sehr ödes Privatleben führen.
Jedes Jahr pünktlich zum 1.November erscheint auch ein neuer Kriminalroman von Arnaldur Indriðason. «Seit exakt 24 Jahren geht das schon so, und es wird weitergehen», sagt Indriðason, «solange mir die dafür nötigen Ideen in den Kopf kommen.» Wer Krimis liebt, kommt einfach nicht an Arnaldur Indriðason vorbei–er ist der bekannteste literarische Darsteller von Mord und Totschlag auf Island. Das Düstere und Melancholische in den skandinavischen Krimis gilt besonders bei Indriðason. Mit Titeln wie «Kältezone» oder «Todeshauch» wird das Leben auf der Insel mit der wortkargen und teils etwas schroffen Mentalität beschrieben.
Die Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir gehört zu den prominentesten Autoren Islands. Mit ihrem ersten Gedichtband, den sie bereits im Alter von 19 Jahren veröffentlichte, begeisterte sie ihr Publikum. Fünf Jahrzehnte und etliche Bücher später hat sie im Verlauf der Jahre wesentlich zur internationalen
ISLAND IST ZWAR KLEIN, DOCH SEINE KULTURELLE VIELFALT IST ES KEINESWEGS. MIT EINER PRÄCHTIGEN LANDSCHAFT UND DYNAMISCHER KULTUR GILT ISLAND ALS EINER DER WELTWEIT INSPIRIERENDSTEN HOTSPOTS FÜR KREATIVE SEELEN.
Anerkennung der zeitgenössischen Literatur des Landes beigetragen. Mit Themen wie Zeit, Liebe und Tod begeistert die studierte Psychologin mit ihrer originellen Erzählweise.
WIKINGERKUNST UND INTERNATIONALE EINFLÜSSE
Die Geschichte der Kunst auf Island geht nicht allzu weit zurück in die Vergangenheit. War es ursprünglich norwegische Volkskunst, welche die ersten Siedler mit auf die Insel brachten, setzte eine wirkliche Entwicklung, etwa in der Malerei, erst in der Neuzeit ein. Daher kann, sieht man einmal von Sigurður Guðmundsson (1833–1874) ab, als erster moderner Maler Þórarinn B.Þorláksson (1867–1924) betrachtet werden. Durch die imposante Landschaft ist es nicht verwunderlich, dass die Isländer den Bezug zur Natur unweigerlich auch in die Kunst mit einfliessen lassen. Wenngleich auch Reisen ins Ausland einen Einfluss auf viele Künstler und Künstlerinnen hatten. So lassen sich beispielsweise Parallelen zum deutschen Expressionismus in den frühen Bildern Jón Engilberts' (1908–1972) finden oder der Einfluss von Kubismus in den Werken von Nína Tryggvadóttir (1913 – 1968). Die gegenwärtige Kunstszene ist kreativ und vielfältig; einen nicht unerheblichen Beitrag dazu hat der Wahlschweizer Dieter Roth (1930 – 1998) geleistet. Als er in den 1950 Jahren nach Island zog, brachte er die Konzeptkunst mit. Mit seinem Werk sprengte er die engen Grenzen der Kunst, und diese Elemente finden sich noch heute in vielen Installationen junger Künstler. Als grosses Aushängeschild der isländischen Kunst gilt Olafur Eliasson. Bekannt für seine Kunst, die sich vor allem physikalischen Phänomenen aus der Natur widmet, hat er jedoch auch die Fassade des Konzerthauses «Harpa» in Reykjavik entworfen. Bei dem alle zwei Jahre stattfindenden «Reykjavik Arts Festival» werden dem Publikum Ausstellungen und Aufführungen zeitgenössischer und klassischer Werke an bedeutenden kulturellen und unkonventionellen Orten in der ganzen Stadt präsentiert. Seit der Gründung im Jahr 1970 wurden zudem regelmässig Künstler aus allen Teilen der Welt eingeladen. Durch das weltweite Netzwerk von nationalen und internationalen Künstlern erhofft man einen Katalysator für die Schaffung neuer Werke und einen wichtigen Antrieb für die Entwicklung der kulturellen Vielfalt in Island.
DESIGN MADE IN ISLAND
Design ist eine junge Disziplin in Island – bis vor ein paar Jahrzehnten gab es nicht mal einen isländischen Begriff dafür. Design aus Island ist eine Entdeckungsreise in die Geschichte, die Traditionen und das Handwerk des Landes. Zudem ist es ein Eintauchen in die allgegenwärtige Natur, die das Leben der Menschen prägt und einen Einfluss auf das Entwerfen von Produkten hat. Wenngleich Island nun nicht gerade das Mekka des Designs ist, gibt es hier durchaus eine lebendige und vielfältige Designszene. Viele der erfolgreichen Designer wie Studio Brynjar & Veronika, Dögg Guðmundsdóttir, Gudmundur Ludvik und Theodóra Alfreðsdóttir haben sich grösstenteils in den nordischen Hauptstädten oder in London, Berlin oder New York niedergelassen. Zu hoch sind die Lohnkosten und zu aufwendig sind die Produktionsbedingungen in der Heimat. Daher ist es auch wenig überraschend, dass es hier keinen relevanten (Möbel-)Hersteller gibt und somit auch keinen Auftraggeber für die Designer. Die junge Designszene auf Island möchte sich jedoch als Kreativ-Nation auf der Karte etablieren, und dazu soll die Design-Messe «Design March» in Reykjavik beitragen. Auf der jährlich stattfindenden Messe–sicher nicht zu vergleichen mit den Möbelmessen in Mailand oder Stockholm – werden die besten Kreationen der isländischen Designszene präsentiert. Für vier Tage verwandelt sich die nördlichste Hauptstadt der Welt in eine Designmetropole, in der Hunderte von Ausstellungen, Veranstaltungen und Partys in Galerien, Museen, Designstudios und Geschäften stattfinden. Neben einheimischen Produkt- und
Grafikdesignern, Architekten, Modemachern und Musikern lädt die «Design March» auch immer hochkarätige Kreative aus aller Welt ein, um über Designthemen in den Veranstaltungsreihen «Design Talks» und «Design Diplomacy» zu diskutieren.
DER SOUND VON RÍMUR
Gesang hat in Island eine viel längere Tradition als instrumentale Musik, und uralt ist die Tradition der Verse und Gedichte sowie der A-cappella-Sprechgesänge in Reimform, genannt Tvísöngur und Rímur, die bis heute eine bedeutsame Inspirationsquelle für die isländische Musik sind. Die aus der altnordischen Literatur entstandenen sogenannten Rímur sind epische Gedichte, die allein oder in Chören gesungen werden. Musik ist im Blut der Isländer, und überall und bei jeder Gelegenheit wird gesungen. Man sagt, es gäbe genauso viele Musikrichtungen wie Einwohner auf der Insel. Angeblich spielen auf Island mehr als 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein Instrument und bekommen eine fundierte musikalische Ausbildung. So verwundert es auch nicht, dass hier immer wieder neue Bands gegründet werden, die international erfolgreich sind. Vor allem der Sängerin und PerformanceKünstlerin Björk ist es zu verdanken, dass Island auch musikalisch in den internationalen Fokus geraten ist. Mit Björk bekam Island in den 1990ern den ersten internationalen Superstar, der mit avantgardistischen Video-Clips die MTV-Ära prägte. Lange Zeit war Björk der einzige bekannte musikalische Export aus Island, doch inzwischen hat es hier einen wahren Vulkanausbruch an Musikern mit weltweitem Erfolg gegeben. Die international bekannten «Of Monsters and Men» sind die Pop-Sternchen unter den isländischen Bands. Mit ihrer Debüt-Single 2011 lösten sie global einen Begeisterungssturm aus. Mit einem fesselnden Mix aus hymnischen Indie- und Alternative-Songs stürmte das Album rund um den Globus die Charts und ging in die Geschichte ein als der erste Song einer isländischen Band, der über eine Milliarde Streams auf Spotify erreichte. Hildur Guðnadóttir – vor ein paar Jahren hätte dieser Name wahrscheinlich den wenigsten etwas gesagt. Doch nach dem Emmy, Grammy, Golden Globe und Oscar, allesamt innerhalb eines Jahres gewonnen, hat die Filmkomponistin in kürzester Zeit alles erreicht, was man als Filmkomponistin in Hollywood erreichen kann. Die ausgebildete Cellistin und Komponistin hat einen neuen Sound nach Hollywood gebracht. Mit ihren reduzierten, stark atmosphärischen und fast physischen Klängen hat sie auch entscheidend dazu beigetragen, dass die Serie «Chernobyl» ein Erfolg wurde. Aber nicht nur fürs Faktische, auch fürs Fiktive hat sie ein Händchen, das war spätestens seit ihrer oscarprämierten Filmmusik zum Hollywoodstreifen «Joker» klar.
GLÜCKLICH UND KREATIV
Die Isländer haben ein sehr entspanntes Verhältnis zu den Dingen des Lebens. Nach dem Motto «Erst machen wir es, dann lieben wir es» sind sie handlungsorientiert und spontan. Diese Haltung setzt eine unglaubliche Kreativität frei, die inzwischen weltweit Beachtung findet. Dass die Isländer zudem stets in den Top Ten des «World Happiness Report» vertreten sind, trägt sicherlich auch zu einem kreativen Handeln bei. Die Nordeuropäer scheinen also eine Grundzufriedenheit mitzubringen, was auch auf das Vertrauen in die Institutionen, das soziale Miteinander und die Gleichstellung der Geschlechter zurückzuführen ist. Das Land der kochenden Schlammpfühle, spuckenden Geysire, Gletscher und Wasserfälle ist also viel mehr als «nur» ein Natur-Eldorado.