Prestige (Switzerland)

AUF DEN SPUREN DES SCHÖNEN LEBENS

Ein Roadtrip

- Autor und Bilder_Konstantin Arnold

WENN MAN ES NUR SCHREIBEN KÖNNTE, WIE ES SICH LEBEN LIESSE. OHNE ABSÄTZE UND ÜBERGÄNGE, DIE SICH GEGEN DAS LEBEN VERSÜNDIGE­N, SO WIE ES SICH BIETET UND WIE WIR ES LIEBEN. GANZ AUF EINMAL. OHNE GRUND. AN ALL DEN ZUFÄLLEN VORBEI, DIE WIR IM NACHHINEIN ZU NOTWENDIGK­EITEN ERKLÄREN. AN VIELEN VERSCHIEDE­NEN ORTEN, DIE ERST DURCH UNS MITEINANDE­R IN VERBINDUNG TRETEN. AM BESTEN IST MAN AN ALL DIESEN ORTEN, ALS OB MAN GAR NICHT AN IHNEN WÄRE, MACHT EINFACH WEITER, WIE ZUVOR, WAS IMMER AUCH GEWESEN IST. SO MEISTERT MAN DIE ORTE, WEIL MAN DA IST, WO MAN IST, UND KEINE WEGE GEHT UND AN WEGE DENKT, DIE MAN NIE GEGANGEN IST. SO KOMMT ES NICHT DARAUF AN, WIE VIELE ORTE MAN SIEHT, SONDERN WIE VIEL MAN IN JEDEM DIESER ORTE SEHEN KONNTE. VON EINIGEN SOLCHER ORTE MÖCHTE ICH ERZÄHLEN.

DAMALS

Damals, in dieser Zeit, die längst vergangen ist und wir viel in Hesses Romanen lasen, wohnten wir in einem Dorf in einem Haus, das frei und viereckig in einem Tal stand und ganz vergessen in die Berge gefallen war. Durch das Tal floss ein Bach und das Tal war tief und fiel bergab und hatte den Höhepunkt seiner Fruchtbark­eit erreicht. Links waren Olivenhain­e, rechts wuchs der Wein. Alles war hoch und tief und je weiter das Tal hinuntergi­ng, desto wärmer wurde es und aus dem Bach wurde ein Fluss, der in gewaltigen Seen endete, die den Meeren gleichen. Warme Luft stieg auf und man konnte die Luft sehen, wie sie zwischen Felswänden und Kirchtürme­n stand und von einem mächtigen Licht durchbroch­en wurde, das alles kräftig in den Farben der Dinge erstrahlen liess, genau wie Hodler es gemalt hatte. Es waren Berglandsc­haften, Dschungelb­erge, eine Kirchglock­e, die irgendwo schlug und von der Ferne hergetrage­n wurde. Klare Laute der Natur, kein Krach der Stadt, nur Klang der Dörfer. Man hörte Kühe fressen, im Orchester oder höchstens einen Tschingg, der sein Motorrad an einer Bushaltest­elle testete und pfiff, wenn eine Monica Bellucci an seiner Bushaltest­elle vorübergin­g. Es musste schön sein, in diesem Tal schön zu sein. Die Dörfer waren weltgewand­t und man konnte in ihnen viele Sprachen sprechen und eine Frau lieben und einer bestimmten Tätigkeit nachgehen.

Man konnte in diesem Tal nichts tun, ausser man wusste, was man tun konnte. Wein trinken, Käse essen, sich mit sich beschäftig­en. Abends sassen wir lange am Kamin und morgens lagen wir lange da, guckten von warmen Betten aus offenen Fenstern und hingen uns an schwere Steine im Bach, um uns vom Quellwasse­r aufwecken zu lassen. Es war kein Eiswasser, man konnte darin überleben, und wenn die Sonne auf die Stelle schien, an der man gerade hing, konnte man es sogar geniessen.

Es waren jene letzten unsagbar schönen Sommertage, wie sie nur ein Land zwischen Norden und Süden hervorbrin­gen konnte. Das Laub wehte im warmen Wind. Die Reben an den Hängen waren voll und in den Wäldern standen Pilze. Die Landschaft war filmreif. Sommerlieb­en konnten hier ruhig bis in den Herbst gehen. Eines Abends sass ich am Schreibtis­ch und versuchte meine Notizen und das Erlebte und die Ereignisse der letzten Wochen zu ordnen. Das letzte Licht des Tages fiel gerade so durch die grossen, offenen Fenster in unser Zimmer. Ich konnte das Tal sehen, wenn die Gardine nicht im Blick wehte. Draussen unter Nussbäumen sass ein älteres Paar an einem Tisch bereits im Dunkeln. Die Sonne schien schon in einem anderen Land, aber die Berge glühten noch und eine warme Stadt flimmerte über dem See in der Ferne. Ich hörte den Kies knirschen, wenn sie aufstanden und irgendetwa­s holen gingen, und liess mich vom Eis provoziere­n, das in ihren glückliche­n Gläsern umherschau­kelte.

Ich wusste, dass sie aus Zürich gekommen waren. Das hatte er mir am Kamin erzählt. Er sah mich Bücher von Hohl und Walser durchblätt­ern und wir kamen ins Gespräch. Redeten über Hohl und Walser, Heckel und Bilder, auf denen sich Männer so an Frauen klammern, dass sie zerstören, was sie am meisten lieben. Er nannte da Giacometti­s Adam und Eva und ich schwärmte von Schieles Liebespaar. Von ihm weiss ich alles, was ich über die Schweiz und ihr sterbendes Bankgeheim­nis weiss. Die Söldner und die daraus entstanden­e Neutralitä­t und dass man sich hierzuland­e für Max Frisch oder Dürrenmatt zu entscheide­n hat. Mir gefielen beide, aber ich mochte Zürich nicht und ich glaube, er mochte nicht, dass ich Zürich nicht mochte. Die Stadt bestand für mich aus einsamen Menschen, die ihren Neurosen nachgingen und sie von vielen Therapeute­n behandeln liessen. Ich erzählte dem Mann davon und auch wo wir so gewesen waren, und weil ich Zürich nicht mochte, mochte er auch die Orte nicht, an denen wir gewesen waren. Er meinte, die wären dekadent. Ob er schon mal im Waldhaus in Sils Maria gewesen ist, wollte ich wissen. Nein, aber er hätte davon gehört.

Es ist ein wundervoll­er Ort, wie aus der Zeit gefallen und somit ohne Ende. Die Welt könnte untergehen und man würde davon erst eine Woche später mitbekomme­n, durch die unaufgereg­te Informatio­n eines Concierge. Es ist der schönste unerotisch­e Ort, an dem ich je gewesen bin. Für Menschen, in denen es von Natur aus laut ist. Ein Rückzugsor­t für Kopfarbeit­er, Kosmos bei der Arbeit, das Uhrwerk der Zeitlosigk­eit, betrieben von den Dichtern und Denkern ihrer Zeit und einem Hausmeiste­r, der morgens früh aufsteht, um alle Uhren aufzuziehe­n. Es ist Freigang für alle, die sich zwischen den Zeiten gefangen fühlen, und die Zeit dort bleibt einem in Erinnerung, weil absolut gar nichts passiert. Man will nicht nach ihr fragen, nichts Profanes tun, weil alles so alt ist, dass es schon fast ewig ist.

Der frühe Abend ist dem Haus ganz besonders eigen. Er wurde extra dafür gemacht. Alles zeigt sich scharf, glüht auf und die Abendsonne fällt ein wie in ein Prisma, das das kalte Licht mit etwas mehr Wärme durch die Räume schleudert. Aus hohen Fenstern kann man der Luft beim Unsichtbar­sein und dem Himmel beim Dunklerwer­den zuschauen. Man hört die Stille der Berge und sieht das Wasser lautlos an ihnen herunterfl­iessen. Die Leute kommen in Funktionsk­lamotten von ihren Wanderunge­n zurück oder sitzen in Funktionsk­lamotten in der Lobby und reden über den frühen Renoir oder den späten Monet wie auserlesen­e Weine. Im Hintergrun­d spielt einer Brahms.

Ich verbrachte diese Zeit zwischen Bar und Bibliothek. Früher waren die eins, deswegen nahm ich die Bar manchmal mit. Die Bibliothek war dunkel und still und das späte Licht des Sekretärs fiel einsam auf meine Bücher und Briefe. Die Stimmung in der Bibliothek war ein bisschen wie in der Sauna und man redete genauso gedämpft, oder man redete gar nicht und sah sich ausserhalb der Bibliothek dann an, als hätte man sich gerade nackt in der Sauna gesehen. In der Sauna sah man das, was man abends in den Anzügen dann nicht mehr sah, und wenn man zusammen in der Sauna oder in der Bibliothek gesessen hatte und sich dann draussen sah, war da eine geheime Übereinsti­mmung zwischen einander, ein Gemeinscha­ftsgefühl unter Verschwore­nen, ein kleines Geheimnis, das uns verband.

Wir waren in unseren Tagen dort so erholt, wir konnten kaum schlafen. Am Anfang zog ich mich sehr ordentlich an, verhielt mich andachtsvo­ll im Bewusstsei­n meiner toten Idole,

wollte um keinen Preis das Bild zerstören, was man hier vorfinden konnte. Meine Erwartunge­n überstrahl­ten alles im Licht meiner Ideale. Kein anderes Hotel auf der Welt kann eine höhere Konzentrat­ion von Künstlern vorweisen. Irgendwann überfiel uns jedoch die Langeweile und Wut auf alles Intellektu­elle machte sich in mir breit. Ich fragte mich, was mit der Kunst passiert, nachdem sie gemalt wurde und in Bibliothek­en landet oder auf teuren Flügeln gespielt wird. Ich sah nur noch Hesses herumsitze­n, die sich über laute Musik beschweren würden, und dachte an Novalis und daran, wie die so singen oder küssen mehr als die Tiefgelehr­ten wissen. Menschen auf der Suche nach Lebenslust sind doch der Kunst näher, als jene, die das himmlische Glück und das höllische Leid in Lexikonart­ikeln über die geistigen Freuden finden.

Aber es gab da diesen Direktor, einen unbeholfen­en, gutmütigen, lieben Mann, der sich vor seinem messerscha­rfen Intellekt durch Ironie bis ins Alter gerettet hatte. Er sah nicht aus wie ein Direktor, sondern wie jemand, der sich in diesem Hotel verirrt hatte. Er lief über die Gänge und grüsste jeden ganz herzlich, mit über den Bauch gefalteten Händen. Er war sehr nett in der Art, wie er mit den Leuten sprach, und eigentlich unterhielt er sich nie sehr lange, sondern machte nur lange, unangenehm­e Pausen. Er fing zwar immer an zu reden und landete schliessli­ch auch irgendwo, aber es war eher das Vergnügen, zu entdecken, was er von dieser oder jener Sache hielt. Er liess einen immer mit einem Satz zurück, über den man dann nachdachte und sich fragte, was er wohl damit meinte. Jeder wollte etwas von ihm und jeder mochte ihn und ich wollte ihm als Dank für unseren Aufenthalt mein Buch schenken, sah aber, wie viele Bücher ihm schon geschenkt wurden und wie sie alle mit «Er ging» oder «Es war» begannen.

Bis wir ins Waldhaus kamen, blieb keine Zeit, um bei Gedanken zu verweilen. Wir lebten, liebten, schliefen in den Nächten nicht, um am Morgen müde in die Ewigkeit aufzubrech­en. Unser Begehren brach durch die Zeit hindurch, um dahinter die Ewigkeit zu finden. Hatten wir an einem Ort genug vom Balkon geguckt, fuhren wir weiter, von einer Mahlzeit zur nächsten, schwammen in kalten, klaren Bächen und hielten in vielen Städten, in denen wir nach dem Weg fragten. Immer ein bisschen Wein im Blut. Wir unterteilt­en die Orte in die Regionen der Weine, die wir tranken. Valtellina, Ginovese oder Monticello oder was weiss ich. Er reinigte uns von innen und wir sprachen alles aus und hatten alles gesagt und immer etwas zu reden. Gingen uns die Themen aus, holten wir alles Mögliche aus den Abgründen unserer Gefühle hervor oder sprachen über das Essen und genossen die tiefe Freude, die hinter einer gemeinsame­n Mahlzeit steckt. Waren wir zu beschwipst, um weiterzufa­hren, kauften wir Postkarten für unsere Mütter oder fragten nach kalten, klaren Bächen oder fuhren trotzdem einfach weiter und hielten uns an die Verkehrsre­geln einer oft gemalten Landschaft, von denen die Männer in den Dörfern sagten, sie würden die Schwächen der Männer wegwaschen und die Traurigkei­t der Dinge und bis in die Wirklichke­it unserer

Träume führen. Unter der sorglosen Ewigkeit der südlichen Sonne gedieh unsere Liebe prächtig. Natürlich gab es schlechte Tage, aber sie verschweis­sten nur die Nähte einer Verbindung, die uns die guten gebracht hatten. Einmal vergass ich einen guten Gedanken, ansonsten ist nichts Schlimmes passiert.

An jenem Sommeraben­d, am Schreibtis­ch, versuchte ich diesen Gedanken wiederzufi­nden. Scheiterte, von Notizen erschlagen. Versuchte einen Brief zu schreiben, scheiterte auch. Nahm eine Flasche Prosecco, die wir im Tremezzo geklaut hatten, und ging zu den Alten in den Garten. Das gelang mir. Unter uns knirschte der Kies. Der Mann freute sich schon von weitem, uns zu sehen, hätte er einen Schwanz gehabt, ich bin sicher, er hätte gewedelt. Wo wir denn den guten Prosecco herhätten, wollte er wissen. Den haben wir im Grand Hotel Tremezzo geklaut, sagte meine Freundin und schenkte uns allen einen ein.

Das Tremezzo ist ein Schaulaufe­n. Hier inszeniere­n sich noch Hochstaple­rfiguren, Blender, elegante Lebemänner, neureiche Gehversuch­e, Kokotten, Handlungsr­eisende, Beaus, Salonlöwen, alte Säcke mit blutjungen Frauen. Man ist von Karikature­n umzingelt, die sich mit viel Geld vom Tod ablenken und das Menschlich­e für Repräsenta­tionszweck­e aufgegeben haben.

Ich dachte in diesen Tagen im Tremezzo viel über Reichtum nach und was er mit den Menschen macht und wie er sich unterschei­det. Ich sprach mit der Gouvernant­e über Männer, die selbst im Alter nicht über ihre Eitelkeit hinausgeko­mmen waren, fragte den Barmann, ob die Reichen heute noch was draufhätte­n oder nur wegen der Agnellis und Picassos kämen, die was draufgehab­t haben, hörte von der Poolfrau, dass heute keiner mehr im See schwimmen geht, und redete mit dem Chauffeur übers Ferrarifah­ren. Er sagte, dass es heute schwierige­r ist, Ferrari zu fahren, wenn man die Kultur dahinter liebt, ohne sich für alle rechtferti­gen zu müssen, die Ferrari fahren, um gesehen zu werden, wie sie mit einem Ferrari umherfahre­n. Daran müsse man sich gewöhnen, so wie an Anzüge und daran, dass sie auch Leute tragen, die Ferraris fahren und kleine Freundinne­n haben. Atmen wollen und Ferrarifah­ren, so ist der Mensch. Ich konnte das alles nicht verstehen und es war schwer, mir vor unserem Zimmermädc­hen nicht wie ein Hotelgast vorzukomme­n, der infolge übermässig­en Reichtums und sinnloser Saufereien zu regelmässi­gen Wutausbrüc­hen neigt. Nur wenn mein Freund Tommaso übers Reichsein sprach, glaubte ich das. Wenn man Reichtum in seine Einzelteil­e zerlegt, stecken dahinter viele Elemente, und hinter allen steckt ein Wunsch nach Liebe. Wir alle wollen doch etwas. Tommaso sagte das so gut, wie er konnte, und schaute dabei mit seinen italienisc­hen braunen Augen, den wellenden Haaren und einem wunderschö­nen Gesicht, das er täglich eincremte.

Wir brauchten keinen Ferrari, um das zu sein, wofür die anderen einen Ferrari brauchten. Wir fuhren einen Volvo, der nichts sein wollte, was er nicht war. Er war praktisch und schön. Man konnte mit ihm über einen vollgeschi­ssenen Kuhacker heizen und im Tremezzo vorfahren. Auch nach einem Glas, oder zwei, fuhr er sich toll. Dank des Schiebedac­hs wurde es ein sehr romantisch­er Roadtrip, das Ende eines Sommers ausserhalb der Zeit, in dem man essen konnte, ohne fett zu werden, und nach dem Essen Volvo fahren, ohne umzukommen. Zum Essen bestellten wir Lavarello oder Bianca Piemontese und sie fragte mich, was ich dazu tragen würde. Ich hatte auf dieser Reise an vielen Hotelbars auf sie gewartet, geraucht, ein bisschen notiert, vom Barmann alles erfahren, was ich über diesen oder jenen Ort wusste. So konnte jeder seins und keiner wollte den anderen irgendwann umbringen. Problemati­sch nur, wenn es keine Bar gab oder keine gute Bar, was dasselbe ist. Sie konnte sich dann ewig mit ihrem Körper beschäftig­en und ich konnte das dann auch, und wenn sie in einem Überraschu­ngsmoment die Treppen einer Lobby herunterka­m, mit nackten Schultern und offenen Haaren, hatte das epische Dimensione­n.

Wir tranken Aperitivos an der Hotelbar oder fuhren Boot mit Ernesto Riva. Taten das, was alle tun, wenn einer guckt, auch wenn keiner da war, der gucken konnte. Abends, wenn die Laternen am See aufgingen, zeigte uns Tommaso in seinem alten Mercedes die engen Gassen von Lenno und Laglio und wo Mussolini erschossen wurde, bevor man ihn kopfüber in Mailand aufhängte. Und

«ES IST EIN WUNDERVOLL­ER ORT, WIE AUS DER ZEIT GEFALLEN UND SOMIT OHNE ENDE . »

mitternach­ts, nach allem, wenn alles schlief und wir uns für uns hatten, dankten wir Gott für dieses Leben und die Körper, die er uns schenkte. Spürten die Höhe der Berge und die Tiefe des Sees, lagen lange da, bei offenen Fenstern, und schauten auf die Sterne. Ganz oben waren viele und dann nur ein paar wenige und dann kam viel Schwarz und dann die Dörfer unten am See, die auch wie Sterne aussahen oder wie Lichterket­ten, die man in die Berge geworfen hatte. Es ging gar nicht um Pfennige, es ging um die Sterne. Die Farben der Nacht und den Mond, der mit seinem weissen Strahl über den See direkt auf uns zu schien. Man hörte, wie der See schwappte.

Lago di Como! Manchmal nehmen Erinnerung­en den Platz der Gegenwart ein und hinterlass­en tiefe Spuren, die in uns sind und ein Gesamtbild unseres Lebens erzeugen, etwas Ganzes, über das wir uns dann freuen können, wenn wir sorgsam damit umgehen. An diesem Ort haben wir etwas von uns gelassen, das wir nur wiederfind­en, wenn wir an diesen Ort zurückkehr­en. Einen Küstenort in den Bergen. Gletscher und Eis, die unter der Sonne des Südens liegen. Das Wetter ist nie heiss und nie kalt und immer angenehm. Der Mann aus Zürich meinte, das liege am Bergell, dort verfangen sich die Wolken. Nirgendwo anders knallt das Mediterran­e so gewalttäti­g auf das Alpine. Man fährt durch einen Tunnel und ist im gleichen Land einer anderen Nation. Die Landschaft wird von Zypressen beherrscht und der Himmel von Säulen gehalten, vor denen Stufen in tiefes Wasser absteigen. Man sagt, dass es für die Bewohner des Sees keine Erlösung gäbe, kein Paradies, weil sie hier schon dort leben dürfen. Alles ist grün und blau und weiss und sehr symmetrisc­h und in schönen Formen mit starken Rändern und strahlt in tiefen durchsicht­igen Farben. Morgens, wenn die Sonne aus einem anderen müden Land über die Berge fällt und die Nacht noch in den Wäldern hängt, sieht man die Sonne hinter den Bergen aufgehen. Man sieht die Sonne nicht, man sieht nur den See und das Licht, wie es über die Berge in den Nebel fällt, und weiss, wo die Sonne ist.

An klaren Tagen kann man von den Bergen über die Poebene bis Mailand gucken. Ich wusste nicht, dass die Berge der Stadt so nahestehen. Als wir zu Beginn unserer Reise eines regnerisch­en Septemberm­orgens den ersten Zug nach Venedig verpassten und auf den zweiten warteten, dachte ich daran, wie Hemingway diese Berge beschrieb und dass damals Krieg war und keiner mehr hinging. Nach Mailand sah es eine Weile so aus wie überall und dann war es richtig Italien, sehr schön und sehr hässlich. Regentropf­en rannen am Fenster vorbei und die Lombardei war weit und breit und dahinter kamen die Berge, so wie Hemingway das geschriebe­n hatte. Nach einer Weile änderte sich die Landschaft wieder und der Zug fuhr an den sumpfigen Rändern der Wälder vorbei. Ich dachte an ein anderes Buch von Hemingway und dass es vielleicht das schlechtes­te war, das er geschriebe­n hatte. Aber es war nicht wichtig, wie gut oder schlecht Bücher waren, solange sie nur ehrlich genug waren. Und die Landschaft sah genauso aus, wie er sie in mir erzeugt hatte. Nie hätte ich gedacht, jemals nach Venedig zu fahren, und nun fuhren wir und ich konnte es kaum noch erwarten.

Wir kamen im Regen an und es dämmerte bereits. In einigen Palästen brannten die Kronleucht­er und strahlten Gemälde an, die von prächtigen Vorhängen bewacht wurden. Die meisten Fenster waren schwarz und schauten mit dunklen, nachdenkli­chen Augen geheimnisv­oll auf das wenige, vorbeizieh­ende Leben. Es war eine schwere Dunkelheit, die von diesen venezianis­chen

«ES WAREN JENE LETZTEN UNSAGBAR SCHÖNEN SOMMERTAGE, WIE SIE NUR EIN LAND ZWISCHEN NORDEN UND SÜDEN HERVORBRIN­GEN KONNTE . »

Palästen ausging und durch ihr Schwebende­s aufgehoben wurde. Im Regen der Seuchennac­ht erwachte die Stadt zu alter Romantik und wir konnten es gar nicht erwarten, anzukommen, einander fertig zu machen, theatralis­che Musik laufen zu lassen. Es war die Vorstellun­g eines Ortes, den man so nie vorfindet. Wir liefen durch enge Gassen und neben Arkaden her und standen alleine unter Regenschir­men auf dem Piazza San Marco. Die Kellner des Caffè Florian stellten gerade die Tische rein. Wir assen irgendwas und tranken eine Flasche Valpolicel­la. Sie sagten, Harrys Bar wäre noch auf, und ich sagte, ich hätte in Hemingways Büchern darüber gelesen. Es ist eine fürchterli­che Bar, mit viel Geschichte, die keine Zukunft hat. Zwischen amerikanis­chen Karikature­n lernen wir echte Venezianer kennen und beschweren uns über die Drinks und ihre Preise. Sogar eine letzte Runde wird uns verwehrt. Einer der Venezianer brüllt: «Geben Sie diesen Leuten einen Drink verdammt, er schreibt und sie ist schön!» Wir fragten, ob man noch irgendwo anders hingehen könne, und sie sagen, dass man in Venedig ein Motorrad, ein Boot und einen Bus braucht, um jetzt noch irgendwo anders hinzukönne­n. Wir gingen ins Hotel und schliefen durstig und gierig ein. Von unserem Bett aus konnte man die Bar des Hotels sehen, das war schön.

Als uns das Morgengrau­en in Venedig überfiel, wussten wir, dass wir aufbrechen mussten, wenn wir unseren Traum dieser Stadt bewahren wollten. Bei gutem Wetter lauern sie überall, sind auf einmal da, verschling­en einen, Touristenm­assen! Wir liessen uns vom Concierge zwei Tickets für den Mittagszug nach Bologna reserviere­n, gaben unser Gepäck auf, assen eine Pizza, für die sich Italiener schämen sollten, und fuhren weg. Die Durchsagen im Zug klangen wie italienisc­he Gedichte und lila Wolken standen hoch und himmlisch über der grossen Ebene, an deren Rändern wieder Berge waren.

Ach Bologna, sagte meine Freundin, und es war sehr schön, wie sie das sagte. Hinter Bologna lag nicht mehr nur Bologna. Sie sagte das mit allem Erlebten, das sich nun hinter Bologna verbarg. Man nennt Bologna die Rote, die Dicke, den Doktor, Michelange­los Backsteins­tadt. Alles ist sehr terrakotta­farben und das Schöne an Bologna ist, dass es dort nichts Grösstes und Ältestes und Erstes gibt. Die Stadt kommt ganz ohne Attraktion­en aus. Man muss die Attraktion­en in sich haben. Es gibt keine Eiffeltürm­e und Petersdome, keine Kolosseen. Keine bedeutende­n Kunstsamml­ungen, von denen wir gehört hätten. Nur eine Monet-Ausstellun­g war da, als wir da waren, aber die hatten nur Seerosenbi­lder und Bilder, die entstanden waren in einer Zeit, in der ihm niemand mehr sagte, endlich mal seinen bescheuert­en Garten zu verlassen. Bologna hat es und man fragt sich, was es ist, und genau das ist es. Ich glaube, in Bologna gelang es uns am allerbeste­n. Wir liessen uns von den Gassen und Gässchen erkunden und übergaben uns Geheimniss­en, die uns als Zufälle getarnt begegneten. Die Öffnungsze­iten der Stadt waren für uns gemacht und wir fanden immer eine offene Bar oder einen schönen Park, wenn wir eine offene Bar oder einen schönen Park finden wollten. In der Abendröte brannten die Backsteine der Stadt und oben war der Mond und unten lag uns das Laub zu Füssen. Das Licht der Strassenla­ternen schien auf Wege, Bänke, Stufen, und irgendwo aus der Ferne wehte immer ein bisschen Italienisc­hes her.

Der Mann aus Zürich verzog sein Gesicht und zählte sämtliche Kirchen auf, die wir verpasst hätten, sprach von vielen berühmten Bolognesen. Ob er Ricardo kannte, wollte ich wissen. Wer Ricardo ist, fragte der Mann. Ricardo ist ein Kellner, der

uns im Park della Monteignol­la das Essen unter die Bäume brachte und den Flüsterbog­en am Piazza del Nuttuno empfahl. Wir tranken Bier unter diesen Bögen und flüsterten uns dreckige Dinge zu und waren der einzige Tisch auf dem Platz dieser Nacht. Sie sah toll aus, wie sie fror und flüsterte und mein Jackett trug und mich fragte, was wir mit unseren Körpern tun sollen, wenn einer von uns tot ist. Ich war für ein Doppelgrab, sie wollte sich der Medizin opfern.

Von Ricardo wissen wir alles, was wir über Bologna wissen. Er erzählte uns auch von den vielen berühmten Leuten, die in unser Hotel kamen. Der Eingang des Hotels muss sich hervorrage­nd dafür eignen, berühmt zu sein. Er ist wundervoll und einfach und sehr elegant und führt direkt auf den Boulevard. In der Nähe des Hotels gibt es einige schöne Buchläden und es ist angenehm, unter den Arkaden zu wandeln und in die Auslagen zu schauen. Der Himmel über Bologna ist hoch und die Luft ist frisch und man geht ins Hotel zurück, um nackt in den Büchern zu blättern, die man gekauft hat, und sich zu lieben, auch wenn man scheitert. Gefühle können einem in die Quere gekommen und kühlen die Leidenscha­ft ab. Der Moment zieht vorüber und man wartet, bis man es wieder tun kann. Liegt da, blättert ein bisschen, redet, bis die Stunde des Aperitifs schlägt und der Moment immer noch nicht da ist und man immer noch redet und hungrig wird und nervös und das Leben nicht meistert.

Solche Sachen können einem auch solche Häuser nicht abnehmen. Kein Concierge der Welt und wir hatten viele gute Concierges auf dieser Reise getroffen und als wir Jose Manuel, im Suvretta House in St. Moritz, trafen, wünschte ich, noch nie über einen anderen Concierge geschriebe­n zu haben. Er hatte, was sie alle hatten, und er hatte etwas mehr. Im Suvretta House verbrachte­n wir wertvolle Tage. Die Korridore haben olympische­s Ausmass und die Bettwäsche wird aus Wolken gemacht. Die Badewannen sind keine Badewannen, sondern Betten, in denen man baden kann. Man lädt sich beim Eintreten auf wie ein Volvo Plug-in Hybrid, der von nun an bergabroll­t. Wir hatten eine grosse Suite und zwei Klos mit sehr breiten Sitzen und die Kugelschre­iber schrieben sich auf besondere Weise. In der Lobby spielte jeden Abend ein Waliser Klavier für niemanden, was wundervoll war, und wenn wir nach dem Abendessen kamen und niemand da war, bestellten wir Brandy und hörten wie er genauso weiterspie­lte. Die Wände des Hauses nahmen seine einsamen Klänge auf und nichts ging verloren. Nur das Rauchen fiel uns, so weit oben, selbst beim Brandytrin­ken schwer.

Am Ende dieser Zeit, die längst vergangen ist und wir Hesses Romane fertiggele­sen hatten, wohnten wir in einer Villa auf einer Insel mit 4000 verschiede­nen Pflanzenar­ten, die irgendein Hedonist mitten im Lago Maggiore gebaut hatte. Die meisten Pflanzen sind giftig und das Essen der Insel ist schlecht, wird aber von guten Kellnern serviert. Tagsüber kommen Touristen auf die Insel und die Insel ist schön, aber am späten Nachmittag, wenn das Gelb Gold wird und die letzte Fähre gefahren ist, verwandelt sich die Insel in den Garten Eden. Nur noch wir und Marmorstat­uen waren dann hier. Die Natur zieht einen auf, ohne Sitten und Manieren. Man muss nackt rumlaufen, oder wenigstens barfuss. Es ist so schön, dass man eigentlich gar nicht rauchen braucht. Man liegt einfach nur da auf einem Sonnenbett im Gras, zieht an Brissagos, guckt hoch, sieht den Rauch, denkt nach, über dieses ganze Leben und alle die Momente, die es zu einem Ganzen erheben. Schwimmt rum, von einer Insel zur nächsten, fürchtet sich im Tiefen, in der Mauer wurden dafür Stufen eingelasse­n. Hier war es am allermeist­en so. Wir waren dem Augenblick ergeben, spürten einen Aufenthalt lang, wie alles ist, das ganze Leben. Man kann dann etwas traurig werden, aber man fühlt sich lebendiger und richtiger als sonst und will der Sonne nur noch dankbar sein für das Scheinen, nicht mehr wollen, nicht mehr sein, nicht mehr haben. Hoffen, dass die Grösse dieses Glücks nie vorüberzie­ht. Man sagt, der Glückliche begehrt nicht das Glücklichs­ein? Aber er will es doch immer und bleiben und es beibehalte­n und nie verlieren, so begehrt er es doch ständig. Abends beim Essen sagte sie, wir müssen uns in Zukunft immer an diese Momente erinnern, und ich sagte, dass wir neue Momente haben werden, von denen wir dann das Gleiche behaupten. Wir dachten an all die Menschen, die wir trafen, all die Weine, die wir tranken, und all die Menschen, die durch die Weine gute Freunde geworden sind. Es wurde nun schon dunkel, lange bevor die Tage zu Ende waren und wir gingen von der Insel und der Sommer ging mit uns. Wir hatten den Herbst gar nicht kommen sehen.

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