SCHÖNHEIT IST NICHT SCHÖN
Erwin Blumenfeld
ER ÜBERSTEHT ZWEI WELTKRIEGE, MEHRERE INTERNIERUNGSLAGER WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES, WEHRT SICH GEGEN DAS REGIME, BRÜSKIERT MIT DER FOTOCOLLAGE «HITLERFRESSE» DEN DEUTSCHEN BOTSCHAFTER IN PARIS, HAT EINE SPITZE ZUNGE UND EIN NOCH SCHÄRFERES AUGE. DIE DUNKELKAMMER IST SEIN KÖNIGREICH, FRAUEN SEINE BESESSENHEIT. ER GILT ALS INNOVATIVSTER UND EINFLUSSREICHSTER FOTOGRAF DES 20. JAHRHUNDERTS UND HÄLT DEN REKORD FÜR DIE MEISTEN TITELSEITEN DER «VOGUE». ERWIN BLUMENFELD.
Er umhüllt sie mit zarten Schleiern, verzerrt oder vervielfacht sie, jongliert mit Licht und Schatten, Effekten und setzt sie so in Pose wie keiner vor ihm. Neben George Hoyningen-Huene, Cecil Beaton und Horst P. Horst ist Erwin Blumenfeld einer der frühen Pioniere der Modefotografie. Nicht nur durch den Einsatz experimenteller Techniken in der Dunkelkammer, dadaistischer und surrealistischer Einflüsse sowie bahnbrechender Streetworks, sondern auch durch seine einzigartige und meisterhafte Verschmelzung von Eleganz und Erotik. Er verwandelt Mode in hohe Kunst und drückt nicht einfach nur den Auslöser. Er erschafft Mythen. Innovativ, mutig und seiner Zeit weit voraus, schert er sich weder um «dos» noch «dont's» und schon gar nicht um den Mainstream. Er macht das, was er will, wie er will, und ebnet damit auch den Weg für andere berühmte Fotografen der Kunstgeschichte wie Richard Avedon, Irving Penn oder Herb Ritts. In den 1930er, 40er und 50er Jahren reproduzieren «Harper's Bazaar» und «Life» seine Arbeiten, die inzwischen zu Ikonen der Geschichte der Modefotografie zählen. Die Abzüge zeigen nicht nur Erwin Blumenfelds äusserst originelle und visionäre Arbeit als Modefotograf, sondern auch sein spektakuläres Können als Druckgrafiker. Er verwendet Spiegel, Glas und Hintergründe, ist unermüdlich erfinderisch und setzt eine Vielzahl optischer und chemischer Tricks wie Mehrfachbelichtung, Solarisation und Bleichen ein, um einzigartige Effekte zu erzielen.
Erwin Blumenfeld ist besessen von Frauen und der Überzeugung, dass eine teilweise verdeckte Frau erotisch aufgeladener ist als eine gänzlich nackte. Der weibliche Körper wird zum Spielball seiner Fantasien, und mit seinen Techniken will er die abstrakte Schönheit eines isolierten Details unterstreichen. Mal verwandelt er sie in eine alterslose, unerreichbare Göttin, mal in eine schlafende Schönheit, die von einem Voyeur überrascht wird, während sie auf ihren Märchenprinzen wartet, der sie aus ihrem Dornröschenschlaf wachküsst. Der platonische Erotomane stellt die Frau ausserhalb Blumenfelds Reichweite und
ist geprägt von tiefsten Kindheitserinnerungen: «… ihre unverschämte Schönheit, umso nackter wegen ihrer durchsichtigen Schleier … da wurde der Wunsch in mir geboren, durch Transparenz hindurchzusehen.»
STERNENGEBURT
Es ist ein interessantes Jahr, in dem Erwin Blumenfeld am 26. Januar 1897 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren wird. Kriege beginnen, Kriege enden. Der Arzt John Harvey Kellogg lässt den Patienten in seinem Sanatorium in Michigan/USA zum ersten Mal Cornflakes servieren, das Schweizer Taschenmesser wird als Handelsmarke geschützt, Felix Hoffmann stellt zum ersten Mal Acetylsalicylsäure in einer reinen Form her, und Aspirin wird zur Kult-Kopfschmerztablette, der Roman «Dracula» des irischen Autors Bram Stoker wird in London veröffentlicht, und es ist auch das Geburtsjahr von Joseph Goebbels. Oder wie Erwin Blumenfeld seine Geburtsstunde später in seiner Autobiographie «Einbildungsroman» beschreibt: «… was auch immer die genauen Details sein mögen, am 5.Mai 1886, zur Mitternachtsstunde, wurde ich kurzerhand in mein erstes Konzentrationslager gesteckt. Doppelt gefesselt, neun Monate lang in Einzelhaft und unter unmenschlichsten Lebensbedingungen zum Tod verurteilt, begann ich zu lernen, wie man stirbt. So wurde ich am 26. Januar 1897, einem Donnerstagmorgen, den ich nie vergessen werde, halb erschlagen, sprachlos, am Ende meiner Kräfte, splitternackt und mit freundlichen Grüssen, an die frische Luft geschickt. Sie meinten, ich müsse atmen, also klopften sie mir auf den Rücken. Was ich einatmete, war der kohlensäurehaltige Gestank von Lysol-Gossen, vermischt mit dem Dampf frischen Pferdekots – die berühmte Berliner Luft.»
Die Familie lebt in gutbürgerlichen Verhältnissen. Vater Albert Blumenfeld ist Geschäftsmann und leitet die Schirm- und Spazierstock-Firma «Jordan & Blumenfeld», Mutter Emma kümmert sich um den Nachwuchs. Von 1903 bis 1913 besucht Erwin Blumenfeld das Askanische Gymnasium in Berlin, eine altsprachliche Eliteschule, und schiesst im Alter von 10 Jahren seine erste Fotografie mit einer Kamera, die ihm sein Onkel Carl schenkt. «Mein eigentliches Leben beginnt mit der Entdeckung der chemischen Magie, dem Spiel von Licht und Schatten, dem zweischneidigen Problem Negativ und Positiv. Ich hatte von Anfang an das Auge eines guten Fotografen.» Als sein Vater an Syphilis stirbt, ist der 16-jährige Erwin gezwungen, sein Studium aufzugeben. Die Familie ist bankrott, und Mutter Emma bewegt sich zwischen dem heimischen Herd und Sanatorien. Er beginnt eine Lehre bei Moses und Schlochauer, einem Unternehmen für Damenkonfektion, um die Familie finanziell zu unterstützen. «Ich liess die Tränen auf die Gedichte tropfen, die ich gerade geschrieben hatte, und schwor feierlich, nie wieder zu masturbieren und mich um meine Mutter zu kümmern. Ich habe beide Schwüre gebrochen.»
A BOHEMIAN WAY OF LIFE
Erwin Blumenfeld liebt es, nicht nur zu lesen und zu schreiben, er liest auch leidenschaftlich gerne vor. Mit seinem besten Freund der Schule, Paul Citroen, trifft er sich zu dieser Zeit häufig im Café des Westens, einem beliebten Treffpunkt für Expressionisten. Mit Walter Mehring und Paul Citroen gründet er eine Clique, die zunächst nur aus Jungs besteht und deren Kern sich aus Rudi Arnheim, Walter Seliger, Martin Wasserzug, Ernst Kirschbaum und Walter Joseph zusammensetzt. Alle sind sie literatur-, theaterund bildkunstbegeistert. Im Café des Westens, das unter den Stammgästen «Café des Grössenwahns» genannt wird, lernt er 1913 den 42-jährigen Philosophen und Schriftsteller Salomo Friedlaender-Mynona kennen, den er als seinen geistigen Vater bezeichnet. «Aus seinem Munde hörte ich zum ersten Mal die Zauberworte Psychoanalyse und Relativität und den Namen Montaigne. Er zeigte mir den Notausgang aus meinem Elternhaus durch das Café Megalomania, Café des Westens.»
Walter Mehring ist das entscheidende und wichtigste Bindeglied zwischen Herwarth Waldens «Sturmgemeinschaft» und dem Berliner Dadaismus und besonders fasziniert von den Werken George Groszs. Trotz des Umstandes, dass Walter Mehring sein Freund ist, kann er sich in seiner Briefkorrespondenz mit George Grosz verbale Spitzen gegen Mehring nicht verkneifen und äusserst sich zynisch und abschätzend über den BohèmeDichter par excellence. Für seinen Geschmack ist dieser nicht weltoffen genug und «… bleibt alles Pipi-Fax mässig, als hätte Mehring es erdacht …». Jahre später, in den 1930er Jahren, kommentieren sie Mehrings schwierige Lebensumstände, dessen Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden und Joseph Goebbels ihn am Galgen sehen will, eher spöttisch als besorgt.
EIN HOLPRIGER WEG
1917 wird auch Erwin Blumenfeld in die deutsche Armee eingezogen und agiert an der Westfront zuerst als Krankenwagenfahrer, später in der Nähe der belgischen Grenze als Buchhalter des FeldBordells Nr. 209. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges folgt er Paul Citroens Cousine Lena, die er 1921 heiratet, nach Amsterdam und hält sich mit Arbeiten in Modegeschäften und für Buchhändler über Wasser. Der Versuch, mit Paul Citroen einen Kunsthandel aufzuziehen, scheitert daran, dass in Holland praktisch kein Markt für zeitgenössische Kunst existiert. Stattdessen wird Erwin Blumenfeld Sonntagsmaler, fertigt Collagen und Zeichnungen und beteiligt sich an der niederländischen Dada-Bewegung. In Amsterdams beliebtester Shoppingmeile Kalverstraat eröffnet er 1923 das Lederwarengeschäft «Fox Leather Company» und verkauft Taschen. Das Geschäft läuft mehr schlecht als recht, und als er 1932 auf dem Gelände hinter seinem Geschäft eine betriebsbereite Dunkelkammer entdeckt, beginnt er, seine Kundinnen zu porträtieren, und stellt die Fotos in seinem Schaufenster neben seinen Collagen aus, mit denen er das politische Zeitgeschehen scharf kommentiert und kritisiert. Seine Fotografien erwecken mehr Interesse als die Taschen aus Krokodilleder, und 1935 ist sein Geschäft pleite. Doch noch im selben Jahr werden seine Arbeiten in der französischen Zeitschrift «Photographie» veröffentlicht sowie auf einer Gruppenausstellung der Kunsthochschule von Paul Citroen ausgestellt. Ausserdem erhielt Blumenfeld 1934/35 die Chance, seine Fotografien im Kunstzaal Van Lier in Amsterdam zu präsentieren.
DIE WEICHEN SIND GESTELLT
1936 beschliesst Erwin Blumenfeld, sich professionell der Fotografie zu widmen, und zieht nach Paris. Das Glück steht ihm zur Seite, denn zwei Persönlichkeiten öffnen ihm die Tore zum Erfolg. Geneviève Rouault, Tochter des französischen Malers und Grafikers der Klassischen Moderne, Georges Rouault, die er als ehemalige Kundin in seinem Laden in Amsterdam kennengelernt hat, stellt seine Fotografien in ihrer Zahnarztpraxis in der Nähe der Opéra aus. Durch sie macht er nicht nur die Bekanntschaft ihres Vaters und von Henri Matisse, sondern sie sichert ihm zugleich Kunden für seine Porträts. Eines seiner bekanntesten
«DAS GEHEIMNIS HINTER MEINEN PORTRÄTS? BEVOR ICH DEN AUSLÖSER DRÜCKE,STELLE ICH EINER FRAU DIE EINZIGARTIGE FRAGE,DIE WUNDER BEWIRKT–WILLST DU MICH HEIRATEN?» Erwin Blumenfeld
Bilder, «Nude under Wet Veil», entsteht in dieser Zeit. Zwei Jahre später verhilft ihm Sir Cecil Walter Hardy Beaton, ein britischer Fotograf, Bühnenbildner und Grafiker, zu einem Vertrag mit der französischen «Vogue». 1939 fotografiert er das berühmteste Fotomodel der Modegeschichte, Lisa Fonssagrives, mit einer waghalsigen Aufnahme, bei der sie in schwindelerregender Höhe am Rande des Eiffelturms in einer luftigen Robe von Lucien Lelong posiert.
SPRUNG ÜBER DEN OZEAN
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs findet die Familie Zuflucht im französischen Burgund. Erwin Blumenfeld sichert seine Prints und Filme in seinem Studio in Paris und übergibt sie in die Obhut eines Bekannten. Auf dem Weg zu seiner Familie jedoch wird er in insgesamt fünf französischen Internierungslagern inhaftiert. 1941 gelingt ihm die Emigration in die USA, was sich zugleich auch als Aufstieg in den Olymp erweist. Er wird sofort von «Harper's Bazaar» unter Vertrag genommen und arbeitet drei Jahre später als freier Mitarbeiter für die amerikanische «Vogue». In den 1940er und 1950er Jahren erscheinen seine Arbeiten auch in allen führenden Modemagazinen, er arbeitet für das Kaufhaus Dayton's und produziert gleichzeitig Werbekampagnen für die Kosmetikriesen L'Oréal, Helena Rubinstein und Elizabeth Arden. Erwin Blumenfeld ist der bestbezahlte Modefotograf seiner Zeit und geniesst sein Leben in vollen Zügen. Er pendelt zwischen seinem glamourösen Studio am Central Park in New York City, in dem sich Superstars wie Marlene Dietrich, Audrey Hepburn und Grace Kelly die Klinke in die Hand geben, und seinem Strandhaus in den Hamptons.
In den 1960er Jahren schreibt er seine Biografie «Einbildungsroman», die jedoch erst nach seinem Tod veröffentlicht wird. Die Verlage weigern sich, das in ihren Augen abstossende, vor Chuzpe, Hohn und Selbstironie triefende Werk herauszugeben, in dem Erwin Blumenfeld seinen Vater als jüdischen Bankrotteur, seine Mutter als Phrasendreschmaschine und sich selbst als Totengräber an der Westfront und Star-Photograph im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnet. Gnadenlos bösartig und vor Sarkasmus strotzend rechnet er mit den Deutschen, Franzosen, Holländern, den Juden und mit sich selbst in der Welt, die er als eine «Geltungsbedürfnisanstalt» betitelt, ab.
Am 4. Juli 1969 stirbt Erwin Blumenfeld an einem Herzinfarkt in seinem Hotelzimmer in Rom und verlässt die Bühne der Geltungsbedürfnisanstalt. Und auch dieser letzte Akt spiegelt sein Wesen, alles so zu machen, wie er will. «Mein Vater musste Herztabletten einnehmen. Doch er nahm sie nicht», erzählt sein Sohn Yorick in einem Interview. «Er stand in sengender Hitze auf der Spanischen Treppe und weigerte sich, in ein Krankenhaus transportiert zu werden. In meinen Augen ist es ein Suizid.»