DIE SCHÖNHEIT DER PRÄSENZ
Landschaftsarchitektur in Norwegen
WER MIT DEM AUTO DURCH NORWEGEN FÄHRT, WIRD NICHT NUR WAHRE NATURWUNDER ENTDECKEN, SONDERN AUCH EINE ARCHITEKTUR DER BESONDEREN ART.
Man stelle sich vor, auf einer Strasse zu fahren mit herrlichem Blick auf die imposanten Fjorde, die Berge und prächtigen Wasserfälle. An einem Punkt mit spektakulärer Aussicht halten Sie an und steigen auf eine Aussichtsplattform, und schon liegt Ihnen gefühlt ganz Norwegen zu Füssen. So in etwa geht es jährlich zahlreichen Touristen und Einheimischen in Norwegen, die einen Roadtrip auf einer der 18 «Norwegischen Landschaftsrouten» unternehmen. Vom hohen Norden bis zum tiefen Süden führen die wunderschönen Landschaftsrouten mit spektakulären Aussichtsplattformen, extravaganten Toilettenhäusern und auffallenden Rastplätzen – die Architekturpreise und weltweite Aufmerksamkeit erlangen–an den schönsten Landschaften Norwegens vorbei. Die Landschaftsrouten zählen zu den attraktivsten im Land und erstrecken sich insgesamt auf über 2136Kilometer. Bei jeder Route sind zahlreiche architektonische Attraktionen zu entdecken, und jedes Jahr kommen weitere aussergewöhnliche Bauten hinzu – bis schliesslich das Projekt 2023 beendet werden soll.
DIE NORWEGISCHEN LANDSCHAFTSROUTEN
Architektur ist nicht nur per se ein Bauobjekt, sondern kann auch als Reaktionsfeld kulturelle Identitäten spiegeln oder gar als eine Symbiose mit der Natur erschlossen werden. Wie Architektur aussehen kann, die dem Menschen ebenso gerecht wird wie der Natur, das erfährt man allemal in Norwegen. Zeitgenössische Architektur in Norwegen boomt, und ihre Wurzeln liegen sowohl in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Das Geheimnis der nordischen Architektur war schon immer deren enges Verhältnis zur Natur und Landschaft. Hier verschmilzt die Architektur mit der Natur und bewirkt durch die einzigartige Kulisse etwas, das die Gesamtheit ihrer Einzelteile übertrifft.
Wie weckt man das Interesse der globalen Tourismusindustrie und schützt zugleich die Ressource Natur? Rastplätze und Aussichtspunkte in zeitgenössischer Architektur, moderne Kunst am Strassenrand? All diese Fragen haben sich vor einigen Jahrzehnten das norwegische Parlament und das norwegische Strassenbauamt gestellt. 1998 beschloss das Parlament, eine beträchtliche Summe Geld in den Bau von Parkplätzen, Wanderwegen und Informationstafeln zu investieren. Norwegens einzigartige Landschaft sollte besser erreichbar sein, die neuralgischen Punkte des Naturspektakels für die Autofahrer vermehrt in Szene gesetzt und die Übergänge zwischen Strasse und Natur ästhetisch und ökologisch kontrolliert werden. Naturliebhaber hinter Windschutzscheibe und Lenkrad–ein Widerspruch, den das norwegische Strassenbauamt auflösen wollte. Das Amt, die Architekten, Landschaftsarchitekten, Ingenieure und Künstler hatten bei ihrer Arbeit mehrere Kriterien zu erfüllen: Die verwendeten Materialien mussten wetterfest sein, und so griffen sie vor allem auf Stein, Beton, Metall, Holz und auch Glas zurück. Ausserdem hatte sich die Architektur den natürlichen Gegebenheiten anzupassen, und sie sollte ästhetisch anspruchsvoll sein. Sie fügt sich harmonisch in die Natur ein oder steht in scharfem Kontrast zu ihr, damit die Landschaft wirkungsvoll in Szene gesetzt wird. Es wurden keine offenen Wettbewerbe ausgeschrieben, sondern kleine Projekte vergeben unter der Vorgabe, dass Architekten und Künstler zusammenarbeiten oder ausgewählte Büros zu den Wettbewerben eingeladen werden. Damit hier nicht immer nur die Top Ten der (norwegischen) Architekturszene zum Zuge kommen, erweisen sich die Mitglieder des Qualitätskomitees nach eigenen Angaben als gewissenhafte Talentscouts. Nichtsdestotrotz waren auch ein paar renommierte Architekten aus dem In- und Ausland an dem
Projekt beteiligt. Darunter auch einige der einflussreichsten Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit: Louise Bourgeois aus Frankreich (verstorben 2010), der Schweizer Star-Architekt Peter Zumthor und selbstverständlich auch das weltweit tätige und erfolgsverwöhnte norwegische Architekturbüro Snøhetta, welches das legendäre Opernhaus in Oslo gebaut hat.
DAS NATURSPEKTAKEL TROLLSTIGEN
Die Bergstrasse Trollstigen ist Norwegens meistbefahrene Landschaftsroute und ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Die Strasse durchquert eine bombastische Gebirgslandschaft von unvergleichlicher Schönheit. Die Bergstrasse schlängelt sich in elf Haarnadelkurven vom Tal Isterdalen zur Passhöhe Stigrøra hinauf. Seit 2011 gehört die architektonisch aufsehenerregende Aussichtsplattform «Trollstigen» zu einer der Hauptattraktionen der Landschaftsrouten. Zwischen den drei Bergen Bispen (Bischof ), Kongen (König) und Dronningen (Königin) stürzt der Wasserfall Stigfossen 320 Meter in die Tiefe, und inmitten dieser eindrucksvollen Landschaft im Westen Norwegens befindet sich diese spektakuläre Aussichtsplattform. Die gestalterischen Anforderungen an das Projekt waren klar definiert, denn das Naturspektakel sollte im Vordergrund stehen; daher durfte die Architektur nicht zu extravagant ausfallen. Sie sollte sich vielmehr dezent in das Umfeld einfügen, ohne der Landschaft die Schau zu stehlen. Dieses wahrlich nicht leichte Unterfangen wurde in die Hände eines einheimischen Architektenbüros gegeben, da diesem ein grösstmögliches Verständnis für die Platzierung von Architektur in die typisch norwegische Landschaft zugetraut wurde. Das Studio «Reiulf Ramstad Arkitekter» aus Oslo entschloss sich dazu, bei der Umsetzung des Projekts die natürlichen Gegebenheiten direkt in die Architekturgestaltung mit einzubeziehen. Betonwege und Brüstungen aus Stahlplatten mit rostfarbener Patina schlängeln sich nun durch die Landschaft mit mehreren Aussichtspunkten. Zudem ein Besucherzentrum mit Restaurant und Ausstellungen zur Region. Die bemerkenswerte architektonisch erbaute Aussichtsplattform ermöglicht eine sensationelle Aussicht auf die Berge und die umliegende Fjordlandschaft. Für Waghalsige empfiehlt sich die grösste Aussichtsplattform, denn diese ragt über eine Kante und schwebt 200 Meter über Trollstigen.
ORTE DES GEDENKENS
Für die Landschaftsrouten etwas zu entwerfen, gehört zu den begehrtesten Architekturaufträgen des Landes. Wenngleich nicht nur für inländische Architekten, denn das Projekt begeistert auch Koryphäen aus dem Ausland. Für den nördlichsten Punkt der Route, an der Landschaftsstrecke Varanger bei Vardø, hat Peter Zumthor sein erstes Projekt mit prominenter Unterstützung – die hochbetagte französische Bildhauerin Louise Bourgeois – an seiner Seite realisiert. Im Gedenken an die Opfer der norwegischen Hexenverfolgung im 17.Jahrhundert ist das Gemeinschaftsprojekt Steilneset von Zumthor und Bourgeois zu einem Mahnmal geworden, das schlicht und würdevoll der Opfer gedenkt und sich zugleich – wie selbstverständlich – in die Naturkulisse einfügt, als sei es mit diesem Ort verwachsen. Nachdem Bourgeois und Zumthor 2006 mit dem Bau beauftragt worden waren, einigten sie sich auf eine archaische Formensprache. «Zumthor und ich haben Erde, Wasser, Feuer und Licht benutzt, um Ansichten der Stille zu schaffen», sagte Bourgeois wenig später. Selbst konnte sie in ihrem hohen Alter
den Ort nie besuchen, doch Zumthor machte sich mit dem Ort intensiv vertraut. Während Zumthors Denkmal zur meditativen Versenkung einlädt, liefert Bourgeois' Installation ein starkes Bild zu den Hexenprozessen. Mit einem brennenden Stuhl und einer 100 Meter langen Gedenkhalle vermitteln sie ein schweres Stück Geschichte.
DIE SCHÖNSTE ÖFFENTLICHE TOILETTE DER WELT
Jeder, der jemals einen Roadtrip unternommen hat, weiss, dass es eine der weniger glamourösen Seiten des Trips ist, unterwegs öffentliche Toiletten zu benutzen. Doch es gibt in der Tat stille Örtchen, die eigentlich viel zu schön sind, um dort sein Geschäft zu verrichten.
Während Architekten weltweit um einen Auftrag für ein Museum eifern, fördert es den guten Ruf, wenn man für die Landschaftsrouten in Norwegen ein Toilettenhäuschen entworfen hat. An der Helgelandskysten-Route auf Ureddplassen befindet sich laut der englischen Tageszeitung «The Telegraph» die schönste öffentliche Toilette der Welt. Mit Blick über den Fjord, das Meer, die Vogelinsel und die Lofotenwand leuchtet das wellenförmige Toilettengebäude besonders eindrucksvoll in der Dunkelheit. Der Ureddplassen ist ausserdem ein Ort der Erinnerung. Auf dem Gelände befindet sich ein Denkmal, das an 42verstorbene Besatzungsmitglieder des norwegischen U-Bootes «Uredd» erinnert, welches im Zweiten Weltkrieg von einer Mine getroffen wurde. Ein weiteres bemerkenswertes Toilettenhäuschen findet man auf dem Aurlandsfjell. Auf der Westseite bei Stegastein ragen eine vom britischen Architekturmagazin «DesignCurial» prämierte Toilette und eine Aussichtsplattform in 650 Meter Höhe über den Aurlandsfjord hinaus. Durch die überhängende Lage konnte die Toilette mit grossen Glasfronten gebaut werden, die einen vollen Ausblick, aber keinen Einblick ermöglichen. Die als 30Meter lange Rampe ausgeführte Plattform bietet eine einmalig atemberaubende Aussicht über den 650 Meter tiefer gelegenen Fjord und die umliegende Landschaft.
Die von den Architekten entworfenen Anlagen entlang der Touristenstrasse sollen zweckmässig sein, aber auch die natürlichen Reize jedes Ortes unterstreichen und ihm «einen Namen und Charakter geben», sagt Karl Otto Ellefsen, Professor der Architekturund Designschule Oslo. Zweifelsohne beeindrucken die Bauwerke in vielerlei Hinsicht, aber einen besonderen Effekt haben die modernen Kleinbauwerke auf jeden Fall: An den in Norwegen auch im Sommer gelegentlich trüben Tagen, an denen die Wolken die Berge abschneiden und sich die Landschaft hinter einem grauen Regenschleier verliert, sind sie jedenfalls wohltuende Blickfänge in der Natur.