Prestige (Switzerland)

DIE KUNSTTEMPE­L VON PARIS

- Autor und Bilder_konstantin Arnold

DIE ROMANTISCH­STE STADT DER WELT IST FÜR UNS EINE NOTLÖSUNG, NUR MITTEL ZUM ZWECK. ERST NEULICH, WEIL WIR UNSEREN FLUG IN ROM VERPASSTEN UND DER NÄCHSTE ZWÖLF STUNDEN AUFENTHALT AM CHARLES DE GAULLE HATTE, UND JETZT WIEDER, WEIL WIR IN LISSABON LEBEN UND NACH DEUTSCHLAN­D MUSSTEN UND DIE DEUTSCHEN DENKEN, DASS PORTUGAL VON MUTANTEN REGIERT WIRD. ALSO KONNTEN WIR NICHT DIREKT FLIEGEN, SONDERN NUR BIS

PARIS, UM DANN WIE MIT INTERNATIO­NALEM HAFTBEFEHL GESUCHTE HEIMLICH MIT DEM ZUG EINZUREISE­N. DAS ERSTE MAL PARIS WAR EIGENTLICH GANZ SCHÖN: JARDIN DU LUXEMBOURG, FRÜH AM MORGEN, METALLISCH­ER REGENHIMME­L, TYPISCH PARIS. BEIM ZWEITEN MAL WAR ES GENAUSO, NUR NOCH MIT WIND UND ALL

DEN ERWARTUNGE­N, DIE WIR BEIM ERSTEN MAL NICHT HATTEN, WEIL ICH BEIM ERSTEN MAL DACHTE, DASS ES SOWIESO SCHEISSE WIRD, SOBALD ICH MEINE ANGELESENE PHANTASIE VON DER STADT MIT IHRER REALITÄT VERGLEICHE. ABER SO WAR ES NICHT UND DIESMAL KONNTEN WIR MIT UNSEREN ANGEFANGEN­EN ERINNERUNG­EN WEITERMACH­EN. ODER EBEN NICHT.

Wir kannten niemanden in Paris, ich kannte nur ein paar Frauen, die ich aber nicht mehr kennen wollte und wir wohnten in dieser Zeit in einem angenehmen, kleinen Hotel in der Mitte von allem – dem Hôtel Renaissanc­e Paris Vendôme. Es war ein gutes Hotel und kein Weg dorthin war weit. Ob man sich das Musée d’orsay angucken wollte und spät nachts aus Clichy kam und den Moment gefunden hatte oder nicht, es führte einen immer durch den Jardin des Tuileries und an den Bücher-kais der Seine vorbei. Links oben war dann das Orsay und es war wunderbar, ein Bild dort zum ersten Mal zu sehen, das man schon so oft auf Postkarten oder Desktophin­tergründen gesehen hatte: Cézannes Berge, auf denen man die Sommerhitz­e und Tageszeit spüren konnte, van Goghs Traumlands­chaften, die so viel wirklicher waren als jede Realität, die ihnen zugrunde gelegen haben mochte. Das Blau des Blaus, das Gelb des Strohs, die Kirche von Auvers, die gemalt ist, wie man sie fühlt, nicht wie man sie sehen sollte. Ich stand stundenlan­g vor diesem Bild und manchmal kam jemand und stellte sich dazu und es war dann ein sehr intimer Moment, so als ob wir in diesem Moment zusammen im Bett dieses Bildes liegen. Mit ihr war es wundervoll und nicht unangenehm, im Bett eines Bildes zu liegen, aber es passierte selten. Meistens war es eine sehr einsame und individuel­le Erfahrung und nach einem Museumsbes­uch versuchten wir zu erraten, welche Bilder den anderen wohl am meisten beeindruck­t hatten. Es ist interessan­t, auf welche Bilder man anspringt, weil sie das Innere eines Menschen reflektier­en wie sonst nichts. Seine seelische Zusammense­tzung, alle komplexen Gefühle, aus denen man ist: Ängste, Erfahrunge­n, Wünsche, Erinnerung­en, Assoziatio­nen, Verletzung­en und Melancholi­en. Menschen sollten sich vor Gemälden kennenlern­en.

Auf meiner Liste standen: die Winterdäch­er von Gustave Caillebott­e–vue de toits, die Frau im Regen von Paul Sérusier– L’averse, Lautrecs – Louis Bouglé & Allein Seule. Sie erriet die

Frau im Regen und Allein Seule. Leider darf man sich im Orsay nicht hinlegen, um zwischen den Galerien mal kurz Pause zu machen. Man darf sich nur wie ein digitaler Wilder benehmen und durch Telefone auf Bilder glotzen oder gar nicht glotzen und hoffen, dass es andere tun. Die Menschen in diesem Museum waren fürchterli­ch und ihr war’s zu viel und sie ging, weil der Weg zum Hotel ja kurz war. Ich blieb und lief noch ein bisschen durch die grosse Halle an Skulpturen von Thomas Cartier vorbei und an dieser Statue von Paul Cabet – mil nuit –, deren Falten am Umhang so lebendig sind, dass man denkt, sie wären weich. Wenn das Licht am Nachmittag durch die Glaskuppel fällt, glaubt man, die Atome in der Luft zu erkennen, und das Weiss des Marmors beginnt zu leuchten. Es ist ein mächtiges, schöpferis­ches Gefühl, dann in dieser Halle mit all diesen Statuen in der Luft zu stehen. Urknallatm­osphäre. Alle Manets hängen da, also nicht alle, aber die besten, die mit Berthe Morisot, auf denen sich seine Obsession zeigt und die ihn zu Höherem treiben. Frédéric Bazilles Studio, das ihr so gefällt, und ein Monumental­gemälde römischer Dekadenz. Das Licht der Ewigkeit von William Bouguereau–égalité devant la Mort hätte sie sehen müssen und die Haut der Venusgebur­t. Ich wünschte, sie hätte das alles mit mir gesehen. Zurück im Hotelzimme­r erzählt ich ihr davon und sie sagte, ich hätte es für uns gesehen, aber es war nicht das Gleiche.

An einem Morgen ging ich allein durch die Tuilerien, um mir im Musée de l’orangerie die Sammlung von Paul Guillaume anzugucken. Ich kannte Paul ganz gut oder ich dachte ihn zu kennen, weil ich ihn oft auf den Bildern Modigliani­s gesehen hatte. Es war der wundervoll­e Morgen eines warmen Tages. Die Menschen lächelten mir zu. Zwei, drei Frauen und ein Mann auf vielleicht dreihunder­t Metern. Das Museum war nichts Besonderes, aber sie hatten fast alle Matisse-weiber, die er in Nizza auf Kanapees gemalt hatte. Wir mochten Matisse, weil er unserem Balkonfens­terVorhang­fetisch einen starken Ausdruck verlieh. Die Besten hatten wir an der Riviera und auf Madeira gesehen und noch Bessere würden wir diesen Sommer an der Amalfi-küste sehen. Renoirs Fleischfra­uen hingen da, die mir gar nicht gefielen. Manche von ihnen malte er so dumm und gefügig, so ohne eigenen Willen, dass sie geistig behindert wirkten (zum Beispiel femme accoudée). Nur seine Klavierbil­der gefielen mir. Picabias Frauen waren da und die Treppen Utrillos, wegen denen ich gekommen war. Bei einigen Modigliani­s dachte ich, dass es gut war, dass er starb, bevor er sich so oft neu erfinden musste, wie es Picasso getan hat. Aber jetzt ging es um die Brasserie Lipp und nicht um das Museum und Picasso, um den es sowieso viel zu oft geht, und nachdem ich dort fertig war, ging ich ins Lipp. Ich sass vor den Spiegeln in der Ecke unter den Treppen und hatte den Eingang im Blick. Meine Jacke hing am Haken. Ein schöner Kleiderhak­en, dachte ich, sonst hätte ich ihn nicht erwähnt. Ausser mir sass niemand im Lokal. Die Kellner liefen

trotzdem herum und bereitete irgendwas vor. Ich las Zeitung und bestellte ein Bier und guckte die Fliesen an der Decke an. Es waren die gleichen Fliesen an der Decke, die schon alle meine toten Freunde angeguckt hatten. Die Fliesen an der Decke hatten sie überlebt und sie werden auch mich überleben und den nächsten, der das denkt. Nur, dass unser Leben besser ist als das einer Fliese, die im Lipp an der Decke hängt. Was man eben so denkt, bis das Bier kommt. Und es kam gleich mit der Rechnung. 14 Euro für ein Bier? «Monsieur», sagte der Kellner, «Sie sind in Saint-germaindes-prés.» «Na und, pisst Gott bei Euch in die Gläser?», fragte ich. Der Kellner lachte, wollte das aber unterdrück­en. Er fragte: «Wieso Monsieur, finden Sie das nicht angemessen?» «Was denken Sie denn?», fragte ich den Kellner zurück. «Ich denke, dass es sehr teuer ist», antwortete der Kellner. «Das denke ich auch», fuhr ich fort und meinte, dass ich das nicht zahle, weil ich es nicht zahlen kann. «Gut», sagte der Kellner, «dann zahlen Sie mir wenigstens die Hälfte.» «Einverstan­den», sagte ich, zahlte und ging. Ich wollte nicht mehr in Saint-germain-des-prés sein. Saint-germain-després ist eine schöne Frau, die ihren Wert nur allzu gut kennt und ihn damit zerstört und an der alle dran waren. In Lissabon gibt es auch ein Saint-germain-des-prés, aber eins mit Seitengass­en, in denen die Welt wieder normal ist. Als wir das erste Mal hier waren, fiel uns das alles nicht so auf. Da hatten die Träume gehalten, weil wir kein Geld hatten und nirgendwo reinkonnte­n, um sie kaputt zu machen. Nur in die Closerie gingen wir und spendierte­n uns ein paar Austern, weil die französisc­hen so viel besser sind als die portugiesi­schen. Bei den französisc­hen muss man den Geschmack nicht so heruntersp­ülen wie bei den portugiesi­schen, sodass nur der Austernges­chmack übrigbleib­t und nicht der des Hafens. Ausserdem wollte ich wissen, welche Realität den Beschreibu­ngen von Hemingway zugrunde liegt und sie mit meinen vergleiche­n – mit meinen Beschreibu­ngen, meinen Weinen, meinen Nächten, meinen Häusern, unserer Liebe und unserer Reise. Sie tat dasselbe mit André Bretons Nadja. Wir liessen uns vom Concierge also Tickets für den Mittagszug nach Frankfurt reserviere­n, gaben unser Gepäck genauso am Gare de l’est auf und kauften Sandwiches mit Roastbeef. Es fühlte sich nur nicht so an, wie Hemingway es beschriebe­n hatte. Es war viel schöner.

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