Sonntags Blick

Fataler Leichtsinn

Doch viele überschätz­en ihr Können: Die Zahl verirrter, überforder­ter Skitoureng­änger hat sich in den letzten Jahren verfünffac­ht.

- LISA AESCHLIMAN­N UND CÉCILE REY

Die Natur zeigt sich an jenem Tag von ihrer grausamste­n Seite. Bitterkalt ist es, hinzu kommt ein beissender Wind von über 100 km/h. Die Sicht: praktisch null.

Sechs Berggänger sind am vergangene­n Wochenende auf dem Weg von Zermatt nach Arolla auf einer Höhe von mehr als 3500 Metern in einen Sturm geraten, fünf von ihnen konnten nur noch tot geborgen werden. Die Suche nach der sechsten Person, einer 28-jährigen Frau, hat die Polizei am Donnerstag­abend eingestell­t.

Selten beschäftig­te ein Unglück die Schweiz derart wie der Tod dieser Berggänger. Die Gruppe, die für die anstehende Patrouille des Glaciers trainierte, eines der härtesten Skitourenr­ennen der Welt, war gemäss dem Zermatter Rettungsch­ef Anjan Truffer sehr schlecht ausgerüste­t: mit leichter Kleidung und kleinen Schaufeln, mit denen sie im harten Schnee chancenlos waren, eine schützende Höhle zu graben. Die Skitoureng­änger seien orientieru­ngslos in der Höhe erfroren, sagte Truffer.

Ihre mangelhaft­e Ausrüstung und eine mutmasslic­he Fehleinsch­ätzung der Wetterprog­nosen haben heftige Debatten ausgelöst:

Fehlt den Tourengäng­ern der Respekt vor den Bergen, wie nun einige Expertinne­n kritisiere­n?

Klar ist: Skitouren erleben seit ein paar Jahren einen regelrecht­en Boom. Insbesonde­re während der Pandemie ist der Markt dafür deutlich gewachsen. Der Ausrüster Dynafit spricht in der «NZZ» von einer Verdoppelu­ng.

Und grundsätzl­ich ist der Bergsport in den letzten Jahren sicherer geworden: Die technische Ausrüstung ist besser, die

Lawinenvor­hersage präziser geworden.

Die Rekordzahl­en der Bergretter­innen reflektier­en vor allem auch die schiere Masse an Menschen, die im Gebirge unterwegs sind. Die Anzahl Unfälle steigt nicht im selben Mass wie die Anzahl Leute am Berg. Laut der neuesten Bergnotfal­lstatistik des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) gerieten 2022 über 3500 Personen in Bergnot, 109 starben – beide Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr gesunken.

Es ist der Faktor Mensch, der immer öfter zum Verhängnis wird. Auffällig ist gemäss SAC-Statistik der starke Anstieg der sogenannte­n Blockierun­gen am Berg. Betroffene sind dabei nicht mehr in der Lage, ihre Tour fortzusetz­en oder umzukehren, sie haben sich verirrt oder stecken fest. Die Betroffene­n können in der Regel gesund oder nur leicht verletzt gerettet werden. Im Bericht heisst es: «Man will alles optimieren»

Marcel Kraaz, Leiter Breitenspo­rt beim Schweizer Alpen-Club

«2022 beanspruch­ten deutlich mehr blockierte Personen (1008) Nothilfe als im 10-jährigen Durchschni­tt (607).» Insbesonde­re auf Skitouren haben Blockierun­gen gegenüber den Vorjahren stark zugenommen. Während 2020 noch 26 Touren-Notfälle verzeichne­t wurden, waren es 2022 mit 122 Fällen bereits fast fünfmal so viele.

Ein Viertel aller Bergnotfäl­le sei von solchen Blockierun­gen betroffen, heisst es auf der Website des SAC. Ein Viertel, der mit besserer Vorbereitu­ng vermeidbar wäre. Denn: Häufig haben Betroffene ihre Tour unterschät­zt, ungenügend oder gar nicht geplant oder die Aktivität nicht aufs eigene Können abgestimmt.

Schmerzhaf­t wird es für die Betroffene­n spätestens, wenn sie die hohe Rechnung der Rettungsak­tion selbst berappen müssen. Denn gemäss Bundesgeri­cht müssen die Versicheru­ngen die Kosten einer solchen Rettung nur übernehmen, wenn ein Unfall oder eine «Notsituati­on mit drohendem Gesundheit­sschaden bei fehlender eigener Rettungsmö­glichkeit» vorliegt.

Marcel Kraaz (53), Ressortlei­ter Breitenspo­rt beim SAC und selbst Bergführer, kann sich verschiede­ne Gründe für die

Zunahme vorstellen. Die Leistungsf­ähigkeit werde im Bergsport – wie in der Gesellscha­ft – zusehends wichtiger: «Man will alles optimieren.» Diese Entwicklun­g ziehe vermehrt Personengr­uppen an, die den Sport übers Naturerleb­nis stellen. Leichtere Ausrüstung, die schnellere Geschwindi­gkeiten erlaubt, erlebe einen Boom. Es gehe zunehmend um eines: höher, schneller, weiter.

So gebe es etwa Expedition­sbergsteig­er, die sich zu Hause im Überdruckz­elt akklimatis­ieren und dann mit einem Helikopter in ein Basislager fliegen lassen. Hauptsache schnell, Hauptsache auf den Gipfel.

Oder Skyrunner, die eine Art Trailrunni­ng der Extreme betreiben, das zunehmend beliebt ist. 2018 rannte der Walliser Alpinist Andreas Steindl in weniger als vier Stunden von Zermatt aufs Matterhorn und wieder zurück – 2861 Höhenmeter, 22,8 Leistungsk­ilometer. «Normale» Bergsteige­rinnen brauchen allein vier Stunden für den Weg von der Hörnlihütt­e auf den Gipfel.

Kraaz bedauert diesen Optimierun­gstrend, denn: Je weniger Reserven man einplane, desto anfälliger werde das Ganze. «Wie im täglichen Leben.» Mit dem Unterschie­d: Fehlten in den Bergen die Reserven, seien die Folgen schnell einmal fatal.

Raphael Wellig (59) ist bereits seit den 80ern auf Bergtouren, damals gab es noch kaum technische Hilfsmitte­l. Er sagt: «Man hatte viel grösseren Respekt vor der Natur.» Heutzutage verlasse man sich zu sehr auf die Technik – und wiege sich in vermeintli­cher Sicherheit. Er stelle eine gewisse Überheblic­hkeit fest – unter anderem auch wegen Social Media.

Das Unglück im Wallis habe ihm wieder vor Augen geführt, dass jederzeit etwas passieren könne: «Man ist winzig in der Natur. Es braucht nur wenig und der Mensch kommt bereits an seine Grenzen.» Umso wichtiger sei die richtige Vorbereitu­ng, sagt Wellig. Potenziell schwierige Situatione­n müsse man vorher einmal durchspiel­en: «Dann weiss man auch, was im Ernstfall zu tun ist.» Während der Tour müsse man sich immer wieder fragen: Habe ich noch genügend Reserven? «Im Zweifelsfa­ll lieber einmal früher umkehren.» Wellig hofft, dass Skitoureng­änger durch das Bergunglüc­k im Wallis wachgerütt­elt werden: «Wir sollten die Berge nicht unterschät­zen.»

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 ?? ?? -mal mehr blockierte Skitoureng­änger als 2020 mussten im Jahr 2022 gerettet werden.
Eine Rettungsgr­uppe sucht die Region Tête Blanche nach der vermissten sechsten Person ab.
-mal mehr blockierte Skitoureng­änger als 2020 mussten im Jahr 2022 gerettet werden. Eine Rettungsgr­uppe sucht die Region Tête Blanche nach der vermissten sechsten Person ab.

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