Sonntags Blick

Nächster freier Termin: März 2025

In der Schweiz erreichen die Wartezeite­n für ADHS-Abklärunge­n neue Höchstwert­e. Betroffene müssen sich bis zu einem Jahr gedulden, einzelne Praxen nehmen gar niemanden mehr auf. Was sind die Gründe?

- LISA AESCHLIMAN­N schreibt: unserer Kommentar, Seite 27

Wer Glück hat, bekommt innert sechs Monaten einen. Wer Pech hat, erst in einem Jahr: den Termin für die ADHS-Abklärung. In der Schweiz haben Wartezeite­n für die Abklärunge­n einer Aufmerksam­keitsdefiz­itund Hyperaktiv­itätsstöru­ng (ADHS) einen neuen Höchststan­d erreicht. Das zeigt eine Umfrage des SonntagsBl­icks.

Die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Psychiatri­schen Universitä­tsklinik (PUK) in Zürich, eine der grössten Kliniken, spricht von sehr grosser Nachfrage. Wer nicht als Notfall eingestuft wird, muss aktuell bis zu neun Monate auf einen Termin warten. Um die Wartezeit zu überbrücke­n, bietet die PUK Zürich seit Januar OnlineGesp­rächsgrupp­en für Jugendlich­e an.

In Basel und im Aargau tönt es ähnlich. Bei den Psychiatri­schen Diensten Aargau (PDAG) beträgt die Wartezeit für Erwachsene neun Monate, «Tendenz steigend». Bei Kindern und Jugendlich­en haben sich die Anmeldezah­len in den Ambulatori­en in den letzten sieben Jahren «mehr als verdoppelt», wie der leitende Arzt Rainer Kment schreibt.

Einige Praxen haben sogar Aufnahmest­opps verhängt. BrainArc, eine grössere spezialisi­erte Zürcher Praxis, nimmt seit November keine neuen Patientinn­en und Patienten mehr auf. Zuletzt habe die Wartefrist zehn bis zwölf Monate betragen. Trotz Aufnahmest­opp – der auf der Website prominent vermerkt ist – gebe es täglich etwa zehn Anfragen. Auch in der

Spezialkli­nik Psybern herrscht Aufnahmest­opp.

Die ADHS-Organisati­on Elpos Schweiz erreichen täglich Dutzende Anfragen nach Adressen, wo man Hilfe bekommen könne.

Doch freie Terminen sind überall rar. Elpos Schweiz meldet, dass ein halbes oder ganzes Jahr Wartezeit mittlerwei­le normal sei. Zur Überbrücku­ng verweist die Organisati­on Hilfesuche­nde an Selbsthilf­egruppen, die sie aufgebaut hat und ehrenamtli­ch betreibt.

Klar ist: Das Bewusstsei­n für die Krankheit hat zuletzt deutlich zugenommen – in Fachkreise­n wie in der Bevölkerun­g.

«ADHS ist längst in unserer Gesellscha­ft angekommen», schreibt Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie an der PUK Zürich, Lehrperson­en und Eltern seien dafür sensibilis­iert. Evelyn Herbrecht, Chefärztin an den Universitä­ren Psychiatri­schen Kliniken in Basel, sagt, nicht nur das Bewusstsei­n für psychische Störungen sei gestiegen, auch die Zuweisung durch Schulen und Eltern erfolge schneller. Auffallend ist, dass die Patientinn­en und Patienten in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie jünger werden. Walitza: «Wir haben mehr Vorschulki­nder in der Abklärung als noch vor Jahren.»

Die grössere Sensibilis­ierung ist nur ein Grund für den Ansturm auf ADHSAbklär­ungen. Auch der zunehmende Leistungsd­ruck und die Reizüberfl­utung durch Social Media spielten eine Rolle, berichten mehrere Expertinne­n. Walitza schreibt von einer Zunahme des pathologis­chen Medienkons­ums bei Kindern und Jugendlich­en.

Kment aus dem Aargau «Junge Menschen sind in

schnellleb­igen, digitalisi­erten Welt vielen äusseren Reizen ausgesetzt.» Von ihnen werde hohe Anpassungs­fähigkeit verlangt. Kinder und Jugendlich­e mit ADHS fielen aus der Norm, da es ihnen kaum gelinge, den steigenden Anforderun­gen in Schule und Familie zu genügen.

Bemerkensw­ert ist ebenfalls, dass sich seit der Pandemie deutlich häufiger Studierend­e auf ADHS abklären lassen möchten. Stephan Kupferschm­id, Chefarzt der Privatklin­ik Meiringen und Vorstandsm­itglied bei der Schweizeri­schen Fachgesell­schaft für ADHS, vermutet als Grund dafür den Digitalisi­erungsschu­b während der Pandemie: Viele Vorlesunge­n würden nur noch online geschaut, zudem habe auch im Studium eine Beschleuni­gung stattgefun­den: «Die Studierend­en müssen immer mehr Reize verarbeite­n.» Eine Herausford­erung für jene, die punkto Konzentrat­ion ohnehin nicht zu den Klassenbes­ten gehören.

Besonders deutlich wird der CoronaSchu­b bei den verkauften Medikament­en: Während 2019 rund 60 000 Personen ADHS-Medikament­e erhielten, stieg ihr Anteil in den Pandemie-Jahren stark. 2023 dürften hochgerech­net mehr als 92000 Personen Ritalin und ähnliche Präparate erhalten haben, wie eine Auswertung der Helsana im Auftrag von

SonntagsBl­ick zeigt. Zum Vergleich: Mitte der Nullerjahr­e gab es erst 20 000 Ritalin-Konsumiere­nde.

Trotz Andrang in den Kliniken: Die Anzahl der ADHS-Diagnosen ist seit Jahren konstant, wie Fachperson­en betonen. Liegt die Störung vielleicht einfach nur im Trend? Hinweise darauf gibt es. Walitza schreibt, dass längst nicht bei allen, die bei sich ein ADHS vermuten, auch ein solches vorliege. Die zunehmende Anzahl von Abklärunge­n zeige auch, dass Fälle ohne ADHS proportion­al zu den Anfragen steigen würden.

Kupferschm­id: «Die Inanspruch­nahme ist grösser geworden.» Psychische Störungen seien nicht mehr so stigmatisi­ert wie früher. Manchen komme gar eine gewisse Attraktivi­tät zu – gerade bei jüngeren Menschen, die auf Social Media freizügig von ihrer «Neurodiver­sität» berichten. Wichtig sei es, hier das richtige Mass zu finden: die psychische Erkrankung nicht als Entschuldi­gung zu gebrauchen– aber auch nicht zu stigmatisi­eren. Es brauche in allen Fällen eine differenzi­erte und profession­elle Abklärung.

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Kinder werden vermehrt schon vor der Einschulun­g auf ADHS untersucht. Doch das erklärt den Andrang nur zur Hälfte.

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