Sonntags Blick

Putin als Mass

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Walter Wobmann, Wortführer der SVP in Sachen schweizeri­sche Neutralitä­t, weiss Bescheid – auch darüber, wie der Kreml denkt: «In den Augen der Russen sind wir nicht mehr neutral.» Seit der soeben erfolgten Abschaffun­g jedweder Demokratie in Moskau mittels Vorspiegel­ung von Wahlen wissen wir:

Die «Augen der Russen» – das sind die Augen Putins.

Diesem Diktatoren-Blick hält die schweizeri­sche Neutralitä­t nicht stand – und das muss dringend korrigiert werden, wie Wobmann fordert. Sein Ordnungsru­f ist von der höchsten Parteiinst­anz abgesegnet. Christoph Blocher stellte bereits kurz nach Moskaus Angriff auf die Ukraine fest, dass die Schweiz «die Neutralitä­t brach und damit Kriegspart­ei ist». Der Unfehlbare rückte die Neutralitä­t sogar ins Zwielicht einer unsittlich­en Tat: «Die Schweiz hat die Neutralitä­t geschändet.»

Und das vor Putins strafenden Augen!

Wir wissen, wie streng und verhängnis­voll der Blick des Kremlherrs­chers ist. Er kann Tod und Verderben bedeuten: Bomben und Raketen Tag und Nacht und Jahr und Tag. Dagegen hilft nur Gehorsam, am besten vorauseile­nder.

Putin – Richtmass des Richtigen.

Der Diktator als Pate schweizeri­scher Neutralitä­tspolitik, als Pate schweizeri­scher Aussenpoli­tik. Kann man Wobmann anders verstehen? Kann man seine Partei anders verstehen?

Zum tieferen Verständni­s der SVP, die eine Unterwerfu­ng der eidgenössi­schen Aussenpoli­tik unter Moskaus Massstab predigt, sollte man die SVP in den Blick nehmen, die zum Widerstand gegen eine Verständig­ung mit Brüssel aufruft – in ihren Worten: «Die Schweiz der EU zum Frass vorwerfen.»

So der SVP-Kampagnen-Slogan gegen ein Abkommen Berns mit Brüssel, das nur in einem «Kolonialve­rtrag» enden könne, also in einer vollständi­gen «Knebelung» der seit Jahrhunder­ten freien Eidgenosse­nschaft.

Die EU – Richtmass des Falschen.

Am 14. September 1958 lud Frankreich­s Regierungs­chef Charles de Gaulle den ersten deutschen Bundeskanz­ler Konrad Adenauer in sein Privathaus nach Colombey-les-Deux-Églises ein. In zwei Tagen legten die beiden das Fundament für Europas Friedensge­ist: Der General, im Weltkrieg Kopf der «Forces françaises libres», schloss Freundscha­ft mit dem durch das Naziregime unbelastet­en Kanzler – die historisch­en Erbfeinde Frankreich und Deutschlan­d bescherten dem freien Teil des Kontinents

Putin als Mass für Schweizer Politik. den Frieden, der seitdem herrscht, und damit den Fortschrit­t, der die europäisch­e Entwicklun­g seitdem prägt.

Die EU – Richtmass des Bösen? Feind der Schweiz?

Hinter dem «Eisernen Vorhang» verschanzt­e und verfestigt­e sich der Kommunismu­s. Aus dem Osten drohten Atomwaffen dem freien Teil der Welt – ganz besonders der EU, dem erfolgreic­hen Zusammenwi­rken selbstbewu­sster Demokratie­n und funktionie­render Rechtsstaa­ten, gesichert durch die westliche Verteidigu­ngsgemeins­chaft Nato – insbesonde­re durch die USA.

Die Schweiz mittendrin, wirtschaft­lich wohlgebett­et, militärisc­h wohlbehüte­t – EU-Nation, ohne es zu sein, Nato-Nation, ohne es zu sein.

Nun aber wüten im Osten Europas erneut Willkür und Gewaltherr­schaft: Russland unterdrück­t jede politische Freiheit, mordet widerspens­tige Bürger – und überzieht die Ukraine, eine westlich orientiert­e freie Nation, seit zwei Jahren mit Krieg.

Russland? Putin!

Nur er zählt, allein ihm gehorcht eine Nation, die noch nie in bürgerlich­er Freiheit ihren Alltag leben durfte, noch nie westliche Rechtskult­ur genossen hat – eine Nation, die Unterdrück­ung als Schicksal ihrer ganzen Geschichte erlebt.

Dennoch ist der Weltverbre­cher Putin überall in Europa zur Bezugsgrös­se der äusseren Rechten geworden: eine Heilsfigur, der man zu huldigen hat – von Frankreich­s Marine Le Pen bis hin zu den Schweizer Wortführer­n putinistis­cher Propaganda.

Russlands Präsident inszeniert sich gerne und lustvoll mit nacktem Oberkörper, auch schon mal in Heldenpose zu Pferd. Sein Vorbild für diese Selbstdars­tellung ist der italienisc­he Diktator Mussolini (1883–1945), Begründer des europäisch­en Faschismus: Auch er liebte es, mit nacktem Oberkörper den Macho-Diktator darzustell­en, ob bei der Reisernte in der Po-Ebene, ob auf dem Schlitten im Schnee.

Nicht nur die Bilder gleichen sich. Es gleichen sich die Mentalität­en. Es gleichen sich die Methoden.

In Europa wird zu einem neuen Faschismus getrommelt: gegen die Europäisch­e Union, für einen völkisch definierte­n Nationalis­mus – wie einst vor hundert Jahren. Welches Bekenntnis steckt hinter dem SVPSatz: «In den Augen der Russen sind wir nicht mehr neutral»?

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FRANK A. MEYER

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