Sonntags Blick

«Ich muss Schlafmitt­el nehmen»

Philippe Lazzarini leitet das Palästinen­ser-Hilfswerk UNRWA. Ein Gespräch über Foltervorw­ürfe gegen Israel – und sein schwierige­s Verhältnis zu Ignazio Cassis.

- INTERVIEW RAPHAEL RAUCH

Herr Lazzarini, haben Sie den schwierigs­ten Job der Welt?

Philippe Lazzarini: Ich habe sicher keinen einfachen Job, sondern eine Art «Mission impossible». Doch mich motiviert unser Auftrag: Wir kümmern uns um die palästinen­sischen Flüchtling­e.

Die israelisch­e Regierung fordert Ihren Rücktritt. Wie lange können Sie sich noch im Amt halten?

Mein Mandat dauert noch zwei Jahre. Und mein Auftrag kommt von der

Uno-Generalver­sammlung, nicht von Jerusalem. Israel fordert regelmässi­g den Rücktritt des UNRWA-Generalkom­missars – unabhängig davon, wer dieses Amt gerade ausfüllt. Ich nehme die Rücktritts­forderung nicht persönlich.

Seit dem Terror-Angriff der Hamas vom 7. Oktober steht Ihre Organisati­on stärker in der Kritik denn je. Können Sie noch gut schlafen?

Nein. Ich muss Schlafmitt­el nehmen – die helfen etwas, aber ich schlafe nicht gut. Ich muss jederzeit erreichbar sein, rund um die Uhr. Aber nicht nur ich stehe unter Druck: Auch meine Kolleginne­n und Kollegen leisten Enormes.

Der US-Kongress hat am Donnerstag beschlosse­n, der UNRWA die Unterstütz­ung zu streichen. Was bedeutet das für Ihre ohnehin finanziell klamme Organisati­on?

Es ist schrecklic­h, dass die UNRWA immer am Rande des finanziell­en Kollapses steht. Ich bedauere die Entscheidu­ng von Washington sehr. Die USA sind ein sehr wichtiger Partner. Der Kongress hat ein einjährige­s Einfrieren der Gelder beschlosse­n. Es handelt sich also um einen befristete­n Stopp. Wir haben nächstes Jahr die Möglichkei­t, auf eine neue Entscheidu­ng hinzuwirke­n.

Am Freitag blockierte­n Russland und China die Forderung nach einer Waffenruhe im Uno-Sicherheit­srat.

Ich hatte sehr gehofft, dass der Sicherheit­srat einen sofortigen Waffenstil­lstand fordert. Das hätte Chancen für eine Freilassun­g der israelisch­en Geiseln eröffnet und die Situation der Menschen in Gaza deutlich verbessert. Die Palästinen­ser stehen am Rande einer Hungersnot. Das, was wir im Gazastreif­en leisten, ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Nun müssen wir schauen, wie

wir ohne Waffenstil­lstand unsere Hilfe intensivie­ren können.

Laut Medienberi­chten hat Israel UNRWA-Angestellt­e verhaftet. Nach deren Freilassun­g berichtete­n sie von «Folter, schweren Misshandlu­ngen und Übergriffe­n». Einige sagten, sie seien zu Geständnis­sen über die Verbindung­en zwischen der UNRWA und dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober gezwungen worden. Können Sie das bestätigen?

Wir haben Zeugenauss­agen aus erster Hand, die Israel systematis­che Misshandlu­ng und Folter vorwerfen. Ich weiss von freigelass­enen Personen, dass sie zu falschen Zeugenauss­agen gezwungen wurden. Wir haben Israel um Aufklärung gebeten.

Welches Problem hat Aussenmini­ster Ignazio Cassis mit Ihnen? Worauf wollen Sie hinaus?

Emmanuel Macron hat Sie nach dem 7. Oktober mehrmals angerufen – Ignazio Cassis kein einziges Mal. Dabei sind Sie Schweizer Spitzendip­lomat.

Ich habe mich zu meinem Amtsbeginn 2020 intensiv mit Bundesrat Cassis ausgetausc­ht. Mir war wichtig, nach dem belasteten Verhältnis mit meinem Vorgänger einen Neuanfang zu machen. Es stimmt, dass wir uns schon länger nicht mehr gesehen haben. Das lag an Terminprob­lemen.

Macrons Terminkale­nder dürfte noch voller sein als der von Herrn Cassis …

Viele Staats- und Regierungs­chefs wollten mich seit dem 7. Oktober sehen. Ich hoffe, ein Treffen mit Bundesrat Cassis kann bald stattfinde­n.

Israel behauptet, man könne die UNRWA sofort auflösen.

Das ist nicht wahr. Es gibt keine andere Organisati­on der Vereinten Nationen, die das leisten könnte, was wir leisten. Es gibt keine andere Uno-Organisati­on, die Kindern öffentlich­e Bildung anbietet.

Laut Israel könnte das Uno-Welternähr­ungsprogra­mm den Hunger in Gaza bekämpfen.

Die haben in Gaza nur 30 bis 40 Mitarbeite­r. Wir brauchen nicht nur Notfallhil­fe, sondern auch Pläne, wie es in den nächsten Jahren weitergeht. Wenn Sie die Entwicklun­gshilfe jetzt weiter kürzen, säen Sie die Saat für zukünftige­n Hass und Ressentime­nts. Die UNRWA ist alternativ­los. Es gibt keine ordentlich­e Verwaltung und keinen Staat, der unsere Tätigkeite­n stemmen könnte.

Die EU will Sanktionen gegen radikale israelisch­e Siedler erlassen und ihnen die Einreise verweigern. Sollte sich die Schweiz diesen Bestrebung­en anschliess­en?

Als Schweizer Staatsbürg­er bin ich der Meinung, dass alle Hinderniss­e für den Frieden aus dem Weg geräumt werden sollten. Es gibt radikale Siedler, die sich im Westjordan­land wie Terroriste­n verhalten. Sie sollten sanktionie­rt werden.

Israel findet immer wieder neue Beispiele von UNRWA-Schulbüche­rn mit antiisrael­ischen oder antisemiti­schen Inhalten. Weshalb ist es so schwierig, dies zu verhindern?

Wir dulden weder Antisemiti­smus noch Aufrufe zur Gewalt oder die Verherrlic­hung von Terrorismu­s. Wir konnten die Qualität der Schulbüche­r verbessern. Viele Anschuldig­ungen beziehen sich auf alte Ausgaben von 2015 oder 2017.

Ein aktuelles Beispiel betrifft eine Landkarte in den Farben Palästinas – Israels Existenz wird ignoriert.

Die UNRWA-Lehrer sind angewiesen, darauf hinzuweise­n, dass dies ein Teil der Karte des historisch­en Palästina ist. Sie müssen auch eine moderne Karte Palästinas zeigen – mit Israel.

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Noch zwei Jahre im Amt: UNRWA-Chef Philippe Lazzarini.

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