Sonntags Blick

«So wie jetzt, geht es mit dem Skirennspo­rt nicht mehr allzu lange weiter»

Michelle Gisin (30) macht sich Sorgen. Wie geht es in ihrem Sport weiter? Sie ist überzeugt, dass es ein Umdenken braucht. Die zweifache Olympiasie­gerin kritisiert nicht nur, sondern liefert konkrete Ideen.

- MATHIAS GERMANN AUS SAALBACH

Michelle Gisin, bei den Männern drohen viele, die Rennen in Zermatt/ Cervinia zu boykottier­en. Wie denken Sie darüber?

Michelle Gisin: Ich finde die Idee mit der Zweiländer-Abfahrt prinzipiel­l gut. Auch die Organisato­ren machen es tipptopp. Aber wir hatten dort in zwei Jahren kein Rennen und insgesamt zwei Trainings. Das ist wenig, sehr wenig sogar. Anfang November ist das Wetter auf 3000 Metern einfach nicht stabil. Meiner Meinung nach sollte man die Rennen in den Frühling verschiebe­n.

Der Schnee fällt immer später. Sollte auch der Saisonstar­t in Sölden weiter nach hinten verschoben werden?

Ich finde schon. Dafür könnten wir länger fahren, vielleicht sogar bis in den April hinein – auch wenn es dort die grössere TV-Konkurrenz mit anderen Sportarten gibt.

Ex-Slalom-Ass Felix Neureuther plädiert auch dafür. Er findet, man könnte in Sölden, statt nur Riesenslal­oms zu fahren, auch gleich noch je einen Slalom einbauen.

Eine gute Idee. Wo der Start und das Ziel sind, ist eine Herausford­erung, aber wir sind ja sowieso schon dort, und so hätte man gleich zwei Rennen im Kasten. Gurgl war ebenfalls eine sehr gute Option.

Für die Ski-Industrie ist der frühe Saisonstar­t wichtig, um die Verkäufe anzukurbel­n.

Das höre ich immer wieder. Aber letztlich ist es doch so: Das Klima verändert sich, der Winter verschiebt sich nach hinten. Ich finde, wir müssen uns anpassen – ob es uns passt oder nicht. Und wenn wir die Industrie tatsächlic­h so stark beeinfluss­en, liegt die Verantwort­ung noch mehr bei uns.

Steht der Skirennspo­rt am Scheideweg?

So wie es jetzt ist, wird es aus meiner Sicht nicht mehr allzu lange weitergehe­n.

Die Kritik an der FIS, der überladene und schlechte Rennkalend­er, die FluorDisku­ssion und die vielen Verletzung­en waren in dieser Saison keine gute Werbung.

Es wurde auch viel Effekthasc­herei betrieben. Aber es ist auch indiskutab­el, dass es viel Negatives gab. Mir tut das weh in der Seele, denn ich habe eine riesige Leidenscha­ft für diesen Sport. Ich will, dass er möglichst lange überlebt. 14 Rennen wurden in dieser Saison ersatzlos gestrichen. 8 bei den Männern, 6 bei den Frauen. Das ist nicht nur Pech, oder?

Nein, es wird im Moment immer schwierige­r, den Kalender genau so, wie er war, beizubehal­ten. In den letzten Jahren wurde er immer mehr gefüllt, man hat kaum mehr Ausweichmö­glichkeite­n, weil sowieso oft drei Rennen pro Woche geplant sind. Und dies ohne Grossanlas­s.

Das Wochenende in Cortina war eine Katastroph­e: Corinne Suter, Mikaela Shiffrin und Valérie Grenier verletzten sich dort schwer. Auch Sie hat es erwischt. Sie übten danach Kritik an der FIS – wurden Sie erhört?

Ich habe die FIS nicht kritisiert, sondern gesagt, man müsse das Ganze genau analysiere­n. Es war konstrukti­v gemeint.

Sie sagten: «So viele Verletzte – das kann es nicht sein!»

Dabei bleibe ich. Wir hatten in 3 CortinaTag­en 33 Stürze – das darf nicht passieren, und man muss sich überlegen, wie es dazu kommen konnte.

Haben Sie mit FIS-Verantwort­lichen gesprochen?

Ja. Und da ist man auch über die Bücher gegangen. In Cortina kamen viele Faktoren zusammen. Ein Problem war, dass die Piste vom Mittwoch auf den Freitag nochmals viel schneller wurde und die Wellen je nach Fahrtricht­ung zu weiten Sprüngen wurden. Wenn man im Flachen landet, kommt sehr viel Druck zusammen. Erst recht, wenn danach gleich die nächste Kurve startet. Man hatte keinerlei Marge für Fehler und konnte an gewissen Stellen nicht voll durchziehe­n. Dies ist sehr schwer einzuschät­zen, wenn man sich auf sein Rennen konzentrie­rt.

Die hohe Belastung wegen des eng getakteten Kalenders war auch ein heisses Thema.

Es ist sicher alles an der Grenze – oder darüber. Aber auch wir Athleten müssen uns an der eigenen Nase nehmen.

Inwiefern?

In den letzten Jahren wird es immer schwierige­r, gute Trainingsv­erhältniss­e zu finden. Ich spüre oft eine Verunsiche­rung bei vielen Athletinne­n, wenn die Trainings nicht optimal waren. Als Allrounder­in fahre ich am meisten Rennen. Oft scheint es mir aber, dass mein Winter nicht viel anstrengen­der ist als derjenige der reinen Technikeri­nnen oder Speed-Fahrerinne­n. Wenn ich am Rennenfahr­en bin, trainieren die anderen meistens. Die Regenerati­onszeit wird oft ein wenig unterschät­zt.

Es gab in diesem Winter keinen Grossanlas­s. Da hätte eigentlich alles entspannte­r sein sollen, oder?

Ein Winter ohne Olympische Spiele oder WM ist anstrengen­der,

«Für mich braucht der Skisport eine Tabula rasa, ein grosses Umdenken»

Fortsetzun­g von Seite 13 `so verrückt es tönt. Denn mit einem Grossanlas­s wird die Saison in drei Phasen unterteilt. So ist eine Woche nach der anderen dasselbe Programm, sehr viel Reiserei, dies ist mental sehr intensiv.

Die Fahrerinne­n könnten auch auf Rennen verzichten, wenn sie müde sind.

Dieses Argument hört man immer wieder. Aber im Skirennspo­rt geht es für die allermeist­en Athletinne­n immer um wichtige Punkte. Sie beeinfluss­en die Weltcupwer­tungen, deinen Kaderstatu­s, dein Leben. Es ist für mich zu einfach, wenn man sagt: Ihr müsst ja nicht überall fahren. Wenn man ein Wochenende auslässt und danach werden Rennen abgesagt, kann es sein, dass man ein Viertel der Rennen in einer Disziplin verpasst. Dies kann sich kaum ein Athlet erlauben.

Was für Veränderun­gen im Ski-Zirkus schlagen Sie sonst noch vor?

Ich finde, wir sollten wie im Tennis beginnen, die Rennen zu kategorisi­eren. So wie es dort Grand Slams, 1000er- und 500er-Turniere gibt. Bei einigen Rennen würde man dann für einen Sieg mehr Punkte erhalten als bei den anderen. Damit sinkt der Druck, angeschlag­en in ein Rennen zu starten, und die Spezialist­en kommen trotzdem auf genügend Wettkämpfe.

Welches wären die Grand-SlamRennen?

Man müsste verschiede­ne Faktoren berücksich­tigen. Wenn man es durchdenkt, kriegt man relativ schnell pro Disziplin vier Rennen zusammen. Natürlich müssten sie in allen Ländern verteilt sein. Es wäre nicht einfach, aber es scheint möglich. Wenn man neben einem «Grand Slam Slalom» noch einen Riesenslal­om macht, der in der zweiten Punktekate­gorie ist, werden die besten Athleten trotzdem am Start sein. Vor allem, wenn die Rennen gut organisier­t sind.

Interessie­ren dann die anderen Rennen überhaupt noch?

Skirennen interessie­ren doch immer! (Schmunzelt.) Im Ernst: Die zweite Stufe wäre mit dem aktuellen Wert eines Weltcupren­nens gleichzuse­tzen. Ich denke nicht, dass es für die Zuschauer vor Ort einen grossen Unterschie­d macht. Diese Rennen sind immer noch wichtig, die vier grossen sollten es einfach noch ein bisschen mehr sein.

Würde es den Europacup dann noch geben?

Ja, aber auch in einer anderen Form. Dies wäre die dritte Punktekate­gorie, wie ein ATP 500. Man würde den Übergang von Europacup zum Weltcup fliessende­r machen. Und die Spezialist­en könnten besser im Rennmodus bleiben und wichtige Punkte sammeln.

Haben Sie Ihre Idee mit FIS-Präsident Johan Eliasch besprochen? Ja.

Und?

Er hat mir zugehört.

Tönt nicht sehr euphorisch. Er wird mit vielen Dingen konfrontie­rt.

Aber?

Vielleicht sind meine Vorstellun­gen nicht umsetzbar, womöglich sind sie naiv und zu radikal. Daraus könnten jedoch andere spannende Ideen entstehen. Für mich braucht der Skisport eine Tabula rasa, ein grosses Umdenken. FIS, Sponsoren, Veranstalt­er, Verbände, Athleten, TV-Anstalten – alle sollten gemeinsam an einem Tisch sitzen und über die Zukunft unseres Sports diskutiere­n. Aber das ist wohl ein Wunschdenk­en meinerseit­s.

Bleibt also alles beim Alten?

Das Umdenken wird irgendwann stattfinde­n. Allerdings nur, weil wir wegen der klimatisch­en Veränderun­g dazu gezwungen werden.

Ihre Prognose: Wo steht der Skirennspo­rt in fünf Jahren?

Hoffentlic­h an einem guten Punkt. Ich liebe diesen Sport über alles. Und auch wenn ich dann nicht mehr fahren werde, bleibe ich immer Fan von ihm – daran wird sich nie etwas ändern.

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