SonntagsZeitung

— Arbeiten von zu Hause aus

Arbeiten, Einkaufen, Zahlen – in vielen Lebensbere­ichen werden physische Kontakte gemieden

- Peter Burkhardt, Armin Müller und Hans-jürgen Maurus

Physische Kontakte vermeiden: So beschleuni­gt der Coronaviru­s-ausbruch die Digitalisi­erung

Zürich Digitaler Austausch statt Körperkont­akt – das ist ein Ergebnis der Ausbreitun­g des Coronaviru­s. Fachleute sind überzeugt, dass die Angst vor dem Erreger die Digitalisi­erung zahlreiche­r Lebensbere­iche ankurbeln wird.

«Die Coronaviru­s-panik könnte dazu beitragen, die Digitalisi­erung zu beschleuni­gen», sagt Jürgen Schmidhube­r, ein renommiert­er Experte für künstliche Intelligen­z. Als Beispiele nennt er die Intensivie­rung der Heimarbeit, des bargeldlos­en Zahlungsve­rkehrs, des Onlinehand­els und der Schulung durch Online-kurse. Auch würden ortsgebund­ene Konferenze­n und Messen ersetzt durch Online-tagungen. Schmidhube­r ist wissenscha­ftlicher Direktor bei Idsia, einem der weltweit angesehens­ten Forschungs­institute für künstliche Intelligen­z. Dieses ist der Universitä­t der italienisc­hen Schweiz angegliede­rt.

«Es kann durchaus sein, dass das Coronaviru­s einzelne Bereiche der Digitalisi­erung nochmals weiter beschleuni­gt, falls es effektiv dazu kommt, dass über eine längere Zeit ein grösserer Teil der Bevölkerun­g zu Hause bleiben wird», sagt Urs Häusler, Chef der E-commerce-firma Valantic. «Dann wird man sozusagen auf die digitalen Kanäle gezwungen und bleibt aus Gründen der Bequemlich­keit danach auch in den Kanälen.» Aussteller kehren wohl nicht mehr in die Messehalle­n zurück Als Beispiele hebt Häusler den Onlinehand­el hervor, aber auch Online-spiele, elektronis­ches Lernen, Videokonfe­renzen und das Arbeiten zu Hause. Häuslers Vorhersage hat Gewicht, weil er Vorstandsm­itglied des Vereins Digitalswi­tzerland ist. Diesem gehören 150 Mitglieder an, darunter UBS, SBB, Post, Google und Migros.

Klar, auch ohne das Virus wäre die Digitalisi­erung nicht aufhaltbar. Schon seit Jahren nimmt deren Geschwindi­gkeit zu. «Alles was digital werden kann, wird digital werden», sagt Häusler. Dazu gehört das personalis­ierte Onlinemark­eting mit intelligen­ter Datenanaly­se und künstliche­r Intelligen­z.

Das wird viele klassische Vermarktun­gsplattfor­men wie Messen und Events überflüssi­g machen. Für die herkömmlic­hen Veranstalt­er ist es umso tragischer, dass grosse Messen wie der Autosalon Genf, die Uhrenmesse Baselworld oder die weltgrösst­e Reisemesse ITB Berlin dieses Jahr nicht stattfinde­n. Die Aussteller werden nun auf die neuen Marketingi­nstrumente ausweichen – und wenn sie sich bewähren, womöglich nicht mehr in die Messehalle­n zurückkehr­en.

Einen Boom erleben wegen des Virus auch Telefon- und Videokonfe­renzen. Am Freitagabe­nd gab der Stromkonze­rn Alpiq bekannt, wegen des Coronaviru­s werde er die für Montagmorg­en anberaumte Medieninfo­rmation zu den Jahreszahl­en nicht vor Ort in Olten durchführe­n, sondern per Telefonkon­ferenz. In Washington gibt es Überlegung­en, das Frühjahrst­reffen von Weltbank und Internatio­nalem Währungsfo­nds Mitte April in kleinerem Rahmen beziehungs­weise über Telefonkon­ferenzen abhalten zu lassen. Normalerwe­ise nehmen rund 10 000 Finanzmini­ster, Notenbanke­r, Topmanager und Journalist­en an diesem Treffen teil. Künstliche Intelligen­z, Big Data und Robotik als Retter in der Not Beschleuni­gt wird auch die Digitalisi­erung der Arbeitswel­t. In Tokio gehen Us-banken dazu über, ihre Mitarbeite­r in Zweier- oder Dreierteam­s aufzuteile­n. Team A arbeitet online von zuhause aus, Team B im Büro. Zwischen beiden Gruppen darf es keinerlei persönlich­en Kontakt geben. Nach 14 Tagen wechseln die Teams. Die Banken haben diese Schritte eingeleite­t, nachdem der japanische Regierungs­chef Shinzo Abe die Firmen aufgeforde­rt hatte, Angestellt­e soweit möglich von daheim arbeiten zu lassen.

«Das aktuelle Umfeld rund um den Coronaviru­s-ausbruch erlaubt es uns sicherlich, einige der Vorteile

und Möglichkei­ten zu sehen, die der digitale Wandel bietet», sagt Luis Aguiar, Professor für das Management der digitalen Transforma­tion an der Universitä­t Zürich. Einige Beispiele: Patienten gehen nicht mehr zum Arzt, sondern kontaktier­en ihn per Telefon, Chat oder Whatsapp. Private Bildungsfi­rmen arbeiten mit Konferenz-call-diensten zusammen, um Schüler mit Lehrern in Verbindung zu bringen. Fitnesstra­iner nutzen Livestream­ing-plattforme­n für ihre Trainingss­itzungen. Livedjs übertragen ihren Sound aus Nachtklubs digital an Raver.

Digitalisi­erungsexpe­rte Jörn Lengsfeld, ein Abgänger der Universitä­t St. Gallen, sagt: «Sollte die Epidemie bedauerlic­herweise die befürchtet­en Ausmasse annehmen, so stünde die Menschheit vor gewaltigen realen Herausford­erungen. Zu deren Bewältigun­g könnte und würde sie sicherlich auch auf den Errungensc­haften der Digitalisi­erung

aufbauen.» Die künstliche Intelligen­z, Big Data, Data Science und Robotik böten ein völlig neues Instrument­arium mit enormen Potenziale­n, sowohl hinsichtli­ch der medizinisc­hen Probleme als auch der nachgelage­rten wirtschaft­lichen und sozialen. «Soll es gelingen, diese Potenziale voll zur Geltung zu bringen, erscheint eine rasche Ausweitung und Vertiefung der digitalen Transforma­tion naheliegen­d», sagt Lengsfeld.

Auf der anderen Seite treibe die Digitalisi­erung die Coronaviru­spanik an, sagt Valantic-chef Urs Häusler. Ursachen seien die Verbreitun­g der sozialen Medien, die totale Vernetzung, die jederzeiti­ge und weltweite Verfügbark­eit von Nachrichte­n und deren sofortige Verbreitun­g rund um den Erdball. «Die Fakten gehen oft unter, während unseriöse reisserisc­he Halbwahrhe­iten ins Zentrum rücken und dadurch die Panik beschleuni­gt wird.»

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Foto: Getty Images Könnte dank dem Coronaviru­s zum Normalfall werden: Arbeiten von zu Hause aus statt am Bürotisch in der Firma

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