— Arbeiten von zu Hause aus
Arbeiten, Einkaufen, Zahlen – in vielen Lebensbereichen werden physische Kontakte gemieden
Physische Kontakte vermeiden: So beschleunigt der Coronavirus-ausbruch die Digitalisierung
Zürich Digitaler Austausch statt Körperkontakt – das ist ein Ergebnis der Ausbreitung des Coronavirus. Fachleute sind überzeugt, dass die Angst vor dem Erreger die Digitalisierung zahlreicher Lebensbereiche ankurbeln wird.
«Die Coronavirus-panik könnte dazu beitragen, die Digitalisierung zu beschleunigen», sagt Jürgen Schmidhuber, ein renommierter Experte für künstliche Intelligenz. Als Beispiele nennt er die Intensivierung der Heimarbeit, des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, des Onlinehandels und der Schulung durch Online-kurse. Auch würden ortsgebundene Konferenzen und Messen ersetzt durch Online-tagungen. Schmidhuber ist wissenschaftlicher Direktor bei Idsia, einem der weltweit angesehensten Forschungsinstitute für künstliche Intelligenz. Dieses ist der Universität der italienischen Schweiz angegliedert.
«Es kann durchaus sein, dass das Coronavirus einzelne Bereiche der Digitalisierung nochmals weiter beschleunigt, falls es effektiv dazu kommt, dass über eine längere Zeit ein grösserer Teil der Bevölkerung zu Hause bleiben wird», sagt Urs Häusler, Chef der E-commerce-firma Valantic. «Dann wird man sozusagen auf die digitalen Kanäle gezwungen und bleibt aus Gründen der Bequemlichkeit danach auch in den Kanälen.» Aussteller kehren wohl nicht mehr in die Messehallen zurück Als Beispiele hebt Häusler den Onlinehandel hervor, aber auch Online-spiele, elektronisches Lernen, Videokonferenzen und das Arbeiten zu Hause. Häuslers Vorhersage hat Gewicht, weil er Vorstandsmitglied des Vereins Digitalswitzerland ist. Diesem gehören 150 Mitglieder an, darunter UBS, SBB, Post, Google und Migros.
Klar, auch ohne das Virus wäre die Digitalisierung nicht aufhaltbar. Schon seit Jahren nimmt deren Geschwindigkeit zu. «Alles was digital werden kann, wird digital werden», sagt Häusler. Dazu gehört das personalisierte Onlinemarketing mit intelligenter Datenanalyse und künstlicher Intelligenz.
Das wird viele klassische Vermarktungsplattformen wie Messen und Events überflüssig machen. Für die herkömmlichen Veranstalter ist es umso tragischer, dass grosse Messen wie der Autosalon Genf, die Uhrenmesse Baselworld oder die weltgrösste Reisemesse ITB Berlin dieses Jahr nicht stattfinden. Die Aussteller werden nun auf die neuen Marketinginstrumente ausweichen – und wenn sie sich bewähren, womöglich nicht mehr in die Messehallen zurückkehren.
Einen Boom erleben wegen des Virus auch Telefon- und Videokonferenzen. Am Freitagabend gab der Stromkonzern Alpiq bekannt, wegen des Coronavirus werde er die für Montagmorgen anberaumte Medieninformation zu den Jahreszahlen nicht vor Ort in Olten durchführen, sondern per Telefonkonferenz. In Washington gibt es Überlegungen, das Frühjahrstreffen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds Mitte April in kleinerem Rahmen beziehungsweise über Telefonkonferenzen abhalten zu lassen. Normalerweise nehmen rund 10 000 Finanzminister, Notenbanker, Topmanager und Journalisten an diesem Treffen teil. Künstliche Intelligenz, Big Data und Robotik als Retter in der Not Beschleunigt wird auch die Digitalisierung der Arbeitswelt. In Tokio gehen Us-banken dazu über, ihre Mitarbeiter in Zweier- oder Dreierteams aufzuteilen. Team A arbeitet online von zuhause aus, Team B im Büro. Zwischen beiden Gruppen darf es keinerlei persönlichen Kontakt geben. Nach 14 Tagen wechseln die Teams. Die Banken haben diese Schritte eingeleitet, nachdem der japanische Regierungschef Shinzo Abe die Firmen aufgefordert hatte, Angestellte soweit möglich von daheim arbeiten zu lassen.
«Das aktuelle Umfeld rund um den Coronavirus-ausbruch erlaubt es uns sicherlich, einige der Vorteile
und Möglichkeiten zu sehen, die der digitale Wandel bietet», sagt Luis Aguiar, Professor für das Management der digitalen Transformation an der Universität Zürich. Einige Beispiele: Patienten gehen nicht mehr zum Arzt, sondern kontaktieren ihn per Telefon, Chat oder Whatsapp. Private Bildungsfirmen arbeiten mit Konferenz-call-diensten zusammen, um Schüler mit Lehrern in Verbindung zu bringen. Fitnesstrainer nutzen Livestreaming-plattformen für ihre Trainingssitzungen. Livedjs übertragen ihren Sound aus Nachtklubs digital an Raver.
Digitalisierungsexperte Jörn Lengsfeld, ein Abgänger der Universität St. Gallen, sagt: «Sollte die Epidemie bedauerlicherweise die befürchteten Ausmasse annehmen, so stünde die Menschheit vor gewaltigen realen Herausforderungen. Zu deren Bewältigung könnte und würde sie sicherlich auch auf den Errungenschaften der Digitalisierung
aufbauen.» Die künstliche Intelligenz, Big Data, Data Science und Robotik böten ein völlig neues Instrumentarium mit enormen Potenzialen, sowohl hinsichtlich der medizinischen Probleme als auch der nachgelagerten wirtschaftlichen und sozialen. «Soll es gelingen, diese Potenziale voll zur Geltung zu bringen, erscheint eine rasche Ausweitung und Vertiefung der digitalen Transformation naheliegend», sagt Lengsfeld.
Auf der anderen Seite treibe die Digitalisierung die Coronaviruspanik an, sagt Valantic-chef Urs Häusler. Ursachen seien die Verbreitung der sozialen Medien, die totale Vernetzung, die jederzeitige und weltweite Verfügbarkeit von Nachrichten und deren sofortige Verbreitung rund um den Erdball. «Die Fakten gehen oft unter, während unseriöse reisserische Halbwahrheiten ins Zentrum rücken und dadurch die Panik beschleunigt wird.»