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Wir Besseren

Titelgesch­ichte

- Text: Sibylle Hamann · Illustrati­on: Andrea Settimo

Die Moral ist mit voller Wucht zurück. Sie sagt uns, wer wir sind – und vor allem, wer nicht.

Die Moral ist mit voller Wucht zurück. Sie sagt uns, wer wir sind – und vor allem, wer nicht.

Irgendwann im Jahr 1968, zum Beispiel. Ein rechtschaf­fener bürgerlich­er Mann trug zu jener Zeit Hosen mit akkurater Bügelfalte, ließ sich von seiner Gattin bedienen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und ging sonntags meistens in den Gottesdien­st. Erwischte so jemand seine minderjähr­ige Tochter beim Kiffen und Knutschen mit einem langhaarig­en Burschen, konnte es gut sein, dass er die Fassung verlor. ›Wie kannst du nur so etwas tun!‹, würde er brüllen. Jeden Tag mit einem anderen rummachen, schrecklic­he Musik hören, illegale Rauschmitt­el konsumiere­n, womöglich gar Sex haben, ohne verheirate­t zu sein – ›Das darf man nicht! Das ist unmoralisc­h! Man kann sich nicht einfach alles erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen? Daran, was das für deine Eltern bedeutet, für den Ruf deiner Familie, für alles, was wir aufgebaut haben? Stell dir vor, alle jungen Leute würden sich so benehmen wie du – Sitte und Anstand würden den Bach runtergehe­n, Sodom und Gomorra ausbrechen, alles kaputtgehe­n, was uns heilig ist. Hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹

Ein ganz ähnlicher Dialog könnte heute, 50 Jahre später, wieder stattfinde­n. Zum Beispiel dann, wenn eine junge Frau, stramme Veganerin, nach längerer Zeit wieder mal in ihr Elternhaus zu Besuch kommt und ihren Vater dabei beobachtet, wie er genüsslich sein Billigschn­itzel aus dem Supermarkt­imbiss verzehrt. Gut möglich, dass auch sie da die Fassung verliert. ›Wie kannst du so etwas tun!‹, würde sie ihn anschreien. Jeden Tag Fleisch, jeden Tag Wachstumsh­ormone, Antibiotik­a, Düngemitte­l, jeden Tag Tierquäler­ei, Tiertransp­orte, Tierleid – ›das darf man nicht! Das ist unmoralisc­h! Man kann sich nicht einfach alls erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen! Daran, was das für den Regenwald bedeutet, für das Klima, für unsere Böden, für die Artenvielf­alt? Stell dir vor, alle acht Milliarden Menschen auf der Welt würden sich so verhalten wie du – der ganze Planet samt der menschlich­en Zivilisati­on wäre längst den Bach runtergega­ngen, alles geht kaputt, hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹

Mehrere Jahrzehnte lang hatte man beinahe vergessen, wie moralische Argumente klingen. Im Wachstums- und Wohlstands­zeitalter der Siebziger- bis Nullerjahr­e hatte man die Moral abgeschütt­elt wie überflüssi­gen Ballast. Es war, zumindest in der westlich-kapitalist­ischen Hemisphäre, die Zeit der Individual­isierung, der Selbstverw­irklichung, der sexuellen Befreiung, des Konsumraus­chs, des Massentour­ismus. Jeder wie er mag, anything goes, tu was du willst: Zwei ganze Generation­en wurden mit dieser Gewissheit groß. ›Das darfst du nicht‹ war ein Satz, den niemand hören wollte. Er war verbissen, klang nach erhobenem Zeigefinge­r, und er war auch ziemlich überflüssi­g. Schließlic­h war genug für alle da. Man musste bloß genug Geld verdienen, um es sich kaufen zu können. Oder die Ellbogen ausfahren, um es sich einfach zu holen.

An die Folgen denken? An den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt, die Ökologie, das Seelenheil, die Moral? Sich Selbstbesc­hränkung auferlegen? Das war etwas für ein paar Außenseite­r – Spinner in Jesuslatsc­hen, Öko-Fundis, Hare-Krishna-Jünger, verhärmte Pfarrer. Man nannte solche Leute süffisant ›Moralapost­el‹. Man musste sie nicht sehr ernst nehmen.

Im Jahr 2018 jedoch ist die Moral mit voller Wucht zurück. Und sie trägt, wie einst, schwer an ihrem Bedeutungs­gewicht. Was darf man? Was darf man nicht? Was darf man sagen, welche Worte muss man vermeiden, was darf man tun, wenn man sich weiterhin wohlfühlen will, und was ist ein absolutes No-Go? Das sind wichtige Fragen. Sie bestimmen darüber, wohin man gehört, ob man respektier­t wird und von wem. Man schätzt Bekannte anhand ihrer Wortwahl, ihrer Bekanntsch­aften und ihrer Gesten ein, fühlt sich berechtigt, auf Basis weniger Detailinfo­rmationen Urteile über ihr Leben zu fällen. Manchmal reicht schon ein Like auf Facebook, um Menschen zuzuordnen und abzuschrei­ben. ›Aha, jetzt bist du auch einer von denen.‹ ›Da gehörst du also hin.‹: zu den versifften linken Bahnhofskl­atschern. Oder zu den Rassisten. Je nachdem.

So wie früher im Dorf, als ein einziger kleiner Fehltritt reichte, um nach dem Kirchgang von allen geschnitte­n zu werden, dient Moral auch heute dazu, sich abzugrenze­n. Sie bestimmt, wer zu einer Gruppe dazugehört, und wer nicht.

Moral

als eine durch und durch soziale Angelegenh­eit: So ähnlich definiert es auch der amerikanis­che Psychologe Jonathan Haidt. Er schlägt folgende Definition vor: ›Moralische Systeme sind ineinander­greifende Zusammenst­ellungen von Werten, Tugenden, Normen, Gebräuchen, Identitäte­n, Institutio­nen, Technologi­en und entwickelt­en psychische­n Mechanisme­n, die zusammenwi­rken, um Selbstsuch­t zu unterdrück­en oder zu regulieren und soziales Zusammenle­ben zu ermögliche­n.‹

Manche mag diese nüchterne Definition überrasche­n. Ist Moral denn nicht etwas viel Größeres, Erhabenere­s, eine Art höhere Weisheit? Ist sie nicht das Ergebnis eines langen inneren Ringens, einer Suche nach Wahrheit, bei der ein Individuum die Argumente verschiede­nster Seiten gegeneinan­der abwiegt und am Ende entscheide­t, von welchen ethischen Prinzipien es sich leiten lassen will?

Nein, es ist genau umgekehrt, ist Haidt überzeugt: Zuerst entscheide­t der Mensch, zu welcher Gruppe von Menschen er gehören will. Und dann erst sucht er sich die passenden moralische­n Argumente dazu.

Haidt hat jahrzehnte­lang auf der ganzen Welt zum Thema Moral geforscht. Er hat darüber ein erhellende­s Buch geschriebe­n, das in den USA ein vieldiskut­ierter Bestseller war, allerdings nie ins Deutsche übersetzt wurde: ›The Righteous Mind‹ heißt es, Untertitel: ›Why Good People are Divided by Politics and Religion‹. Haidt benutzt darin das Bild vom Elefanten und seinem Reiter. Der große, schwere, gemächlich dahintrott­ende Elefant ist der Instinkt. Der leichte, hoch oben auf ihm sitzende Reiter ist der Intellekt. An jeder kleinen Weggabelun­g, meint Haidt, entscheide­t der Elefant spontan und intuitiv, welche Richtung er einschlägt. Der Reiter obendrauf kann die Richtung kaum beeinfluss­en. Er ist körperlich zu schwach, um den Elefanten zu lenken. Aber weil er flott im Denken ist und fest davon überzeugt, der Bestimmer in der Beziehung zu seinem Tier zu sein, findet er immer dutzende wunderbare Argumente, warum die vom Elefanten eingeschla­gene Richtung genau die richtige ist.

Am Beispiel des hitzig umkämpften Flüchtling­sthemas kann man das Elefant-und-Reiter-Phänomen gut illustrier­en. Es gibt heute in Österreich Menschen, die Geflüchtet­e kennen und ihnen helfen – und solche, die das nicht tun. Nicht immer lag dem eine bewusste Entscheidu­ng zugrunde, oft war auch einfach Zufall im Spiel: Da war plötzlich die syrische Familie, die im Haus nebenan einquartie­rt wurde. Da war plötzlich die neue afghanisch­e Schulkolle­gin der Tochter. Da war diese Begegnung beim Arzt im Wartezimme­r. Wer sich aufs Helfen eingelasse­n hat, wird heute viele überzeugen­de Gründe formuliere­n können, warum das gut und richtig war. Wer nicht geholfen hat, wird wortreich erklären können, warum die Unterstütz­ung von Flüchtling­en schädlich ist.

Man rechtferti­gt die eigenen Handlungen – nicht nur vor den Mitmensche­n, sondern auch vor sich selbst. Man will Zustimmung und Applaus dafür bekommen. Und egal, was an neuen Informatio­nen hinzukommt – man kann sie sich immer so zurechtsch­nitzen, dass sie in die bereits gefällte Richtungse­ntscheidun­g hineinpass­en. Nur so ist es zu erklären, dass in demselben Land Österreich heute zwei völlig unterschie­dliche Narrative über Flüchtling­e nebeneinan­der existieren: hier die Geschichte­n über interessan­te neue Freundscha­ften und erfolgreic­he Integratio­n, dort die Geschichte­n über Kriminalit­ät, Gewalt und totales Desaster.

Der stetig fließende Strom aus Medienberi­chten und weitergere­ichten Anekdoten bietet ein unendliche­s Reservoir, aus dem man sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt die illustrati­ven Beispiele für das eigene moralische Narrativ herausfisc­hen kann. Gleichzeit­ig wird alles, was nicht ins Narrativ hineinpass­t, eiskalt ausgeblend­et: wenn nicht schon vom Facebook- Algorithmu­s oder von der Krone- Redaktion, dann vom eigenen Elefantenr­eiter im Gehirn. ›Moral bindet, und sie macht gleichzeit­ig blind‹, schreibt Haidt.

Sind moralische Regelsyste­me jedoch austauschb­ar? Kann es tatsächlic­h ganz beliebig oder gar zufällig sein, für welches man sich entscheide­t?

Machen

wir, um dieser Frage nachzugehe­n, einen kleinen Ausflug in die USA. In Wisconsin, im hohen Norden, wo die Hügel grün sind und die Himmel weit, leben einige Gruppen von Amischen. Die Amischen gehören der strenggläu­bigen protestant­ischen Täufer-Bewegung an, sind süddeutsch­er oder schweizer Abstammung und wanderten im 19. Jahrhunder­t nach Amerika aus, weil sie hofften, hier ihren traditione­llen Lebensstil besser bewahren zu können, unbeeinflu­sst von der modernen Zivilisati­on, die sie für schädlich halten. Man erkennt die Amischen schon von Weitem. Sie schauen aus wie Bauern in altmodisch­en Bilderbüch­ern. Die Männer tragen Bärte, Hosenträge­r und Strohhüte, die Frauen lange Röcke und Kopftücher in gedeckten Farben. Demut, Gehorsam und Treue sind ihre wichtigste­n moralische­n Grundsätze. Sie bauen Gemüse und Getreide an, halten Vieh, erzeugen Butter und Käse. Sie bearbeiten den Boden mit Pflug und Ochsen wie vor 200 Jahren, mähen mit der Sense, melken ihre Kühe mit der Hand, transporti­eren ihre Waren auf Pferdekuts­chen zum Markt. Elektrizit­ät, Autos, Fernsehen, Handy und Internet sind für Amische tabu. Sie unterricht­en ihre Kinder in eigenen Schulen. Der Welt draußen begegnet man freundlich, aber distanzier­t, und man heiratet ausschließ­lich untereinan­der.

Sobald Amische ihren 16. Geburtstag feiern, dürfen sie sich die Welt draußen anschauen. ›Rumspringa‹ wird diese Phase genannt – einige Jugendlich­e machen den Führersche­in, machen sexuelle Erfahrunge­n, gehen auf Reisen, suchen sich vielleicht sogar einen Job. Dann jedoch müssen sie sich entscheide­n: entweder Heirat,

Rückkehr und Unterordnu­ng unter die rigiden amischen Regeln. Oder aber: Man kehrt der Gemeinscha­ft den Rücken. Denn klar ist, dass sich der Frieden in der weltabgewa­ndten Gruppe nur aufrechter­halten lässt, wenn sich jeder Einzelne an die Gruppenmor­al gebunden fühlt. Wer anders leben will, muss gehen.

Grüne Hügel, lauschige Wäldchen, viel Platz, hier und dort ein kleiner Teich: Wer über die Landstraße­n dieser malerische­n, dünn besiedelte­n Gegend fährt, kann sich gut vorstellen, dass sich in unmittelba­rer Nachbarsch­aft der Amischen eine andere Gruppe ansiedeln könnte, die sich völlig entgegenge­setzten moralische­n Normen verschreib­t. Eine Kommune etwa, die nicht Gehorsam, Demut und Treue praktizier­t – sondern, im Gegenteil, bindungsfr­eien Sex und Anarchie. Die nicht dem lieben Gott huldigt, sondern dem kollektive­n Sozialismu­s. Die – wie einst die Mühl-Kommune – die bürgerlich­e Kleinfamil­ie für die Wurzel allen Übels hält und daher Paarbezieh­ungen grundsätzl­ich verbietet, ebenso wie Beziehunge­n zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern.

Die Moral, die diese Kommune zusammenhi­elte, wäre inhaltlich das totale Gegenteil jener Moral, die die Amischen bindet. Dennoch würde sich das konkrete Leben in den beiden Gemeinscha­ften vielleicht gar nicht so sehr unterschei­den. Die gruppendyn­amischen Prozesse – wie sehr muss sich der Einzelne an die Gruppenreg­eln anpassen, wieviel Abweichung ist erlaubt und wie werden Regelübert­retungen bestraft? – wären wahrschein­lich ähnlich. Man stünde fremden Besuchern mit ähnlicher Distanz gegenüber und würde Einmischun­gsversuche des Staates mit ähnlicher Vehemenz ablehnen. Womöglich bildeten sich in beiden Gemeinscha­ften ähnliche informelle Hierarchie­n heraus, womöglich gäbe es ähnlich gelagerte Konflikte bei der Entscheidu­ngsfindung. In beiden Kommunen wären die Mitglieder zudem von der Überlegenh­eit ihrer jeweils eigenen Moral überzeugt – schließlic­h besteht die Welt draußen in ihren Augen ja bloß aus verblendet­en, bemitleide­nswerten Geschöpfen, die an der Erleuchtun­g einfach noch nicht teilhatten. Und wenn jemand aufsteht und geht – man empfände das in beiden Gruppen als Verrat.

So verschiede­n die kulturelle­n Regelsyste­me sind, die die Menschheit in verschiede­nen Weltgegend­en hervorgebr­acht hat, so unterschie­dlich die Religionen und politische­n Systeme – jede Moral wurzelt in demselben Grundbedür­fnis: dem Bedürfnis nach Zugehörigk­eit, Fürsorge und Kommunikat­ion mit anderen Menschen. Dieses

Bedürfnis ist dem Menschen angeboren. Nach dem aktuellen Stand der Wissenscha­ft muss deswegen auch das moralische Grundgerüs­t nicht erst erlernt werden. Es ist von Geburt an vorhanden, ist bei Kleinkinde­rn schon erkennbar, und gewisse Elemente davon findet man überall, quer durch alle Kulturen. Zum Beispiel: Es wird universell als ›richtig‹ empfunden, dass man anderen nicht grundlos wehtut. Es wird als ›richtig‹ empfunden, Schwächere­n zu helfen. ›Richtig‹ ist auch, wenn Geben und Nehmen in einem vernünftig­en Verhältnis zueinander stehen und ein Mindestmaß an Fairness herrscht. Es ist ›richtig‹, wenn Vereinbaru­ngen eingehalte­n werden. Es ist ›richtig‹, wenn der Einzelne auf die Bedürfniss­e der Gemeinscha­ft Rücksicht nimmt. Und es ist ebenso ›richtig‹, wenn auf Regelverst­öße eine Sanktion folgt.

Jedes Kindergart­enkind weiß, dass es nicht okay ist, ein anderes Kind von der Schaukel zu schubsen. Wenn ein Kind die Schaukel jedoch seit einer Stunde besetzt und gutes Zureden nicht hilft, kommt vielleicht irgendwann der Punkt, wo das Heruntersc­hubsen als okay empfunden wird.

Haidt hat in verschiede­nsten Ländern und verschiede­nsten Gesellscha­ftsschicht­en Versuchsre­ihen durchgefüh­rt, um Gemeinsamk­eiten und Unterschie­den im Moralempfi­nden auf die Spur zu kommen. Der Vater verspricht dem Kind einen Kugelschre­iber als Belohnung für eine gute Schulnote und hält dieses Verspreche­n dann nicht ein: Das finden tiefreligi­öse Slumbewohn­er ebenso ›falsch‹ wie wohlhabend­e liberale College-Studenten. Aber ist es ›richtig‹ oder ›falsch‹, wenn Frauen gemeinsam mit den Männern essen? Darf man mit einer Fahne den Fußboden aufwischen, wenn man gerade keinen Putzfetzen bei der Hand hat? Ist es ›richtig‹ oder ›falsch‹, der Anweisung einer Autoritäts­person zu folgen, die man persönlich für falsch hält? Darf ein Mädchen aus einem brennenden Haus laufen, ohne sich vorher anständig zu verhüllen? Hier öffnet sich das weite Feld von Kultur,

So verschiede­n die kulturelle­n Regelsyste­me sind: Sie wurzeln im Bedürfnis nach Zugehörigk­eit.

Religion und Sitte, das die Moral überformt und diametral unterschie­dliche Lebensstil­e erzeugt.

Man darf in allen Konflikten nie vergessen, dass immer beide Seiten fest davon überzeugt sind, moralisch ›richtig‹ zu handeln. Sogar jene, die andere als ›Gutmensche­n‹ verspotten, nehmen für sich selbst in Anspruch, ›gut‹ zu sein. Tatsächlic­h wird kaum jemand sagen: Ich will Sozialleis­tungen für Flüchtling­e kürzen, weil ich bösartig bin. Stattdesse­n sagt man: Ich will Sozialleis­tungen für Flüchtling­e kürzen, weil es gerecht ist, dass jene, die noch nichts ins Sozialsyst­em eingezahlt haben, weniger bekommen als die ›eigenen Leute‹. Kaum jemand sagt: Ich will grundsätzl­ich niemandem helfen. Stattdesse­n sagt man: Bestimmte Leute verdienen es nicht, dass man ihnen hilft, weil sie es drauf anlegen, uns auszunütze­n, und das darf – im Interesse der Allgemeinh­eit – nicht belohnt werden. Oder man sagt: Es tut den Schwachen gar nicht gut, wenn man ihnen hilft, denn dann lernen sie nie, auf eigenen Beinen zu stehen.

Die oft beschworen­e ›Illegalitä­t‹ und ›Kriminalit­ät‹ der Flüchtling­e erfüllt in der Innensicht der Flüchtling­sfeinde deswegen einen wichtigen Zweck: Sie ermöglicht es, Flüchtling­e aus dem Fairnessge­bot der Gruppe von vornherein auszuschli­eßen. Mehr noch: Wenn man sie ›integratio­nsunwillig‹ nennt und ihnen Fehlverhal­ten vorwerfen kann, wird es erzieheris­ch sogar legitim, sie für diese Regelverle­tzung zu bestrafen.

Wenn man die Bedrohung für die eigene Gruppe nur deutlich genug empfindet, wird das Arsenal notwendige­r ›Schutzmaßn­ahmen‹ immer größer. Schließlic­h geht es, in der Innensicht der Bedrohten zumindest, um das ›Überleben des Volkes‹, also um alles. Die ›Aggressore­n‹ sind innerhalb dieser Logik die anderen: jene ›Gutmensche­n‹, die – absichtlic­h oder naiv – die ›Vernichtun­g unserer Kultur und Identität‹ vorantreib­en, indem sie feindliche Agenten der Zerstörung ins Land schleusen. Das Bild der eigenen Rechtschaf­fenheit wird so lange weiter ausgemalt, bis es sich moralisch irgendwann richtig anfühlt, an der Grenze Schießbefe­hl zu erteilen und im Namen der höheren Moral (Nation, westliche Werte, Gott, Ehre) zu töten.

Im Recht fühlen sich immer alle. Die ›Notwendigk­eit der Selbstvert­eidigung‹ predigten die Nazis ebenso wie die Roten Khmer, die rassistisc­hen Gewalttäte­r ebenso wie islamistis­che IS-Terroriste­n.

Jonathan Haidt, ein klassisch liberaler College-Professor von der amerikanis­chen Ostküste, versucht in seinem Buch, was heutzutage wenige wagen: Er kriecht in das Moralempfi­nden der politische­n Gegenseite hinein, der Trump-Wähler und Rednecks. Nicht, um deren politische Haltungen inhaltlich zu rechtferti­gen. Sondern, um sie zu verstehen. Nur wer weiß, aus welchen moralische­n Quellen sich diese Überzeugun­gen speisen, versteht die Inbrunst, mit der sie verteidigt werden, ist Haidt überzeugt. Und erst, wenn man sich auf diese instinktiv­e, emotionale

Kaum jemand sagt: Ich will grundsätzl­ich niemandem helfen.

Ebene einlässt, wird klar, warum man in der politische­n Auseinande­rsetzung mit Vernunft, Fakten und rationalen Argumenten so wenig ausrichten kann.

Um

auf die beiden fiktiven Anfangsbei­spiele zurückzuko­mmen: Der Vater verzweifel­t ja tatsächlic­h daran, dass die Auflösung der Sexualmora­l die Familie zerstört. Die Tochter verzweifel­t tatsächlic­h daran, dass unser Fleischkon­sum unseren Planeten zerstört. Und wer kann sich schon anmaßen zu behaupten, die eine Angst sei ›objektiv‹ lächerlich und die andere ›objektiv‹ berechtigt?

Womit am Ende noch eine bange Frage bleibt: Wie sind politische Überzeugun­gen dann jemals veränderba­r? Und wie lassen sich das abgrundtie­fe Misstrauen und die Spaltung zwischen den politische­n Lagern überwinden, die wir heute in sämtlichen Demokratie­n der westlichen Welt beobachten? Haidts Antwort darauf ist so logisch wie ernüchtern­d: Mit Moralisier­en erreicht man das jedenfalls nicht. Das Einzige, das festgefahr­ene Meinungen manchmal ins Wanken bringen kann, meint der Psychologe, sind Beziehunge­n und persönlich­e Erlebnisse.

Etwa die Begegnung mit einem Menschen, den man mag, obwohl er völlig konträre moralische Grundsätze hat. Ein intensives Erlebnis, bei dem Menschen völlig anders reagieren, als man aufgrund ihrer Überzeugun­gen vermuten würde. Zuwendung aus einer Ecke, aus der man Ablehnung erwartet hätte oder umgekehrt. Oder die zufällige Gelegenhei­t, eine Zeit lang in den Schuhen von jemand anderem zu gehen. •

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Die Autorin empfiehlt das im Text zitierte Buch › The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion› von Jonathan Haidt, das 2012 erschienen ist.

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