Wir Besseren
Titelgeschichte
Die Moral ist mit voller Wucht zurück. Sie sagt uns, wer wir sind – und vor allem, wer nicht.
Die Moral ist mit voller Wucht zurück. Sie sagt uns, wer wir sind – und vor allem, wer nicht.
Irgendwann im Jahr 1968, zum Beispiel. Ein rechtschaffener bürgerlicher Mann trug zu jener Zeit Hosen mit akkurater Bügelfalte, ließ sich von seiner Gattin bedienen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und ging sonntags meistens in den Gottesdienst. Erwischte so jemand seine minderjährige Tochter beim Kiffen und Knutschen mit einem langhaarigen Burschen, konnte es gut sein, dass er die Fassung verlor. ›Wie kannst du nur so etwas tun!‹, würde er brüllen. Jeden Tag mit einem anderen rummachen, schreckliche Musik hören, illegale Rauschmittel konsumieren, womöglich gar Sex haben, ohne verheiratet zu sein – ›Das darf man nicht! Das ist unmoralisch! Man kann sich nicht einfach alles erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen? Daran, was das für deine Eltern bedeutet, für den Ruf deiner Familie, für alles, was wir aufgebaut haben? Stell dir vor, alle jungen Leute würden sich so benehmen wie du – Sitte und Anstand würden den Bach runtergehen, Sodom und Gomorra ausbrechen, alles kaputtgehen, was uns heilig ist. Hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹
Ein ganz ähnlicher Dialog könnte heute, 50 Jahre später, wieder stattfinden. Zum Beispiel dann, wenn eine junge Frau, stramme Veganerin, nach längerer Zeit wieder mal in ihr Elternhaus zu Besuch kommt und ihren Vater dabei beobachtet, wie er genüsslich sein Billigschnitzel aus dem Supermarktimbiss verzehrt. Gut möglich, dass auch sie da die Fassung verliert. ›Wie kannst du so etwas tun!‹, würde sie ihn anschreien. Jeden Tag Fleisch, jeden Tag Wachstumshormone, Antibiotika, Düngemittel, jeden Tag Tierquälerei, Tiertransporte, Tierleid – ›das darf man nicht! Das ist unmoralisch! Man kann sich nicht einfach alls erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen! Daran, was das für den Regenwald bedeutet, für das Klima, für unsere Böden, für die Artenvielfalt? Stell dir vor, alle acht Milliarden Menschen auf der Welt würden sich so verhalten wie du – der ganze Planet samt der menschlichen Zivilisation wäre längst den Bach runtergegangen, alles geht kaputt, hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹
Mehrere Jahrzehnte lang hatte man beinahe vergessen, wie moralische Argumente klingen. Im Wachstums- und Wohlstandszeitalter der Siebziger- bis Nullerjahre hatte man die Moral abgeschüttelt wie überflüssigen Ballast. Es war, zumindest in der westlich-kapitalistischen Hemisphäre, die Zeit der Individualisierung, der Selbstverwirklichung, der sexuellen Befreiung, des Konsumrauschs, des Massentourismus. Jeder wie er mag, anything goes, tu was du willst: Zwei ganze Generationen wurden mit dieser Gewissheit groß. ›Das darfst du nicht‹ war ein Satz, den niemand hören wollte. Er war verbissen, klang nach erhobenem Zeigefinger, und er war auch ziemlich überflüssig. Schließlich war genug für alle da. Man musste bloß genug Geld verdienen, um es sich kaufen zu können. Oder die Ellbogen ausfahren, um es sich einfach zu holen.
An die Folgen denken? An den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Ökologie, das Seelenheil, die Moral? Sich Selbstbeschränkung auferlegen? Das war etwas für ein paar Außenseiter – Spinner in Jesuslatschen, Öko-Fundis, Hare-Krishna-Jünger, verhärmte Pfarrer. Man nannte solche Leute süffisant ›Moralapostel‹. Man musste sie nicht sehr ernst nehmen.
Im Jahr 2018 jedoch ist die Moral mit voller Wucht zurück. Und sie trägt, wie einst, schwer an ihrem Bedeutungsgewicht. Was darf man? Was darf man nicht? Was darf man sagen, welche Worte muss man vermeiden, was darf man tun, wenn man sich weiterhin wohlfühlen will, und was ist ein absolutes No-Go? Das sind wichtige Fragen. Sie bestimmen darüber, wohin man gehört, ob man respektiert wird und von wem. Man schätzt Bekannte anhand ihrer Wortwahl, ihrer Bekanntschaften und ihrer Gesten ein, fühlt sich berechtigt, auf Basis weniger Detailinformationen Urteile über ihr Leben zu fällen. Manchmal reicht schon ein Like auf Facebook, um Menschen zuzuordnen und abzuschreiben. ›Aha, jetzt bist du auch einer von denen.‹ ›Da gehörst du also hin.‹: zu den versifften linken Bahnhofsklatschern. Oder zu den Rassisten. Je nachdem.
So wie früher im Dorf, als ein einziger kleiner Fehltritt reichte, um nach dem Kirchgang von allen geschnitten zu werden, dient Moral auch heute dazu, sich abzugrenzen. Sie bestimmt, wer zu einer Gruppe dazugehört, und wer nicht.
Moral
als eine durch und durch soziale Angelegenheit: So ähnlich definiert es auch der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt. Er schlägt folgende Definition vor: ›Moralische Systeme sind ineinandergreifende Zusammenstellungen von Werten, Tugenden, Normen, Gebräuchen, Identitäten, Institutionen, Technologien und entwickelten psychischen Mechanismen, die zusammenwirken, um Selbstsucht zu unterdrücken oder zu regulieren und soziales Zusammenleben zu ermöglichen.‹
Manche mag diese nüchterne Definition überraschen. Ist Moral denn nicht etwas viel Größeres, Erhabeneres, eine Art höhere Weisheit? Ist sie nicht das Ergebnis eines langen inneren Ringens, einer Suche nach Wahrheit, bei der ein Individuum die Argumente verschiedenster Seiten gegeneinander abwiegt und am Ende entscheidet, von welchen ethischen Prinzipien es sich leiten lassen will?
Nein, es ist genau umgekehrt, ist Haidt überzeugt: Zuerst entscheidet der Mensch, zu welcher Gruppe von Menschen er gehören will. Und dann erst sucht er sich die passenden moralischen Argumente dazu.
Haidt hat jahrzehntelang auf der ganzen Welt zum Thema Moral geforscht. Er hat darüber ein erhellendes Buch geschrieben, das in den USA ein vieldiskutierter Bestseller war, allerdings nie ins Deutsche übersetzt wurde: ›The Righteous Mind‹ heißt es, Untertitel: ›Why Good People are Divided by Politics and Religion‹. Haidt benutzt darin das Bild vom Elefanten und seinem Reiter. Der große, schwere, gemächlich dahintrottende Elefant ist der Instinkt. Der leichte, hoch oben auf ihm sitzende Reiter ist der Intellekt. An jeder kleinen Weggabelung, meint Haidt, entscheidet der Elefant spontan und intuitiv, welche Richtung er einschlägt. Der Reiter obendrauf kann die Richtung kaum beeinflussen. Er ist körperlich zu schwach, um den Elefanten zu lenken. Aber weil er flott im Denken ist und fest davon überzeugt, der Bestimmer in der Beziehung zu seinem Tier zu sein, findet er immer dutzende wunderbare Argumente, warum die vom Elefanten eingeschlagene Richtung genau die richtige ist.
Am Beispiel des hitzig umkämpften Flüchtlingsthemas kann man das Elefant-und-Reiter-Phänomen gut illustrieren. Es gibt heute in Österreich Menschen, die Geflüchtete kennen und ihnen helfen – und solche, die das nicht tun. Nicht immer lag dem eine bewusste Entscheidung zugrunde, oft war auch einfach Zufall im Spiel: Da war plötzlich die syrische Familie, die im Haus nebenan einquartiert wurde. Da war plötzlich die neue afghanische Schulkollegin der Tochter. Da war diese Begegnung beim Arzt im Wartezimmer. Wer sich aufs Helfen eingelassen hat, wird heute viele überzeugende Gründe formulieren können, warum das gut und richtig war. Wer nicht geholfen hat, wird wortreich erklären können, warum die Unterstützung von Flüchtlingen schädlich ist.
Man rechtfertigt die eigenen Handlungen – nicht nur vor den Mitmenschen, sondern auch vor sich selbst. Man will Zustimmung und Applaus dafür bekommen. Und egal, was an neuen Informationen hinzukommt – man kann sie sich immer so zurechtschnitzen, dass sie in die bereits gefällte Richtungsentscheidung hineinpassen. Nur so ist es zu erklären, dass in demselben Land Österreich heute zwei völlig unterschiedliche Narrative über Flüchtlinge nebeneinander existieren: hier die Geschichten über interessante neue Freundschaften und erfolgreiche Integration, dort die Geschichten über Kriminalität, Gewalt und totales Desaster.
Der stetig fließende Strom aus Medienberichten und weitergereichten Anekdoten bietet ein unendliches Reservoir, aus dem man sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt die illustrativen Beispiele für das eigene moralische Narrativ herausfischen kann. Gleichzeitig wird alles, was nicht ins Narrativ hineinpasst, eiskalt ausgeblendet: wenn nicht schon vom Facebook- Algorithmus oder von der Krone- Redaktion, dann vom eigenen Elefantenreiter im Gehirn. ›Moral bindet, und sie macht gleichzeitig blind‹, schreibt Haidt.
Sind moralische Regelsysteme jedoch austauschbar? Kann es tatsächlich ganz beliebig oder gar zufällig sein, für welches man sich entscheidet?
Machen
wir, um dieser Frage nachzugehen, einen kleinen Ausflug in die USA. In Wisconsin, im hohen Norden, wo die Hügel grün sind und die Himmel weit, leben einige Gruppen von Amischen. Die Amischen gehören der strenggläubigen protestantischen Täufer-Bewegung an, sind süddeutscher oder schweizer Abstammung und wanderten im 19. Jahrhundert nach Amerika aus, weil sie hofften, hier ihren traditionellen Lebensstil besser bewahren zu können, unbeeinflusst von der modernen Zivilisation, die sie für schädlich halten. Man erkennt die Amischen schon von Weitem. Sie schauen aus wie Bauern in altmodischen Bilderbüchern. Die Männer tragen Bärte, Hosenträger und Strohhüte, die Frauen lange Röcke und Kopftücher in gedeckten Farben. Demut, Gehorsam und Treue sind ihre wichtigsten moralischen Grundsätze. Sie bauen Gemüse und Getreide an, halten Vieh, erzeugen Butter und Käse. Sie bearbeiten den Boden mit Pflug und Ochsen wie vor 200 Jahren, mähen mit der Sense, melken ihre Kühe mit der Hand, transportieren ihre Waren auf Pferdekutschen zum Markt. Elektrizität, Autos, Fernsehen, Handy und Internet sind für Amische tabu. Sie unterrichten ihre Kinder in eigenen Schulen. Der Welt draußen begegnet man freundlich, aber distanziert, und man heiratet ausschließlich untereinander.
Sobald Amische ihren 16. Geburtstag feiern, dürfen sie sich die Welt draußen anschauen. ›Rumspringa‹ wird diese Phase genannt – einige Jugendliche machen den Führerschein, machen sexuelle Erfahrungen, gehen auf Reisen, suchen sich vielleicht sogar einen Job. Dann jedoch müssen sie sich entscheiden: entweder Heirat,
Rückkehr und Unterordnung unter die rigiden amischen Regeln. Oder aber: Man kehrt der Gemeinschaft den Rücken. Denn klar ist, dass sich der Frieden in der weltabgewandten Gruppe nur aufrechterhalten lässt, wenn sich jeder Einzelne an die Gruppenmoral gebunden fühlt. Wer anders leben will, muss gehen.
Grüne Hügel, lauschige Wäldchen, viel Platz, hier und dort ein kleiner Teich: Wer über die Landstraßen dieser malerischen, dünn besiedelten Gegend fährt, kann sich gut vorstellen, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Amischen eine andere Gruppe ansiedeln könnte, die sich völlig entgegengesetzten moralischen Normen verschreibt. Eine Kommune etwa, die nicht Gehorsam, Demut und Treue praktiziert – sondern, im Gegenteil, bindungsfreien Sex und Anarchie. Die nicht dem lieben Gott huldigt, sondern dem kollektiven Sozialismus. Die – wie einst die Mühl-Kommune – die bürgerliche Kleinfamilie für die Wurzel allen Übels hält und daher Paarbeziehungen grundsätzlich verbietet, ebenso wie Beziehungen zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern.
Die Moral, die diese Kommune zusammenhielte, wäre inhaltlich das totale Gegenteil jener Moral, die die Amischen bindet. Dennoch würde sich das konkrete Leben in den beiden Gemeinschaften vielleicht gar nicht so sehr unterscheiden. Die gruppendynamischen Prozesse – wie sehr muss sich der Einzelne an die Gruppenregeln anpassen, wieviel Abweichung ist erlaubt und wie werden Regelübertretungen bestraft? – wären wahrscheinlich ähnlich. Man stünde fremden Besuchern mit ähnlicher Distanz gegenüber und würde Einmischungsversuche des Staates mit ähnlicher Vehemenz ablehnen. Womöglich bildeten sich in beiden Gemeinschaften ähnliche informelle Hierarchien heraus, womöglich gäbe es ähnlich gelagerte Konflikte bei der Entscheidungsfindung. In beiden Kommunen wären die Mitglieder zudem von der Überlegenheit ihrer jeweils eigenen Moral überzeugt – schließlich besteht die Welt draußen in ihren Augen ja bloß aus verblendeten, bemitleidenswerten Geschöpfen, die an der Erleuchtung einfach noch nicht teilhatten. Und wenn jemand aufsteht und geht – man empfände das in beiden Gruppen als Verrat.
So verschieden die kulturellen Regelsysteme sind, die die Menschheit in verschiedenen Weltgegenden hervorgebracht hat, so unterschiedlich die Religionen und politischen Systeme – jede Moral wurzelt in demselben Grundbedürfnis: dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Fürsorge und Kommunikation mit anderen Menschen. Dieses
Bedürfnis ist dem Menschen angeboren. Nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft muss deswegen auch das moralische Grundgerüst nicht erst erlernt werden. Es ist von Geburt an vorhanden, ist bei Kleinkindern schon erkennbar, und gewisse Elemente davon findet man überall, quer durch alle Kulturen. Zum Beispiel: Es wird universell als ›richtig‹ empfunden, dass man anderen nicht grundlos wehtut. Es wird als ›richtig‹ empfunden, Schwächeren zu helfen. ›Richtig‹ ist auch, wenn Geben und Nehmen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen und ein Mindestmaß an Fairness herrscht. Es ist ›richtig‹, wenn Vereinbarungen eingehalten werden. Es ist ›richtig‹, wenn der Einzelne auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft Rücksicht nimmt. Und es ist ebenso ›richtig‹, wenn auf Regelverstöße eine Sanktion folgt.
Jedes Kindergartenkind weiß, dass es nicht okay ist, ein anderes Kind von der Schaukel zu schubsen. Wenn ein Kind die Schaukel jedoch seit einer Stunde besetzt und gutes Zureden nicht hilft, kommt vielleicht irgendwann der Punkt, wo das Herunterschubsen als okay empfunden wird.
Haidt hat in verschiedensten Ländern und verschiedensten Gesellschaftsschichten Versuchsreihen durchgeführt, um Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Moralempfinden auf die Spur zu kommen. Der Vater verspricht dem Kind einen Kugelschreiber als Belohnung für eine gute Schulnote und hält dieses Versprechen dann nicht ein: Das finden tiefreligiöse Slumbewohner ebenso ›falsch‹ wie wohlhabende liberale College-Studenten. Aber ist es ›richtig‹ oder ›falsch‹, wenn Frauen gemeinsam mit den Männern essen? Darf man mit einer Fahne den Fußboden aufwischen, wenn man gerade keinen Putzfetzen bei der Hand hat? Ist es ›richtig‹ oder ›falsch‹, der Anweisung einer Autoritätsperson zu folgen, die man persönlich für falsch hält? Darf ein Mädchen aus einem brennenden Haus laufen, ohne sich vorher anständig zu verhüllen? Hier öffnet sich das weite Feld von Kultur,
So verschieden die kulturellen Regelsysteme sind: Sie wurzeln im Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Religion und Sitte, das die Moral überformt und diametral unterschiedliche Lebensstile erzeugt.
Man darf in allen Konflikten nie vergessen, dass immer beide Seiten fest davon überzeugt sind, moralisch ›richtig‹ zu handeln. Sogar jene, die andere als ›Gutmenschen‹ verspotten, nehmen für sich selbst in Anspruch, ›gut‹ zu sein. Tatsächlich wird kaum jemand sagen: Ich will Sozialleistungen für Flüchtlinge kürzen, weil ich bösartig bin. Stattdessen sagt man: Ich will Sozialleistungen für Flüchtlinge kürzen, weil es gerecht ist, dass jene, die noch nichts ins Sozialsystem eingezahlt haben, weniger bekommen als die ›eigenen Leute‹. Kaum jemand sagt: Ich will grundsätzlich niemandem helfen. Stattdessen sagt man: Bestimmte Leute verdienen es nicht, dass man ihnen hilft, weil sie es drauf anlegen, uns auszunützen, und das darf – im Interesse der Allgemeinheit – nicht belohnt werden. Oder man sagt: Es tut den Schwachen gar nicht gut, wenn man ihnen hilft, denn dann lernen sie nie, auf eigenen Beinen zu stehen.
Die oft beschworene ›Illegalität‹ und ›Kriminalität‹ der Flüchtlinge erfüllt in der Innensicht der Flüchtlingsfeinde deswegen einen wichtigen Zweck: Sie ermöglicht es, Flüchtlinge aus dem Fairnessgebot der Gruppe von vornherein auszuschließen. Mehr noch: Wenn man sie ›integrationsunwillig‹ nennt und ihnen Fehlverhalten vorwerfen kann, wird es erzieherisch sogar legitim, sie für diese Regelverletzung zu bestrafen.
Wenn man die Bedrohung für die eigene Gruppe nur deutlich genug empfindet, wird das Arsenal notwendiger ›Schutzmaßnahmen‹ immer größer. Schließlich geht es, in der Innensicht der Bedrohten zumindest, um das ›Überleben des Volkes‹, also um alles. Die ›Aggressoren‹ sind innerhalb dieser Logik die anderen: jene ›Gutmenschen‹, die – absichtlich oder naiv – die ›Vernichtung unserer Kultur und Identität‹ vorantreiben, indem sie feindliche Agenten der Zerstörung ins Land schleusen. Das Bild der eigenen Rechtschaffenheit wird so lange weiter ausgemalt, bis es sich moralisch irgendwann richtig anfühlt, an der Grenze Schießbefehl zu erteilen und im Namen der höheren Moral (Nation, westliche Werte, Gott, Ehre) zu töten.
Im Recht fühlen sich immer alle. Die ›Notwendigkeit der Selbstverteidigung‹ predigten die Nazis ebenso wie die Roten Khmer, die rassistischen Gewalttäter ebenso wie islamistische IS-Terroristen.
Jonathan Haidt, ein klassisch liberaler College-Professor von der amerikanischen Ostküste, versucht in seinem Buch, was heutzutage wenige wagen: Er kriecht in das Moralempfinden der politischen Gegenseite hinein, der Trump-Wähler und Rednecks. Nicht, um deren politische Haltungen inhaltlich zu rechtfertigen. Sondern, um sie zu verstehen. Nur wer weiß, aus welchen moralischen Quellen sich diese Überzeugungen speisen, versteht die Inbrunst, mit der sie verteidigt werden, ist Haidt überzeugt. Und erst, wenn man sich auf diese instinktive, emotionale
Kaum jemand sagt: Ich will grundsätzlich niemandem helfen.
Ebene einlässt, wird klar, warum man in der politischen Auseinandersetzung mit Vernunft, Fakten und rationalen Argumenten so wenig ausrichten kann.
Um
auf die beiden fiktiven Anfangsbeispiele zurückzukommen: Der Vater verzweifelt ja tatsächlich daran, dass die Auflösung der Sexualmoral die Familie zerstört. Die Tochter verzweifelt tatsächlich daran, dass unser Fleischkonsum unseren Planeten zerstört. Und wer kann sich schon anmaßen zu behaupten, die eine Angst sei ›objektiv‹ lächerlich und die andere ›objektiv‹ berechtigt?
Womit am Ende noch eine bange Frage bleibt: Wie sind politische Überzeugungen dann jemals veränderbar? Und wie lassen sich das abgrundtiefe Misstrauen und die Spaltung zwischen den politischen Lagern überwinden, die wir heute in sämtlichen Demokratien der westlichen Welt beobachten? Haidts Antwort darauf ist so logisch wie ernüchternd: Mit Moralisieren erreicht man das jedenfalls nicht. Das Einzige, das festgefahrene Meinungen manchmal ins Wanken bringen kann, meint der Psychologe, sind Beziehungen und persönliche Erlebnisse.
Etwa die Begegnung mit einem Menschen, den man mag, obwohl er völlig konträre moralische Grundsätze hat. Ein intensives Erlebnis, bei dem Menschen völlig anders reagieren, als man aufgrund ihrer Überzeugungen vermuten würde. Zuwendung aus einer Ecke, aus der man Ablehnung erwartet hätte oder umgekehrt. Oder die zufällige Gelegenheit, eine Zeit lang in den Schuhen von jemand anderem zu gehen. •