›Jeder von uns hat Gandhi und Hitler in sich‹
Stammtisch
Nicholas Ofczarek und David Schalko sprechen über Moral.
David Schalko betritt pünktlich den Besprechungsraum im Burgtheater. Er grüßt, geht am Nichtraucherzeichen vorbei zum Fenster, öffnet es, und steckt sich eine Zigarette an. Zwei Tschick später tritt Nicholas Ofczarek durch die Tür. Er kommt von der Probe zu ›Mephisto‹, stark geschminkt: ›Tageslicht. Interessant.‹ Nach einer freundschaftlichen Begrüßung zitiert Ofczarek einen Schauspielerkollegen: ›Irgendwann reicht es. Jeden Tag in abgedunkelten Räumen darauf warten, dass man gelobt wird.‹
Herr Ofczarek, Herr Schalko, Sie sind beide Väter.
Wie bringt man seinen Kindern Moral bei?
DAViD schAlkO: Moral bringt ein Mensch auch mit auf die Welt, das ist nicht immer etwas Anerzogenes. Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, weiß er zum Beispiel, dass er einen anderen Menschen nicht töten soll, das sitzt in uns drinnen. Manche verlernen es halt mit der Zeit. Moral hat oft etwas mit Empathiefähigkeit zu tun. Wobei nicht jede Empathie zu Moral führt. Im Gegenteil. Einfühlungsvermögen hilft rücksichtslosen Karrieristen genauso. Trotzdem: Wir versuchen automatisch, unseren Kindern ein Vorbild zu sein, das ist ein innerer Trieb. Aber man soll sich auch nicht selber überschätzen: Wir bringen keine 1 : 1-Schablonen von uns auf die Welt.
NichOlAs OfczArek: Ich versuche einfach, ein korrekter Mensch zu sein, was auch immer das bedeutet. Empathiefähigkeit ist jedenfalls ein großes Thema in Zeiten wie diesen. Ich hab das Gefühl, die Empathie kommt immer mehr abhanden. Wir leben in der Zeit der Narzissten. Aber vielleicht lebten wir dort immer schon.
schAlkO: Der moderne Extrem-Individualismus hat sicher sein Schäuflein beigetragen. Aus Ihren Werken stechen die unmoralischen Typen hervor. Was ist an denen spannend?
OfczArek: Gewinnertypen finde ich nicht interessant im dramatischen Sinne. Ob im Film oder Theater, es geht darum, Konflikte zu erzählen. Wo kein Konflikt, da keine Dramatik. Es gibt nichts Uninteressanteres, als wenn sich zwei treffen und der eine sagt: ›Wie gehts dir?‹ und der andere sagt: ›Guat, und dir?‹ ›Auch sehr guat.‹ Das ist schnell auserzählt. Was uns Menschen in dem, was wir tun, in unseren Berufen, in unserem Alltagsleben, in unseren Beziehungen, am meisten beschäftigt, das sind ja die Ungerechtigkeit und die Amoral. Jeder kennt a Oaschloch. Und die Mechanik dahinter darzustellen, das ist, was uns als Menschen und als Künstler beschäftigt.
schAlkO: Das mit den guten und schlechten Menschen ist ja auch ein Missverständnis. Wenn man jemanden anschaut, der einen wahnsinnig moralischen Eindruck macht, wohnt diesem Moralischen auf den zweiten Blick oft etwas wahnsinnig Scheinheiliges oder Unmoralisches inne. Und umgekehrt – dem Unmoralischen etwas Moralisches.
Muss man ein Arschloch mögen, um es in die Welt, also auf die Bühne oder aufs Papier bringen zu können? Muss man es respektieren? schAlkO: Beim Schreiben muss man schon empathiefähig sein mit solchen Leuten. Sonst wirds eine sehr zynische, billige Erzählung. Wobei ich mit dem Begriff Arschloch vorsichtig bin, weil jeder Mensch mehrere Seiten hat. Wir alle haben den Gandhi und den Hitler in uns. Das Schreiben, vielleicht auch das Schauspielen bringt alle Seiten in einem an die Oberfläche. Und das Schöne an Kunst ist ja, dass man sich damit beschäftigen kann, ohne es sein zu müssen. Um über einen Mörder schreiben zu können, muss man kein Mörder sein.
OfczArek: Von der schauspielerischen Seite ist es wichtig, der Anwalt der Figur zu sein. Ein Oaschloch weiß ja nicht, dass er ein Oaschloch ist. Sondern der hat ja recht für sich. Ob er ein Oaschloch ist oder keines oder irgendetwas von den vielen Dingen dazwischen, das soll dem Zuseher überlassen sein. Je ambivalenter eine Figur ist, desto besser.
Ist es bereits moralisch, das Unmoralische auszuleuchten? schAlkO: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Moral und Moralisierung. Ich glaube nicht, dass Moral automatisch bewertend ist. Es gibt nichts Schlimmeres als moralisierende Geschichten, die nur dazu erzählt werden, um den Zeigefinger erheben zu können. Das hat ja mehr mit Selbsterhebung zu tun.
OfczArek: Ja, weil es dann automatisch eine Wertung ist und der Zuseher gar nichts mehr zu tun hat.
schAlkO: Genau, die Moralisierung ist eine Selbsterhebung des Erzählers oder des Schauspielers über den Zuseher. Eine gute Geschichte funktioniert auf Augenhöhe. Alles andere ist eine Predigt aus der Kanzel.
Nicholas Ofczarek und David Schalko über Arschlöcher, politische Korrektheit und den ›geheimen Deal‹ hinter dem Rechtsruck.
Es passiert da gerade etwas, das von Felix Baumgartner zu Peter Pilz reicht, von Andreas Gabalier zu Heinz-Christian Strache und das mit diesen Kanzelpredigten zu tun hat. Es ist ein Instrumentalisieren der Unkorrektheit, ein Spielen mit dem Unmoralischen. Endlich wieder Neger und Asylant sagen dürfen! schAlkO: Ich glaube, dass wir es mit der politischen Korrektheit übertrieben haben. Sie führt zu einer totalen Perversion von gewissen Begrifflichkeiten. Und dahinter steckt etwas Pseudomoralisches, etwas wahnsinnig Scheinheiliges. Wir sagen heute nicht mehr Neger, leben als unmoralische Gesellschaft aber auf Kosten von halb Afrika. Und das ist viel schlimmer, als Neger zu sagen. Und die politische Korrektheit hilft dabei, sich darüber keine Gedanken machen zu müssen. Das ist das Eine. Das Zweite ist, dass die Sprache immer der Spiegel einer Gesellschaft und ihrer Empfindsamkeit ist. Beim aktuellen Rechtsruck merken wir doch alle genau, welche Begrifflichkeiten wieder zu Tage treten. Die politische Korrektheit hat viel mit der Selbsterhebung unseres Bürgertums zu tun, das den anderen sagt, was sie essen sollen, was sie anziehen sollen, wie sie zu sein haben. Die politische Unkorrektheit ist eine Reaktion darauf, sie ist eine Form der Entladung.
OfczArek: Ich hab kürzlich auf YouTube eine Diskussion aus den 1970er-Jahren gesehen mit Rudi Dutschke und einem Chefredakteur von der FAZ. Also einem schwerst Linken und einem schwerst Konservativen. Das spannende war deren Diskussionskultur. Die haben sich ausreden lassen! Der Dutschke hat sich zwar gewunden, aber er hat den anderen ausreden lassen und auf dessen Argumentation mit einer Gegenargumentation geantwortet, die aus mehr bestanden hat als aus ›Das ist aber meine Sicht‹. Das war wirklich politisch korrekt, im wahrsten Sinne des Wortes. Das war einfach korrekt. Sehr viel an der politischen Korrektheit von heute ist plattitüdenhaft. Ich versteh ja den Gedanken des Genderns, die Ungleichbehandlung der Frau ins Bewusstsein der Menschen zu holen. Aber gerade in der Politik wird hinter der Korrektheit eine schreiende Inhaltslosigkeit versteckt. Das spüren die Leute.
Herr Schalko, Sie haben von der ›unmoralischen Gesellschaft‹ gesprochen. Leben wir in einer solchen? schAlkO: Die westliche Gesellschaft ist eine wahnsinnig unmoralische Gesellschaft. Jedes T-Shirt, das man bei H&M um zehn Euro kauft, ist eine Waffe, ist ein hochunmoralischer Gegenstand, an dem Blut klebt. Jedes iPhone ist unter hochgradiger Verletzung von Menschenrechten
hergestellt. Wir blenden das aus. Verdrängen es. Letztlich ist das auch der Grund, warum wir nicht wollen, dass die Migranten kommen. Sie machen das alles sichtbar. In Wahrheit gibt es einen geheimen Deal und deswegen auch den Rechtsruck in Europa: Wir wollen nicht, dass die da sind, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Damit wir unser unmoralisches Leben auf deren Kosten weiterleben können. Wir empfinden sie nicht als Menschen, sondern als Untermenschen. Das darf natürlich nicht ausgesprochen werden. Weil Europa auf sogenannten moralischen Werten fußt. Deshalb argumentiert Kurz immer codiert moralisch, während die Rechten unverhohlen ihren Rassismus zur Schau stellen. Sebastian Kurz meint aber das Gleiche, wenn er sagt, dass wir uns an diese hässlichen Bilder werden gewöhnen müssen. Nur verträglicher, für das Bürgertum.
Das führt uns direkt zu Theodor Wiesengrund. Gibt es ein richtiges Leben im falschen? schAlkO: Der Adorno hat das ja im Zusammenhang mit Möbeln gesagt. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ging es da um hässliche Möbel auf einer Möbelmesse. Und da hat er geschrieben, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Weil man falsch möbliert ist sozusagen. Das ist, wie wenn die Leute Happy Birthday von Stevie Wonder singen und nicht verstehen, dass das ein politisches Lied ist, das von Martin Luther King handelt. Und trotzdem: Adornos Möbelspruch stimmt im moralischen Sinn. Weil es ja nicht nur für Mobiliar gilt.
Lässt es sich in einer unmoralischen Gesellschaft moralisch leben? schAlkO: Ist es so erstrebenswert, ist es die hundertprozentige Glücksverheißung, ein moralisches Leben zu führen?
Es wäre lässiger, wenn auf den drei Handys am Tisch kein Blut klebte.
schAlkO: Ja, aber dann könnten Sie und ich uns dieses Handy nicht leisten. Ich fände es ja schon toll, wenn wir einen Teil von dem zurückzahlen. Indem man die verantwortlichen Unternehmen zum Beispiel stärker besteuert oder überhaupt besteuert. Dann könnte man einen Teil dieser Steuern dorthin überweisen, wo er eigentlich hingehört. Aber insgeheim, wenn man in sich hineinhört, dann will das keiner von uns mittragen. Das macht die Gesellschaft zu dem, was sie ist und uns zu denen, die wir sind. Eine Gesellschaft der Scheinheiligen.
Wie verhält sich die Politik dazu? schAlkO: Die Politik, die Regierungen sind ein Spiegel der Gesellschaft. So wie die Menschen sind, so ist auch die Politik. Sebastian Kurz repräsentiert für mich fast schon physiognomisch, wie unsere Gesellschaft im Augenblick aussieht, in was sie verliebt ist, welche Ästhetik sie verlangt.
Wie interessant sind die Herren Kurz und Strache für Sie sozusagen als dramatische Figuren? schAlkO: Kurz ist vergleichbar mit Dorian Gray. Vielleicht hat er auch ein Bild im Keller, das für ihn altert. Strache ist aber die interessantere Figur, weil er sich nicht verstellt. Man hat das Gefühl, dass der so ist, wie er ist.
OfczArek: Früher waren Politiker schillernder, interessanter, die Rhetorik, der Stil, die Persönlichkeit. Als Kind der Siebziger finde ich einen Willi Brandt als dramatische Figur schon sehr viel spannender als Sebastian Kurz.
Welche Oppositionsfigur würden Sie heute erfinden, inszenieren? schAlkO: Wir leben in einer gefühlsbetonten Demokratie. Deshalb müsste man Gegengefühle entwickeln. Gefühle, die nicht ständig auf jemanden zeigen, der Schuld sein könnte am eigenen Unglück, auf den man herabsehen darf. Eine Oppositionsfigur müsste das Gefühl von Gemeinschaft, von Halt, von Empathie vermitteln. Ich würde einen sehr kämpferischen Politiker sehen, der mehr Risiko eingeht und wieder von gesellschaftlichen Utopien redet. Einen, für den Politik nicht die Visitenkarte für den nächsten Wirtschaftsjob bedeutet. Es ist für die heutige Politik symptomatisch, dass jemand wie Eva Glawischnig zu Novomatic geht und jemand wie Alfred Gusenbauer Millionen mit Lobbying macht.
Gleichzeitig gewinnen Frau Glawischnig und Herr Gusenbauer durch die moralischen Konflikte, die ihr Tun auslöst, menschlich an Tiefe. schAlkO: Im narrativen Sinn interessanter, natürlich. Aber es zeigt halt einmal mehr, dass jene, die regieren, sich in Wahrheit regieren lassen. Und damit ist man auch gleich bei den Populisten: Die lassen sich von dem regieren, was der Mehrheit gefallen könnte. Das ist die Selbstaufgabe der Politik.
OfczArek: Ja, und es ist erschreckend kurzfristig gedacht.
›Ich versteh ja den Gedanken des Genderns, die Ungleichbehandlung der Frau ins Bewusstsein zu holen. Aber gerade in der Politik wird hinter der Korrektheit eine schreiende Inhaltslosigkeit versteckt.
Das spüren die Leute.‹
Wie gehen Sie mit der Versuchung um, ihre Prominenz zu nutzen, um als moralische Autorität in der Öffentlichkeit aufzutreten?
OfczArek: Oft finde ich die politischen Kommentare von Schauspielern sehr entbehrlich. Es wird heute generell viel zu schnell Stellung bezogen. Ich selbst brauche komischerweise so lange, um etwas zu beurteilen, um mir ein Bild von einer Situation zu machen. Bei der Flüchtlingskrise vor drei Jahren etwa hat jeder sofort seine Meinung gehabt. Und ich hab mir nur gedacht: Ich kapier das doch noch gar nicht!
schAlkO: Demokratie wird heute oft mit einem Meinungszwang verwechselt. Dieses Phänomen sieht man in den sozialen Medien sehr gut, wo sich jeder gezwungen fühlt, eine Meinung zu allem zu haben. Meine Meinung: Ein Künstler hat nicht automatisch eine interessantere Meinung zu einem Thema als jemand anderer, nur weil er ein Künstler ist.
Herr Ofczarek, am 11. September findet die Premiere von Klaus Manns ›Mephisto‹ am Burgtheater statt. Sie werden den Schauspieler Hendrik Höfgen spielen, den Affen der Macht, der es im Dritten Reich durch Talent und Opportunismus in die erste Reihe schafft. Trifft man in Ihrem Höfgen einen zeitlosen Charakter, den es so auch heute geben könnte?
OfczArek: Die Vorlage für Klaus Mann war ja der Schauspieler und Intendant Gustaf Gründgens. Zu Lebzeiten von Gründgens hat Klaus Mann einen Roman geschrieben, der eine absolute Abrechnung ist mit diesem Mann. schAlkO: Ein Rachebuch eigentlich.
OfczArek: Ja. Und es ist eine schöne theatralische Möglichkeit, jemanden zu spielen, der eigentlich der Teufel ist. Der die Zeit und ihre Umstände und die Monstrosität der Menschen, denen er begegnet, nur benutzen und kanalisieren muss, um sich dann in der ersten Reihe als Teufel Herrn Hitler anzusehen. Ein Teufel, der aber auch Gutes tut. › Er ist der Geist, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.‹ Und wenn du dir den Faust nochmal anschaust, dann denkst du dir, es hat sich ja überhaupt nichts verändert zu heute. › Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben, der ungebändigt immer vorwärts dringt, und dessen übereiltes Streben, der Erden Freuden überspringt, den schlepp ich durch das wilde Leben, durch flache Unbedeutenheit‹ - das Heute, die flache Unbedeutenheit! - › er soll mir erstarren...‹ Was noch? › Kleben, in seiner Unersättlichkeit soll Speis und Trank vor dir...‹ Also es hat sich ja nichts verändert. Wir sind technisierter geworden, das ja, aber der Mensch an sich, der hat sich gar nicht verändert seit Faust! schAlkO: Na, der Mensch ist der Mensch.
OfczArek: Dabei würde man noch immer hoffen, dass sich die Menschheit tatsächlich weiterentwickelt.
schAlkO: Vielleicht ist das ein Unterschied zu alten Zeiten: Die Politik hat in der Nachkriegszeit, in den Sech- zigern, Siebzigern noch davon geträumt, dass es einen besseren Menschen geben kann. Der Sozialismus wollte ja nichts anderes, als einen besseren Menschen erschaffen. Heute versucht die Politik keinen besseren Menschen mehr zu erschaffen. Sondern den Menschen an der eigenen primitiven Nase herumzuführen.
OfczArek: Früher haben Politiker auch mit Philosophen gesprochen. schAlkO: Stimmt.
OfczArek: Der Preußenkönig, wie hieß der? Der hatte Briefkontakt mit Voltaire!
schAlkO: Ja, es ist eine gewisse Form des Diskurses verschwunden. Die Politik spricht heute im Grunde nur noch mit Vertretern der Wirtschaft, wobei es dabei darum geht, wie sich die Wirtschaft ankurbeln lässt. Viele Güter, die auf den ersten Blick nutzlos scheinen, aber eigentlich das Nützlichste sind für eine Gesellschaft, sind heute völlig obsolet. Nehmen Sie die Kunst. Wir leben in Zeiten, die ganz schlecht sind für die Kunst. So schlecht ist es der Kunst vielleicht überhaupt noch nie gegangen.
In welchem Sinn? schAlkO: Es fehlt völlig an Interesse, die Muße für Kunst überhaupt noch zu entwickeln. Vielleicht ist das auch eine Erziehungssache, eine Art von Dekultivierung. Die Menschen sind in einer Monotonie gefangen. Und aus dieser Monotonie entsteht nicht nur Wut, sondern auch große Depression.
Was ist vor dieser Kulisse Ihrer beider persönliche Motivation, Kunst zu schaffen? schAlkO: Ich hab nicht die Motivation, Kunst zu
›Die Kunst ist die Religion, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sie ist zutiefst humanistisch. Und frei. Das wäre das Einzige, was wir noch nie probiert hätten.
Die Diktatur der Kunst.‹
schaffen, weil ich der Zeit was zu sagen hätte, sondern weil das ein Teil von mir selbst ist. Max Frisch hat das so schön gesagt: ›Schreiben heißt: sich selber lesen.‹ Darum geht es letztlich. Man unterhält sich mit sich selbst. Das Schöne ist, dass ich das Privileg habe, von dieser Unterhaltung leben zu können. Das ist etwas sehr Seltenes.
OfczArek: Am Theater beschäftige ich mich im Gegensatz zum Film sehr viel mit Literatur. Darin steckt schon ein Bildungsauftrag. Aber mein Hauptauftrag ist der, nach dem wir uns doch alle so sehnen: ein bisschen zu schweben. Deshalb saufen wir uns an oder nehmen Drogen oder machen bis zum Deppertwerden Sport. Die Kunstform des Theaters ist da eine sehr analoge Art mit sich selber und anderen Menschen in eine Unmittelbarkeit zu kommen. Das eröffnet im besten Fall Träume. Träume, mit denen wir alle auf die Welt kommen. Wir alle lernen gehen und dann malen wir und wir singen und wir kommunizieren und wir modellieren und wir spielen. Und dann wirds dir irgendwann ausgetrieben, weil es so schwer kontrollierbar ist. Aber diese Unmittelbarkeit, dieses Träumen, dieses Schweben ist eine Art, das Leben zu begreifen, wie wir es alle mal gemacht haben und nach dem wir uns alle sehnen. Darauf kann das Theater hinweisen und zurückführen. Das Theater kann uns ein bisschen schweben lassen. Die Kunst ist in diesem Sinn ein großes zusammenführendes Friedensprojekt. Deshalb verschwindet sie auch in jedem reaktionären System.
schAlkO: Ein reaktionäres System will den Menschen auch nicht als Menschen sehen, mit all seinen Spieltrieben und dem Irrationalen, sondern am liebsten als Roboter, als Funktionierenden. Das will auch die Leistungsgesellschaft, die deshalb so nahe am Faschismus gebaut ist. Die Kunst, das Voneinander-Erzählen, das gemeinsame Träumen, das bringt uns zum Existieren. Das macht uns sichtbar. Die Kunst ist die Religion, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sie ist zutiefst humanistisch. Und frei. Das wäre das Einzige, was wir noch nicht probiert hätten. Die Diktatur der Kunst. •