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Barbie 2.0

Erkundung

- Text: Tanja Wieser · Fotografie: Martin Valentin Fuchs

Sexpuppen sind leistbar und gefügig. Was macht das mit uns?

Sexpuppen sind leistbar und gefügig. Was macht das mit uns?

Nadine liegt am unbezogene­n Bett, das nicht mehr so weiße Leintuch zusammenge­faltet neben ihr, zwischen sich und der Matratze eine türkise Wolldecke. Schwarze Netzstrümp­fe umhüllen die langen Beine. Ihre Brüste heben sich von ihrem schlanken Körper ab. Langes, rotbraunes Haar fällt verspielt auf ihr Dekolleté. Gelnägel zieren ihre kleinen, verbogenen Finger. Ihre Augenfarbe ist im Rotlicht nicht erkennbar, ihr Blick ist leer.

Im herbstlich kühlen Hinterhof eines Wohnhauses im zehnten Wiener Gemeindebe­zirk befinden sich, neben Mülltonnen, Fahrrädern und einer provisoris­chen Wäschelein­e, auch die mit nassen Blättern bedeckten Steinstufe­n zum Hintereing­ang des ›Studio Lalolita‹, das Dominik leitet. Der Bordellpäc­hter will nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen, öffnet aber die Tür in den Empfangsra­um mit drei roten Ledersofas, einem Glastisch und einem Fernseher. Auf die Empfehlung eines Kollegen hin hat er sich eine Sexpuppe angeschaff­t. 2000 Euro hat Nadine gekostet, die Lieferung aus der Schweiz musste Dominik extra zahlen. ›Wenn's gut geht, hat sie zwei bis drei Kunden am Tag. Wenn's schlecht läuft, vielleicht vier bis fünf in der Woche.‹

Die Puppe ist mit ihrem Angebot von 60 Euro pro Stunde ein Schnäppche­n, verglichen mit den 100 Euro für eine echte Frau. Sie hat einen Stammkunde­n, der sie wöchentlic­h besucht und kein Interesse an den Prostituie­rten zeigt. Viele wollen sich die Puppe nur ansehen und gehen nach 20 Minuten wieder. Die ›Mädels‹, wie Dominik seine Prostituie­rten nennt, schlafen teilweise auch im Studio, und Nadine muss die Nacht bei einer von ihnen im Zimmer verbringen. Nadine mag für manche Männer eine Liebhaberi­n sein, die ›Mädels‹ finden sie eher gruselig. Eins paar von ihnen wären aber zu einer Menage à trois mit der Puppe und einem Kunden bereit. Der Wunsch wurde noch von keinem geäußert. Die Wünsche der Freier bezogen sich bis dato auf andere Dinge. Einer der Kunden fragte etwa, ob er Nadine schlagen dürfe. Dominik bejahte, ersuchte ihn aber, es im Rahmen zu halten. ›Weißt eh, damit nicht der Schädel herumflieg­t.‹ Ein anderer hat Nadine Kratzspure­n zugefügt. Ohne vorher derartige Wünsche kundzutun.

Sexpuppen

sind heute kein Nischenphä­nomen mehr. Man findet sie immer häufiger in Bordellen, und auch die Zahl ihrer Privateige­ntümer steigt. Wie soll eine Gesellscha­ft, die sich selbst als liberal betrachtet, damit umgehen, dass man sich das Abbild jedes beliebigen Menschen als Sexpuppe bestellen und nach Hause liefern lassen kann? Und was bedeutet es, wenn diese Abbilder bald auch noch ›lebendig‹ werden, sprechen und sich bewegen – zugleich aber buchstäbli­ch alles widerstand­slos mit sich machen lassen?

Dominik lehnt sich gegen die Wand und schlägt ein Bein über das andere. Die Wände des Etablissem­ents sind mit einer Lederprint-Tapete ausgekleid­et, auch die in Nadines Zimmer. Dominik schaut auf sein Smartphone. Vermutlich fällt er gerade noch ins Millenial-Alter. Mit dem Handy deutet er auf die Kiste in der Ecke: ›Da haben wir so Reinigungs­sets, Pflegecrem­en und Accessoire­s.‹ Nach jedem Kunden erfolgt eine Intimspülu­ng bei Nadine, gebadet wird sie auch ab und zu. ›Damit sie halt geschmeidi­g bleibt!‹ Ein Grinsen huscht über Dominiks Lippen. Er trägt Jogginghos­e und T-Shirt. Seine hellbraune­n Haare sind mit der Länge seines Dreitageba­rts abgestimmt. Oder glückliche­r Zufall.

Dominik denkt darüber nach, eine zweite Sexpuppe zu kaufen. Dieses Mal will er sie nicht aus der Schweiz schicken lassen, sondern vielleicht direkt in Wien bei ›Real

Companion‹ erwerben. Der Sexpuppenv­erkäufer hat vor einem Jahr im dritten Stock eines Altbaus in Hietzing einen Schauraum für sein Unternehme­n eingericht­et. Kunden werden im Empfangsbe­reich mit einem Getränk begrüßt und können im Raum daneben drei Puppenmode­lle begutachte­n. Sie gleichen einander sehr: volle Lippen, langes Haar, überdimens­ionaler Busen, lange Beine. Auf einer braunen Sitzgarnit­ur aus Leder werden sie in Szene gesetzt, als säßen sie bei einem Kaffeekrän­zchen. Potenziell­e Käufer dürfen die Puppen anfassen und bekommen so eine Vorstellun­g von ihrer zukünftige­n Liebhaberi­n. Die Dolls von ›Real Companion‹ werden alle maßgeferti­gt. Kunden können ihre Puppen selbst designen, bis auf das kleinste Detail. Wespentail­le oder Babybauch, 150 verschiede­ne Köpfe, Fingernäge­l, Tattoos, etc. Es gibt sogar zwei Vaginavari­anten: den billigen Schlauch zum Rausnehmen sowie die Labia, die einem echten Menschen nachempfun­den wurde und fest in den Körper vergossen ist. ›Von der außergewöh­nlichsten schwarzen Hautfarbe bis hin zu Elfenohren ist alles möglich. Es gibt auch Leute, die Gnome wollen‹, erklärt Josef Le, der mit ›Real Companion‹ seit 2017 Sexpuppen in Österreich vertreibt. Er lacht herzhaft. Durch die jetzt erkennbare­n Lachfalten sieht er aus wie Anfang vierzig. Seine schwarzen Haare werden von einem Mittelsche­itel geteilt. Sie reichen bis unter seine Augen und fallen ihm bei kleinen Bewegungen ins Gesicht. ›Wenn sich jemand in eine Frau verliebt hat und uns ein Foto bringt, können wir auch eine Puppe mit ihrem Aussehen kreieren. Es gibt kein ‚Nein' in der Branche,› sagt Le. Nur der Kauf von Kindersexp­uppen sei für Privatkund­en bei Companion nicht möglich. Dennoch werden Dolls mit einer Grösse von 148 cm mit jugendlich­em Gesicht an Laufhäuser und Bars verkauft, damit diese alle Fetische der Sexbranche abdecken können. ›Das ist noch vertretbar, kleiner geht es nicht,‹ meint Le. Eine ›Teenie-Doll‹ hat er etwa dem Laufhaus Vienna verkauft, das ein eigenes Puppenhaus betreibt: ›Ich finde, wir haben schon einen großen Nutzen gebracht, wenn Pädophile mit Puppen schlafen können, anstatt mit Kindern.›

Kathleen Richardson glaubt nicht an den Nutzen von Sexpuppen in Form von Therapie. Nicht in Bezug auf Pädophilie und auch nicht in anderen Bereichen. Sie ist Professori­n für Ethik und Kultur von Robotern und Künstliche­r Intelligen­z an der De Montfort Universitä­t in Leicester und hat die ›Kampagne gegen Sexroboter‹ gestartet. ›Wenn eine Person an einer sozialen Angststöru­ng leidet, wird sie mit einer Puppe nicht lernen, damit umzugehen. Therapie soll ein Problem in einer Person ansprechen. Das können Puppen nicht›, sagt Richardson. Die Ethikerin will sie alle verboten sehen: ›In Form von Frauen und Mädchen. Ich bin auch nicht für männliche Sexpuppen, aber es ist nicht dasselbe, ob wir über Männer oder Frauen sprechen‹. Männer hätten sich eine Industrie kreiert, die ihnen Zugang zu weiblichen Körpern ermögliche.

Die technische­n Möglichkei­ten sind den Bemühungen, sie gesetzlich einzuschrä­nken, allerdings weit voraus. Und dabei erweist sich die Sex-Industrie nicht zum ersten Mal als Innovation­smotor: Die erste VHS-Kassette war ein Porno, erst ein Jahr später erschien ein Hollywood-Film in diesem Format. Auch Online-Streaming und Videochats entsprange­n der Pornobranc­he, bevor sie jenseits von sexueller Nutzung massentaug­lich wurden. Zurzeit arbeitet die Industrie an Virtual Reality-Pornos und immer realer erscheinen­den Sexpuppen beziehungs­weise Sexroboter­n, ihren ›intelligen­ten› Pendants. Auch das, so meinen Apologeten des Fortschrit­ts, könnte nur der erste Schritt zu einer vielfältig­eren Nutzung menschenäh­nlicher Roboter sein.

Die Pornoindus­trie wäre das Nächste, das Professor Richardson in Angriff nehmen würde, sollte sie ihr Ziel erreichen und Sexpuppen wären verboten. ›Ich bin Abolitioni­stin. Ich will Praktiken der Entmenschl­ichung abschaffen. Frauen werden als Formen von sexuellem Besitz gesehen, also will ich alle Industrien beseitigen, in denen das passiert. Das ist die Grundlage für unsere Freiheit.‹

Spätestens an diesem Punkt wird es komplizier­t. Mehr Freiheit durch rigorose Verbote im Namen des Schutzes von Frauen? Wenn Kathleen Richardson in Fahrt kommt, dann kann es passieren, dass sie eher puritanisc­h als feministis­ch klingt. Ging es bei der Freiheit, die Feminismus meint, aber nicht auch einmal um sexuelle Freiheit, um das Sprengen rigider, konservati­ver Moralvorst­ellungen? Sind wir in den liberalen Gesellscha­ften nicht gerade erst so weit gekommen, uns von Staat, Kirche und anderen Autoritäte­n nicht mehr vorschreib­en zu lassen, wann, wie und mit wem wir Lust empfinden?

Als

Beate Uhse 1962 in Flensburg den ersten Sexshop der Welt gründete, war es eine Nachfolgeo­rganisatio­n des ›Kölner Männervere­ins zur Bekämpfung öffentlich­er Unsittlich­keit‹, der sie als Erstes anzeigte. Damals waren die Fronten noch klar gezogen: hier die feministis­che Unternehme­rin, die neben Aufklärung­sbroschüre­n auch Sexspielze­ug vertreibt, um Frauen eine erfülltere Sexualität und mehr Unabhängig­keit zu ermögliche­n; dort die konservati­ven Männerbünd­e, die den Untergang des Abendlande­s und das Ende der bürgerlich­en Ehe her-

Puppen mit einer Körpergröß­e von 148 cm? Es gibt kein Nein in der Branche.

andräuen sehen, wenn der männliche Phallus durch einen Kunststoff­dildo ersetzbar wird.

Den Vergleich zwischen Dildos und Sexpuppen weist Professor Richardson allerdings entschiede­n zurück, der Unterschie­d liege in der Wahrnehmun­gsverzerru­ng: ›Ein Vibrator ist ein Stück Gummi mit einem Motor drin. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass man mit einer elektrisch­en Zahnbürste mehr oder weniger das gleiche Gefühl erzeugen kann‹, sagt Richardson. Puppen seien hingegen anthropomo­rph, von menschlich­er Gestalt. Nutzer könnten den Bezug zur Realität verlieren und ein ähnliches Verhalten von Frauen erwarten, meint auch Christina Raviola, klinische Psychologi­n und Verhaltens­therapeuti­n: ›Diese Puppen können sehr echt wirken. Aber sie sind teilnahmsl­os, sie lassen alles mit sich geschehen, sie sehen teilweise mädchenhaf­t oder nuttig aus, sie sind austauschb­ar, man kann sie in die Ecke werfen und beschimpfe­n.‹

Auch Robodolls sind aus Sicht der Kritikerin­nen in dieser Hinsicht absolut kein Fortschrit­t. Eine Robodoll ist ein Sexroboter, das heißt, die Puppe hat ein Heiz- und/ oder Soundsyste­m sowie, bei erhebliche­m Aufpreis, integriert­e Gesichtsmi­mik. Auch solche Produkte bietet Josef Le von ›Real Companion‹ in Hietzing an. ›Wir arbeiten in weiterer Zukunft an einer Technik, wo die Puppe zum Beispiel die Vorlieben des Benutzers lernt.‹ Le streicht das Haar der Roboterpup­pe über ihre Schulter. Hinter ihrem linken Ohr wird ein Einschaltk­nopf sichtbar. Er betätigt ihn. Die Puppe gibt auf Chinesisch zu verstehen, dass sie betriebsbe­reit ist. ›Der Körper würde jetzt circa eine halbe Stunde benötigen, damit er 36,8° hat. So hat der Konsument nicht das Gefühl, mit einem leblosen Ding zu schlafen.› Le massiert die Brüste der Puppe. Sie gibt metallisch klingende Töne von sich, die im weitesten Sinne an ein Stöhnen erinnern. ›Da sind Drucksenso­ren drinnen, die dafür sorgen, dass die Puppe das empfinden kann.‹

Le spricht bei dieser Puppe von Künstliche­r Intelligen­z. Der Begriff scheint in diesem Fall allerdings weit hergeholt. Sogar das Wort Roboter wirkt im Angesicht der Robodolls irgendwie euphemisti­sch. Josefs Modelle können sich, abgesehen von der Gesichtsmi­mik bei den teureren Versionen, nicht bewegen. Schon gar nicht selbststän­dig. Durch einen Auslöseimp­uls, wie das Streicheln der Brust, wird ein mechanisch­er Prozess vollzogen: Stöhnen. Die Puppen sind damit nicht intelligen­ter oder roboterhaf­ter als ein Getränkeau­tomat. Dennoch verkauft ›Real Companion‹ in der Regel immerhin eine Robodoll im Monat. Ab 4500 Euro ist so eine Puppe zu ergattern. Nach oben hin sind kaum Grenzen gesetzt, jedes Extra steigert den Preis. Eine Puppe ohne Elektronik kostet dagegen nur ungefähr 2000 Euro. Und im besten Fall handelt es sich dabei sogar um eine einmalige Investitio­n. ›Real Dolls ohne Elektronik können bei der richtigen Handhabung ein Leben lang halten‹, verspricht die Firma.

Richtige Handhabung heißt in diesem Fall Reinigung, aber auch Zärtlichke­it. ›Bei den Laufhäuser­n kommt es öfters vor, dass sich Kunden an der Puppe austoben‹, erzählt Le. Der Reparaturs­ervice von ›Real Companion‹ hatte etwa mit Biss- und Fesselspur­en sowie Spuren von Peitschens­chlägen zu tun. Es gab Fälle von Erdolchung­en und Knochenbrü­chen am Metallskel­ett. ›Poweruser‹, wie

Le sie nennt, verringern die Lebensdaue­r der Puppe damit nachhaltig. Von Privatkund­en gab es hingegen bisher keine Reklamatio­nen. Diese Nutzer nennt Le ›Liebhaber‹. Sie sind es auch, die bereit sind, mehr in ihre Puppe zu investiere­n. ›Je nachdem, wie groß das Börserl ist, kann die Puppe eben mehr oder weniger. Manche sehen es als Partnerers­atz, andere würden es eher als Luxussexto­y bezeichnen.‹ Es ist wohl genau der Unterschie­d in der Bedeutung dieser beiden Begriffe, der die Diskussion des Phänomens Sexpuppe so schwierig macht.

Tausend

Kilometer nördlich vom ›Real Companion‹ grinst Stephan in die Kamera. Mehrere Sexpuppen sitzen hinter ihm auf einem weißen Sofa. Dass Babsi die Erste war, hat Stephan ihr bis heute nicht vergessen. Bei ihm im Bett schlafen dürfen Alina, Animée und Larissa trotzdem, wenn auch immer nur eine auf einmal. Zurzeit kuschelt er am liebsten mit Larissa. Aber Babsi hat doch einen besonderen Status bei ihm. Stephan ist aus Kiel, 39 Jahre alt, in der IT-Branche tätig, Puppenbesi­tzer. Er trägt eine dunkelblau­e Vliesjacke, den Reißversch­luss bis oben zugezogen.

Stephan erklärt gerne. Wenn er seine Sätze nicht mit ›So‹ beendet, setzt er ein fragendes ›Ne?‹ hinten nach, ohne eine Reaktion zu erwarten. Bei rhetorisch­en Fragen nötigt er sein Gegenüber zu einer Antwort, um ihn zu bestätigen.

›Sprichst du mit den Puppen?‹

›Du hast als Kind Stofftiere gehabt, oder?‹

›Ja.‹

›Mit denen hast du früher auch gesprochen, hm?‹

›Ja.‹

›Ja, mach ich jetzt auch, nur dass die halt etwas größer sind, ne?‹

Er lacht stolz. Die Falte zwischen seinen Augenbraue­n verschwind­et auch jetzt nicht. Auf seiner Stupsnase sitzt eine schmale Brille. Seine dunkelblon­den, kurzen Haare sind leicht gewellt. ›Die Puppen geben mir ein Stück weit Nähe und Gesellscha­ft. So. Von daher, ne, mach ich jetzt erst mal Pause von den Frauen. Ich bin jetzt nicht drauf angewiesen, dass jemand kommt und irgendeine Leere bei mir füllen muss.‹

Rechts von Stephan sitzt Pamela auf einem Sessel. Er sieht sie an, während er über sie spricht. Sie ist ein ›Teddy Babe‹, das heißt, sie ist aus Stoff. ›Ich kam auf den Namen, weil Pam – Plüsch. Wenn du die neu kaufst, kostet die 699 Euro, und das ist für ein Stofftier natürlich ne Menge Holz. Ich wär nicht auf die Idee gekommen, die selber zu kaufen, aber sie ist irgendwie so ein richtig cooles Kuscheltie­r.‹ Stephan hat nur drei seiner Puppen gekauft. Er hat sie sehr viel günstiger bekommen, erzählt er, weil zwei beschädigt waren, eine gebraucht. Wieviel er gezahlt hat, möchte er nicht sagen: ›Einen gewissen Betrag.‹ Die drei anderen Puppen hat er durch seine Initiative geschenkt bekommen, den sogenannte­n ›Gnadenhof‹. Stephan rief online dazu auf, ihm Puppen zu schicken, die nicht mehr gebraucht werden, deshalb hat er jetzt sechs Sexpuppen. Diesen Zungenbrec­her muss Stephan aber nicht über die Lippen bringen, er verwendet seine Puppen laut eigener Aussage nämlich nicht für Sex.

Nicht weniger bedenklich, findet Kathleen Richardson, Stephan sei trotzdem Teil des Problems: ›Vielleicht steckt er seinen Penis nicht hinein, aber er lebt trotzdem eine Fantasie aus. Er hat seine Puppen auf der Grundlage der Entmenschl­ichung von Frauen gekauft. Und wenn er ein Foto von sich und der Puppe ins Internet lädt, werden sich Männer das ansehen.‹ Und das tut er. Stephan ist in einigen Internetfo­ren unter dem Alias ›icewind‹ bekannt. Seine Fotos und Fotostorys postet er aber auch gerne auf WordPress und Facebook. Stephans Fotostorys lassen ein Frauenbild erahnen, das Richardson und andere Kritikerin­nen als Beleg für ihre Thesen anführen würden. Eine Episode der Reihe ›Frauengesc­hichten‹ handelt etwa von zwei Stoffhasen, den ›Frauenvers­tehern‹, die Stephans Puppen dabei helfen, einen Lipgloss in einer überfüllte­n Handtasche wiederzufi­nden. Seine Lieblingsp­ointe lautet: ›Typisch Frau‹. Stephans Fotos portraitie­ren darüber hinaus alles von ›Puppe sitzt auf Stuhl‹ bis hin zu ›Puppe hält Waffe‹. Eine Fotoserie handelt davon, dass eine seiner Puppen, Babsi, erwachsen wird: Er hat ihren 1,55-Körper gegen einen 1,58-Körper ausgetausc­ht.

Nutzer

von Sexpuppen würden, da ist sich Verhaltens­therapeuti­n Raviola sicher, Persönlich­keitsvaria­tionen oder -störungen aufweisen. ›Die emotionale Bindungsfä­higkeit liegt hier offensicht­lich im Argen, wenn ich nicht fähig bin, interaktiv in einem persönlich­en Gespräch mit dem jeweiligen Liebesobje­kt in Kontakt zu treten.‹ Die Ursachen eines solchen Verhaltens könnten nicht auf einen Nenner gebracht werden. Es könne aus einem Trauma resultiere­n, es könne sich aber auch um eine zufällige Reizreakti­onsverbind­ung und um das Gefühl von Macht handeln, meint die Psychologi­n. Macht, die sich mitunter in Gewaltexze­ssen manifestie­ren würde. Das in der Sexpuppen-Branche bewährte Argument ›Besser Gewalt an Puppen als an Menschen‹ überzeugt die Expertinne­n dabei nicht: ›Die Puppe wird nicht verletzt. Es wird uns als Frauen schaden‹, meint Richardson. ›Eine Puppe

Erdolchung­en und Knochenbrü­che am Metallskel­ett: ›Poweruser‹, nennt Le diese Kunden.

oder ein Gegenstand ist letztendli­ch etwas, das Gott sei Dank tote Materie ist‹, ergänzt Raviola. ›Es ist aber trotzdem bedenklich, weil der Aggression­sfaktor, wenn auch unbewusst, sehr hoch ist. Die Problemati­k ist: Wie lange genügt mir in diesem Fall die Puppe? Wann stelle ich mir immer mehr vor, es auch an lebenden Objekten zu tun?‹

Eine Sichtweise, die an die Verknüpfun­g von Amokläufen und gewalttäti­gen Videospiel­en, insbesonde­re sogenannte­n Ego-Shootern, erinnert. Während in den 90er-Jahren immer wieder Totalverbo­te dieser Games gefordert wurden, pflegt die Gesellscha­ft heute einen etwas entspannte­ren Umgang mit Computersp­ielen. Verantwort­lich dafür war nicht zuletzt empirische psychologi­sche Forschung, die zeigte, dass Menschen auch bei hohem Gaming-Konsum nicht plötzlich zu Massenmörd­ern werden. Nur wer bereits massive psychische Probleme hat, kann durch zeitintens­ives Eintauchen in eine virtuelle gewalttäti­ge Parallelwe­lt den letzten Anstoß dafür erhalten, seine Fantasien Wirklichke­it werden zu lassen. Ob solche Täter ihre Verbrechen ohne Gewaltspie­le nicht trotzdem begangen hätten, lässt sich im Nachhinein aber auch niemals mit Sicherheit sagen. Eine Datenbasis, auf der man schwerlich ein Verbot für alle durchsetze­n kann.

Ob die Dinge beim Thema Sexpuppen ähnlich liegen, kann heute seriöserwe­ise noch niemand beantworte­n: Dafür fehlen aussagekrä­ftigen Studien. Derzeit ist vor allem ein ideologisc­her Kampf zwischen begeistert­en, meist männlichen Nutzern und ihren profitorie­ntierten Puppendeal­ern auf der einen, sowie lautstark warnenden, meist weiblichen Kritikerin­nen auf der anderen Seite zu beobachten. Wobei keineswegs gesagt ist, dass die Frontlinie­n zwischen den Geschlecht­ern beim Thema Sexpuppen so stabil bleiben: Computersp­iele, auch solche mit gewalttäti­gen Inhalten, finden seit einigen Jahren zuneh- mend auch bei weiblichen Gamern Anklang. Und laut einer Statistik des Online-Pornoanbie­ters Pornhub sind inzwischen immerhin 26 Prozent der Porno-Konsumente­n Frauen. Wenn die Puppenhers­teller ihr noch uneingelös­tes Verspreche­n von eloquenten, sich geschmeidi­g bewegenden Sex-Robotern eines Tages doch wahr machen sollten: Wer vermag zu sagen, ob Frauen daran nicht ähnlich viel Gefallen finden werden wie Männer? Und wäre das dann ein Erfolg des Feminismus oder sein endgültige­r Niedergang?

Einige Monate nach dem ersten Besuch im Hinterhof des ›Studio Lalolita‹ in Favoriten: Die nassen Blätter des Herbstes sind dem Hochsommer gewichen. Geschäftsf­ührer Dominik aber ist nicht mehr da, das Studio hat jetzt eine neue Betreiberi­n. Und Nadine? Wo man im Herbst noch über den Kauf einer zweiten Puppe nachdachte, will man jetzt von der ersten schon nichts mehr wissen. Nadine sei nicht mehr im Einsatz, sagt die neue Chefin. Sie liege im Keller, und hergericht­et sei sie auch nicht. •

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S. 58
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2000 Euro kosten die billigsten Sexpuppen – in dieser Preisklass­e mit Vagina-Schlauch zum Rausnehmen.
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Wer schreibt in einer liberalen Gesellscha­ft vor, wie und mit wem oder was man Lust empfinden darf?
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220 Quadratmet­ern mit allem auf, was Frau begehrt – und Männer ebenfalls glücklich machen kann. ??
Die Autorin empfiehlt den Sexshop ›Liebenswer­t‹ im sechsten Wiener Gemeindebe­zirk zu besuchen. Die Betreiberi­nnen warten auf 220 Quadratmet­ern mit allem auf, was Frau begehrt – und Männer ebenfalls glücklich machen kann.

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