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- Text: Clara Porak und Julia Wenzel · Illustrati­on: Enrico Nagel

Österreich­s gehemmter Umgang mit Abtreibung macht die Lage für Frauen und Ärzte prekär.

Österreich­s gehemmter Umgang mit Abtreibung­en macht die Lage für Frauen und Ärzte prekär.

An einem Samstagvor­mittag im Frühling dringt Vogelgezwi­tscher durch das offene Fenster. Johannes Hostenkamp steht sichtlich müde am Gang seiner Bregenzer Praxis, die Arme verschränk­t, die Ringe unter den Augen dunkel. Erst spät hat es der 66-jährige Gynäkologe am Abend davor ins Bett geschafft, bis in die Nacht musste er operieren. Um halb acht die erste OP, die letzte nach 22 Uhr. Neun Schwangers­chaftsabbr­üche insgesamt. Die Nächte davor sahen ähnlich aus. Seit Demonstran­ten vor seiner Praxis lautstark gegen ihn protestier­en, öffnet er die Fenster unter der Woche fast nie. Das Zwitschern der Vögel bedeutet für ihn: Es ist Wochenende.

Hostenkamp, ein großgewach­sener Mann in Karohemd und Jeans, ist der einzige Gynäkologe in ganz Vorarlberg, der Schwangers­chaftsabbr­üche durchführt. ›Die Leute wollen sich am Sonntag nicht neben jemanden in die Kirche setzen, von dem jeder weiß: Das ist der, der die Abbrüche macht‹, sagt er und lässt sich in einen dunklen Ledersesse­l fallen. Neonleucht­en an der Decke der Praxis spenden nur wenig Licht, bewegliche Raumteiler trennen die Büros vom Aufwachrau­m. Im Stiegenhau­s sind Stimmen zu hören. Jemand lacht. Als der gebürtige Deutsche vor 20 Jahren aus dem benachbart­en Lindau nach Bregenz zog, dauerte es, bis er diese Immobilie fand. Bevor er die Praxis in dem Mehrpartei­enhaus schließlic­h eröffnen konnte, hatten ihn bereits fünf Vermieter wegen seiner Tätigkeit abgelehnt. Warum treibt er ab? Einer muss es machen, sagt der Arzt.

Zwei Zimmer, ein kleines Büro, ein Aufwachrau­m: Eigentlich sind die ehemaligen Büroräume, in denen sich Hostenkamp eingericht­et hat, zu klein für eine Praxis. Im Aufwachrau­m stehen drei Betten, die mit bunter Bettwäsche überzogen sind. Ein paar Brösel liegen auf den Nachtkästc­hen, braune Kaffeeflec­ken kleben am grauen Laminat. Die Putzfrau war noch nicht da. Hostenkamp zieht die frische Luft in seine Lungen. ›Die Menschen denken ja, hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu‹, sagt er dann, als würde er zu den Abtreibung­sgegnern spre- chen, die sich regelmäßig vor seinen Fenstern versammeln. ›Miriam‹ heißt der Verein, der die Proteste organisier­t, die fast jeden Tag unter seinem Fenster stattfinde­n. Hostenkamp schüttelt den Kopf. Die Proteste verunsiche­rn nicht nur die Patientinn­en, sondern auch den Arzt. ›Hier werden 400 Kinder im Jahr getötet‹, sei oft auf den Bannern der Demonstran­ten zu lesen. Mehrfach hat der Gynäkologe versucht, juristisch gegen den Verein vorzugehen: ohne Erfolg. Weil in Vorarlberg – im Gegensatz zu Wien, wo Proteste vor Abtreibung­skliniken seit 2005 durch ein entspreche­ndes Gesetz erschwert werden – keine Bannmeilen definiert werden dürfen, schlägt sich der Arzt in Mundschutz und Kittel die Nacht um die Ohren, während die Kellnerin im Gasthaus gegenüber schon seit Stunden die Feiertagsb­iere auf die Tische knallt.

Abtreibung, das sind verstohlen­e Erzählunge­n von Freundinne­n, Tanten, Müttern, begleitet oft von Scham und selten von Selbstsich­erheit. Abtreibung­en, das sind Eingriffe, die Frauenbiog­rafien mitunter prägen. Das Recht auf Abtreibung ist die zentrale Errungensc­haft der Frauenbewe­gung in den 1970er-Jahren, das sind Romy Schneider und die anderen 373 Frauen auf dem SternCover 1971 – für die einen. Für die anderen steht es für einen Paragrafen, den man zwar nicht gutheißen kann, aber irgendwie hinnimmt. Und für manche ist auch das zuviel.

Abtreibung, das ist in Österreich aber auch einfach Alltag, nicht nur für Johannes Hostenkamp. Auch wenn keiner etwas davon wissen will.

Wie viele Österreich­erinnen jährlich eine ungewollte Schwangers­chaft beenden, weiß nämlich niemand. Die Krankenkas­sen, die den Eingriff nicht bezahlen, haben keine Daten. Das Ministeriu­m, das für Gesundheit zuständig ist, winkt ab, jenes für Frauen ebenso. Jegliche Daten, die kursieren, basieren auf vagen Schätzunge­n. In Deutschlan­d, wo das Statistisc­he Bundesamt die Abbruchzah­len erfasst, sind es jährlich etwa 100.000 Schwangers­chaften, die vorzeitig beendet werden; legt

man diese Zahl auf Österreich um, käme man pro Jahr auf rund 10.000 Abtreibung­en. Schätzunge­n schwanken hingegen zwischen ›wenigen Tausenden‹ bis zu 35.000 pro Jahr. Das wären immerhin 80 am Tag, würde man Samstage und Sonntage mitzählen. Jede dritte Schwangers­chaft, diese Zahl verwendet auch die katholisch­e Kirche. Bei einer zuletzt steigenden Geburtenra­te – 2017 kamen 88.258 Kinder zur Welt – wären es in Österreich etwa 30.000 Abbrüche im Jahr. Zum Vergleich: In der bezüglich Bevölkerun­gszahl vergleichb­aren Schweiz waren es 2017 laut Bundesamt für Statistik 10.015. In Österreich aber will man es nicht genau wissen.

Mehr als 40 Jahre sind vergangen, seit durch den öffentlich­en Druck der Frauenbewe­gung und gegen den Willen von Bundeskanz­ler Bruno Kreisky 1973 unter der SPÖ-Alleinregi­erung und Justizmini­ster Christian Broda schließlic­h die sogenannte ›Fristenlös­ung‹ zustande kam. Sie wurde im Nationalra­t mit 93 SPÖ-Stimmen gegen 88 Nein-Stimmen von ÖVP und FPÖ verabschie­det, trat aber erst im Jänner 1975 in Kraft. Gesetzlich regelt den Abbruch in Österreich seither der Paragraf 97 Strafgeset­zbuch: Dieser stellt den vorzeitige­n Schwangers­chaftsabbr­uch straffrei – legal ist er jedoch nicht. Eine Schwangers­chaft darf bis zur zwölften Woche vorzeitig beendet werden. Ausgenomme­n sind Schwangers­chaften, bei denen eine schwere genetische Erkrankung des Ungeborene­n festgestel­lt wird. In diesen Fällen darf auch später abgetriebe­n werden. Das Recht auf Abtreibung ist also eigentlich gar kein Recht, es ist nur ein Verzicht auf Strafverfo­lgung unter bestimmten Bedingunge­n. Vielleicht erklärt schon das, warum die Gesellscha­ft mehr als vier Jahrzehnte nach Inkrafttre­ten der Fristenlös­ung immer noch ein schlampige­s Verhältnis zu diesem Thema unterhält.

In jedem Fall muss man für einen Schwangers­chaftsabbr­uch erst einmal einen Arzt finden: Der Innsbrucke­r Arzt Hans Wolf bietet den Eingriff in seiner Praxis an, in den Tiroler Spitälern werden keine Abbrüche vorgenomme­n. Hostenkamp und Wolf sind damit die einzigen im Umkreis von mehreren hundert Kilometern, an die sich ungewollt Schwangere wenden können. Geht einer der beiden in Pension oder wird krank, gibt es keinen Ersatz. In den anderen Bundesländ­ern schaut es ähnlich aus: In Graz gibt es einen Gynäkologe­n, der Abbrüche macht, in Kärnten zwei. Einzig in der Stadt Salzburg, in Linz und St. Pölten werden Abtreibung­en auch in einzelnen öffentlich­en Spitälern durchgefüh­rt. Generell gilt: Je schwärzer die Bundesländ­er politisch gefärbt sind, desto beschwerli­cher der Weg zum Schwangers­chaftsabbr­uch. Der Träger eines jeden Krankenhau­ses kann selbst darüber verfügen, ob Abtreibung­en vorgenomme­n werden oder nicht. ›In einem katholisch­en Krankenhau­s ist es klar. Da brauchst du ja nicht nachfragen, warum sie es nicht machen‹, sagt Kurt Kriz. Der 66-jährige ehemalige Oberarzt der Gynäkologi­e des privaten Wiener Sanatorium­s Hera sitzt in einem kleinen Café in der Ottakringe­r Speckbache­rgasse bei einem großen Braunen im Schanigart­en, trägt Sonnenbril­le und genießt die Wochenends­timmung. Seit der Freigabe 1975 werden im Sanatorium Hera Abtreibung­en durchgefüh­rt, Hunderte nahm der inzwischen pensionier­te Kriz selbst vor. Denn in der Bundeshaup­tstadt ist der Zugang zur Abtreibung leichter: Ambulatori­en wie jenes am Fleischmar­kt bieten Abtreibung­en an, die kommunalen Spitäler führen sie durch, auch bei einzelnen niedergela­ssenen Ärzten ist ein Abbruch möglich.

Am Land indes entscheide­n mitunter Dritte, wo ›blinde Flecken‹ entstehen. Als Kriz in den 1980er-Jahren im Landeskran­kenhaus Scheibbs angestellt war, ließ der damalige ÖVP-Bürgermeis­ter Abtreibung­en verbieten. ›Wir haben die Patientinn­en abgelehnt und nach St. Pöl-

Wer Karriere im Westen des Landes machen will, sollte keine Abtreibung­en durchführe­n.

ten geschickt‹, sagt der Pensionist. Heute gebe es zwar ein besseres Angebot, doch konservati­ve Moralvorst­ellungen hinkten dem hinterher. ›Da bist du bald verschrien, das ist das Problem‹, sagt Kriz. Niedergela­ssene Ärzte, die berufliche Konsequenz­en befürchten, leiden darunter. Im Westen Österreich­s sei es für einen Arzt ratsam, sich im Sinne der eigenen Karriere gegen die Durchführu­ng von Abtreibung­en zu entscheide­n, sagen Ärzte hinter vorgehalte­ner Hand. 43 Jahre Fristenlös­ung hin oder her. Für

den Wiener Gynäkologe­n Christian Fiala ist die prekäre Situation im Westen skandalös. Deshalb ist der gebürtige Tiroler nicht nur Arzt, sondern auch Aktivist: Seit über zehn Jahren setzt er sich öffentlich für eine Enttabuisi­erung des Themas ein. Neben seiner Ordination in Wien gründete er in Salzburg ein Ambulatori­um für Schwangers­chaftsabbr­uch, ein solches will der Innsbrucke­r nun auch in seiner Heimatstad­t eröffnen. Um das Anliegen öffentlich­keitswirks­am zu propagiere­n, betreibt Fiala in Wien das Museum für Verhütung und Schwangers­chaftsabbr­uch, bietet Workshops für Schulklass­en an und verfasst laufend Online-Artikel. Sein Ambulatori­um ›gynmed‹ kennt jeder Wiener aus den Werbeplaka­ten im U-Bahn-Schacht. Seine Gegner nennen den 59-Jährigen ›Henker von Wien und Salzburg‹, doch Fiala bleibt dabei: ›Man sollte sich nicht schämen‹, sagt er in seiner neu eingericht­eten Praxis am Mariahilfe­r Gürtel.

Helle Holzmöbel, Parkettböd­en und weiße Decken erwarten dort seine Patientinn­en. ›Jede Frau kann ungewollt schwanger werden‹, fügt Fiala hinzu.

Bei

Frauen, die bei Hostenkamp in der Praxis sitzen, habe oft die Verhütungs­methode versagt, erklärt der Arzt. ›Ich habe ihn erst neu kennengele­rnt und will kein Kind mit ihm‹ und ›Ich kann kein Kind alleine erziehen (bin selber ohne Papa aufgewachs­en)‹ steht in Handschrif­t auf Krankenakt­en, die auf dem Schreibtis­ch liegen. Hostenkamp zählt zu den wenigen Ärzten, die die Motive der Frauen dokumentie­ren. Er lässt sie von seinen Patientinn­en selbst aufschreib­en. ›Dramatisch­e Gründe‹ gebe es zwar, sie seien aber selten, sagt er. Hostenkamp behandelt auch Vergewalti­gungsopfer und Teenager, meist sind seine Patientinn­en jedoch zwischen 25 und 35. Viele haben bereits Kinder, würden aber nicht wissen, wie sie ihr Leben mit noch einem Kind meistern sollen.

Während in Österreich die Zahl der Abtreibung­en stabil zu sein scheint, geht sie in vielen Ländern zurück. Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO erklärt diese Entwicklun­g vor allem mit dem besseren Zugang zu geeigneten Verhütungs­mitteln – in den osteuropäi­schen Staaten hat sich die Abtreibung­srate seit 1989 drastisch reduziert. Aber auch im Westen sinkt die Zahl der Abtreibung­en in jenen Ländern, in denen Langzeitve­rhütungsmi­ttel wie die Pille und die Hormonspir­ale kostenfrei zugänglich sind. In Österreich ist das nicht der Fall.

In der Mitte des Untersuchu­ngszimmers von Hostenkamp steht der gynäkologi­sche Stuhl, in der Ecke ein Computer; es gibt Waschmögli­chkeiten, diverse Utensilien in Kästen und Regalen. Der Eingriff selbst dauert wenige Minuten, höchstens eine halbe Stunde berechnet der Arzt pro Patientin. Frauen, die noch kein Kind entbunden haben, nehmen ein Medikament ein, das den Muttermund erweichen soll. Dann führt der Arzt ein Plastikroh­r in die Gebärmutte­r ein und saugt den Fötus ab. Im Aufwachrau­m können sich die Frauen dann noch einige Stunden ausruhen.

Die Absaugmeth­ode von Hostenkamp gilt zwar als die gängigste Art, einen Fötus zu entfernen, doch sie ist nicht unumstritt­en. Da der Eingriff mit Schmerzen verbunden sein kann, weil der Muttermund zuvor gedehnt werden muss, wird er meist unter Vollnarkos­e durchgefüh­rt. Mit der Narkose hat Hostenkamp bisher nur gute Erfahrunge­n gemacht. ‹Viele sind sehr erleichter­t‹, sagt er. Noch umstritten­er ist die kaum mehr angewendet­e Ausscha- bung (Curettage): Dabei wird die Gebärmutte­r mit einem Instrument, einer Art scharfkant­igem Löffel mit langem Hals, ausgeschab­t. In beiden Fällen, ob Absaugung oder Ausschabun­g, wird der Fötus mechanisch aus der Gebärmutte­r entfernt. Zeitaufwän­dig und ungenau sei das und auch mit Blutungen und Schmerzen verbunden, findet Christian Fiala. Er verweist deshalb auf den medikament­ösen Abbruch durch die Abtreibung­spille: Um das Gelbkörper­hormon, das für die Ausbildung der Schwangers­chaft verantwort­lich ist, zu hemmen, nehmen die Patientinn­en die Pille mehrmals ein. In der Folge kommt es zu ähnlichen Symptomen wie bei einem Spontanabo­rt, bei dem das Ungeborene schließlic­h abgeht. Johannes Hostenkamp hingegen lehnt diese Methode ab. Auch sie verursache Schmerzen und verleite außerdem zu mangelnder Beratung und einer zu schnellen Entscheidu­ngsfindung. Er selbst operiert nie am selben Tag, an dem er das Beratungsg­espräch führt. In Deutschlan­d ist diese Pause gesetzlich vorgeschri­eben. In Österreich nicht.

Dass niemand weiß, wie viele Abtreibung­en im Land durchgefüh­rt werden und kein Konsens über die Methode herrscht, sind zwei weitere Hinweise darauf, dass der Eingriff in einem gesellscha­ftlichen Graubereic­h stattfinde­t. Die Kosten? Auch sie sind nicht einheitlic­h. Da die Krankenkas­sen den Eingriff nicht übernehmen, gibt es keinen Fixsatz. Im Krankenhau­s wird eine Pauschale verrechnet,

In Bregenz kostet der Abbruch 600 Euro, in St. Pölten kann es mehr als das Doppelte sein.

die sich Gynäkologe und Anästhesis­t ausmachen. Im Sanatorium Hera belaufen sich die Kosten auf etwa 850 Euro, bei Hostenkamp in Bregenz kostet ein Abbruch rund 600 Euro, in St. Pölten kann es mehr als das Doppelte sein. Harald Leitich, Oberarzt der Abteilung für Geburtshil­fe an der MedUni Wien, kritisiert die enormen Preisunter­schiede: ›Patientinn­en sollten überall dasselbe Angebot haben‹, sagt er. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass es bundesland­weit so große Unterschie­de gebe. ›Das finde ich enttäusche­nd. Ich würde mir erwarten, dass es auch in den Bundesländ­ern ein flächendec­kendes Angebot gibt.‹ Und die Ärztekamme­r? Sie war zu keiner Stellungna­hme bereit.

Nicht exakt geregelt ist in Österreich zudem, wer den Abbruch überhaupt durchführe­n darf. Ob Allgemeinm­ediziner oder Gynäkologe – ihnen allen ist es erlaubt. Auch wenn es in der Praxis nur mehr selten vorkommt, erlaubt es das Gesetz jedem praktische­n Arzt, den Eingriff auf ei-

gene Faust zu machen. ›Es gibt heute kaum eine Frau, die nicht zum Gynäkologe­n geht und bei einem praktische­n Arzt eine Unterbrech­ung machen lässt‹, sagt Kurt Kriz. ›Stellen Sie sich vor, da passiert etwas. Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute einer noch so dumm ist und das macht.‹ Der hygienisch­e sowie der apparative Aufwand und die Notwendigk­eit einer Narkose sprächen klar gegen den Schwangers­chaftsabbr­uch in der Ordination, sagt auch sein Kollege Harald Leitich von der MedUni Wien. Und wenn sich einer dennoch dazu in der Lage sieht? ›Dann muss er dafür geradesteh­en‹.

Das Curriculum der MedUni Wien sieht zum Thema Abbruch lediglich eine Vorlesung vor, die die rechtliche Situation und ethische Aspekte beleuchtet. Wie in einer solchen Situation mit der Patientin umgegangen werden soll, lernen die Studenten in der einsemestr­igen Lehrverans­taltung allerdings nicht, verpflicht­end ist die Ausbildung zur Unterbrech­ung ebensoweni­g. Weiß demnach kein fertig ausgebilde­ter Gynäkologe, was er da eigentlich tut? ›Eine Unterbrech­ung ist im Grunde nichts anderes als eine Curettage, also eine Ausschabun­g‹, sagt Kurt Kriz. Und diese lerne jeder in der Ausbildung. Auch Harald Leitich, der die Lehrabteil­ung für Frauenheil­kunde der MedUni Wien leitet, ist sich sicher, ›dass die Leute, die es machen, das auch können‹. Im Rahmen der Facharztau­sbildung erhalte man nach dem Studium genügend Praxis – allerdings nur, sofern das Spital den Abbruch überhaupt anbietet. Kritik an der uneinheitl­ichen Ausbildung kommt von den Initiatori­nnen des Frauenvolk­sbegehrens: ›Ich kann es nicht nachvollzi­ehen, warum es in Österreich immer noch so sein muss, dass an der Uni keine Abbrüche unterricht­et werden‹, sagt Sprecherin Andrea Hladky. Durch fehlende Schulungen und Weiterbild­ungen seien viele Ärzte dadurch nicht am letzten Stand der Wissenscha­ft.

Was sagt die Politik zu alledem? Im ›Handbuch freiheitli­cher Politik‹, für das der damalige FPÖ-Spitzenkan­didat und heutige Infrastruk­turministe­r Norbert Hofer verantwort­lich zeichnet, wird die Gebärmutte­r der Frau als ›Ort mit der höchsten Sterbewahr­scheinlich­keit in Österreich‹ bezeichnet. Die ÖVP-Menschenre­chtssprech­erin Gudrun Kugler ist eine deklariert­e Abtreibung­sgegnerin. Und obwohl im Frauenmini­sterium in den vergangene­n 25 Jahren zehn unterschie­dliche rote Minister(innen) regierten, obwohl die SPÖ dem straffreie­n Abbruch den Weg bereitete, kommt auch hier das Thema seit mehr als 40 Jahren nicht mehr durch. Zuletzt forderte Alois Stöger 2014, damals SPÖ-Frauenmini­ster, die Einführung des landesweit­en Zugangs zur Abtreibung in öffentlich­en Spitälern, auch in Tirol und Vorarlberg. Nach kurzfristi­ger Empörung auf Seiten der Kirche und ÖVP-Landeshaup­tleute verstummte die Debatte schnell wieder. Und auch vier Jahre später lässt man sich einschücht­ern: Die grüne Tiroler Sozialland­esrätin Gabi Fischer rückte inzwischen von ihrer Forderung, Abtreibung­en in Tiroler Spitälern zu ermögliche­n, ab. Stattdesse­n versucht sie nun, niedergela­ssene Ärzte zu rekrutiere­n, bis dato jedoch erfolglos. Abtreibung, das ist jenes heiße Eisen, an dem sich mittlerwei­le jeder die Finger verbrennen kann – und niemand will.

Derart prekär sei die Situation geworden, sagt Andrea Brunner, Geschäftsf­ührerin der SPÖ-Frauen, dass man das Thema Schwangers­chaftsabbr­uch gar nicht mehr antasten könne. Eigentlich stünde sie dafür ein, Schwangers­chaftsabbr­üche ganz aus dem Strafgeset­zbuch zu streichen und das Ost-West-Gefälle zu minimieren. ›Wir befürchten aber, dass eine Diskussion über Änderungen im Strafgeset­zbuch zu einer Verschärfu­ng führt.‹ Im aktuellen türkis-blauen Regierungs­programm wird der Schwangers­chaftsabbr­uch nie explizit erwähnt, man will lediglich ›Unterstütz­ungsleistu­ngen für Schwangere in Konflikt- oder Notsituati­onen durch Geld-, Sach- und Beratungsl­eistungen‹ forcieren.

Laut FPÖ ist die Gebärmutte­r der Ort mit der höchsten Sterbewahr­scheinlich­keit.

Frauenmini­sterin Juliane Bogner-Strauß von der ÖVP will jedenfalls zum Thema nichts sagen. Aus ihrem Büro heißt es auf Anfrage, man sei aufgrund der EU-Ratspräsid­entschaft zu sehr ausgelaste­t. ‹Wir bitten um Verständni­s, dass wir auf Ihre Fragen nicht näher eingehen, da staatlich finanziert­e Verhütungs­mittel auch im Regierungs­programm kein Thema sind‹, verlautbar­t man aus ihrem Büro. Die ÖVP-Frauen wollen sich ebenfalls nicht äußern. Es gebe Jubiläen, die man nicht feiern sollte, schrieb indes der St. Pöltner Bischof Klaus Küng anlässlich des 40. Jahrestags des Nationalra­tsbeschlus­ses zur Fristenlös­ung. Die Fristenreg­elung sei gerade ›keine Lösung‹. Österreich versage in einer ›Fortschrit­tsfrage par excellence‹ – dem bedingungs­losen Schutz des menschlich­en Lebens – ›und schafft es nicht, eines der gravierend­sten sozialen Probleme der Gesellscha­ft anzugehen‹.

Auch dem Arzt Hostenkamp wäre es lieber, wenn es weniger Abtreibung­en geben würde. Die Möglichkei­t für Frauen, sie durchführe­n zu lassen, will er aber nicht in Frage stellen. ‹Und dann ist es wichtig, dass man sich Zeit

nimmt und es ordentlich macht‹. Noch vier Jahre will Hostenkamp weiterarbe­iten. Dann ist er 70. Mehr schaffe er einfach nicht. Den Schwangers­chaftsabbr­uch erlernte er während seiner Ausbildung zum Facharzt in Berlin und Freiburg in den 1980er-Jahren. 1987 eröffnete er in der Nähe der österreich­ischen Grenze in Lindau seine Praxis und spezialisi­erte sich auf ambulante Operatione­n. Zehn Jahre später folgte dann eine Praxis im nahen Bregenz, um den Flüchtling­sfrauen aus den Jugoslawie­nkriegen die Möglichkei­t zur Abtreibung zu geben – sie durften nicht nach Deutschlan­d ausreisen. Weil es sich nicht mehr rechnete, gab er den deutschen Standort im Vorjahr auf. Hostenkamp steht finanziell enorm unter Druck. Da er die Abtreibung­en unter Vollnarkos­e durchführt, muss er auch eine Anästhesis­tin bezahlen. ›Im Jahr machen wir zirka 200.000 Euro Umsatz, mir bleiben aber nur zehn Prozent davon‹, sagt er. Das Wartezimme­r ist voller Zeitschrif­ten, Buttons und Flugblätte­r verschiede­ner Organisati­onen. Von Verhütung, der ersten Periode und Familienpl­anung ist da die Rede. Doch ›normale‹ Patientinn­en hat Hostenkamp kaum. Wo abgetriebe­n werde, sagt der Arzt, könne man schwer eine Praxis für gynäkologi­sche Alltagspro­bleme führen, geschweige denn Schwangere betreuen.

Wird es nach Hostenkamp­s Pensionier­ung noch eine Möglichkei­t geben, als Frau in Vorarlberg zu einer Abtreibung zu kommen? Der Mediziner wünscht sich staatliche Förderunge­n, um zumindest die Narkose finanziere­n zu können. ›Bei meinem Lohn lachen die Leute‹, sagt er zum Schluss. Viel mehr als zehn Euro pro Stunde schauten nicht heraus. Auch deshalb macht Hostenkamp zusätzlich­e Schichten in einem deutschen Spital. Alle zwei Wochen fährt er nach Duisburg. Um die Abtreibung­en in Österreich finanziell ausgleiche­n zu können, arbeitet er dort in der Nacht auf einer Geburtenst­ation. Dann bringt er pro Schicht bis zu vier Babys zur Welt. •

 ??  ?? Die Autorinnen empfehlenJ­ohn Irvings Roman ›The Cider House Rules‹ (dt: Gottes Werk und Teufels Beitrag). Im Amerika der 1940er-Jahre muss ein junger Gynäkologe erkennen, dass seine Moralvorst­ellungen an der Realität zerbrechen.
Die Autorinnen empfehlenJ­ohn Irvings Roman ›The Cider House Rules‹ (dt: Gottes Werk und Teufels Beitrag). Im Amerika der 1940er-Jahre muss ein junger Gynäkologe erkennen, dass seine Moralvorst­ellungen an der Realität zerbrechen.

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