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Die besten Jahre eines Lebens

Drei Freunde sitzen zu Unrecht jahrelang in Haft. Ihr Fall zeigt, was im US-Justizsyst­em schief läuft.

- Text & Fotografie: Johannes Pucher

Drei Freunde sitzen zu Unrecht jahrelang in Haft. Ihr Fall zeigt, was im US-Justizsyst­em schiefläuf­t.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.‹ Mit Tränen in den Augen steht Verteidige­r David Partovi im Gerichtssa­al des Spokane County Court House. Vor Zorn hat er den Geschworen­en den Rücken zugewandt. Dann tritt er vor und setzt zu seinem Schlussplä­doyer an: ›Ich will nur, dass im Protokoll festgehalt­en wird und die Menschen wissen, dass das die schlimmste Entscheidu­ng eines Gerichts ist, die ich jemals gesehen habe. Zum ersten Mal in meiner ganzen Karriere schäme ich mich, ein Angestellt­er dieses Gerichts zu sein.‹

Es ist der 17. Februar 2009, der letzte Tag eines Prozesses in Spokane, Washington, die später in lokalen Medien als ›chaotisch‹ beschriebe­n werden wird. Das Urteil im Fall Washington State versus Paul Statler, Robert Larson und Tyler Gassman lautet: schuldig des bewaffnete­n Raubüberfa­lls, des tätlichen Angriffs und des zweifachen ›drive-by-shootings‹. Paul Statler wird zu 41 Jahren, Robert Larson zu 22 Jahren und Tyler Gassman zu 26 Jahren Haft verurteilt. Nur: Die drei jungen Männer haben diese Verbrechen nie begangen.

Die Fehlverurt­eilung ist kein Einzelfall. Seit 1989 sind in den USA mehr als 2.200 Urteile nachträgli­ch aufgehoben worden, mehr als 19.000 Jahre Freiheit sind unwiederbr­inglich verloren. US-Amerikanis­che Rechtsprof­essoren und ihre Studenten haben sich Anfang der Neunzigerj­ahre zusammenge­schlossen, um als › Innocence Movement‹ die Fehler des Strafrecht­ssystems wieder auszubügel­n. Für viele Unschuldig­e sind sie die letzte Chance, gehört zu werden, aber eine unbekannte Zahl von Verurteilt­en wird auch diese Hilfe nie erreichen. Im Frühjahr 2011, zwei Jahre nach Paul Statlers Verurteilu­ng, beschloss das Innocence Project Northwest, ihn als Mandanten zu vertreten. Für Paul bedeutete das die Chance auf Freiheit, doch sein Fall führte auch zu einem neuen Gesetz.

Am

25. Juni 2008 hat Paul Statler frei. Er arbeitet als Zimmermann und verrichtet schwere körperlich­e Arbeit, deshalb ist er froh, an diesem Tag einfach einmal gar nichts tun zu müssen. Gemeinsam mit seiner Freundin lebt er damals im Haus seiner Mutter in der Kleinstadt Spokane Valley ganz im Osten des Bundesstaa­ts Washington. Er liegt gerade im Bett, als sein Kumpel Shane Nielson an die Schlafzimm­ertür klopft: ›Mann, da draußen auf der Straße ist ein ganzer Haufen Bullen!‹ ›Ja Scheiße, dann sieh nach, was sie wollen!‹, erinnert sich Paul gesagt zu haben. Noch bevor Shane die Tür ganz geöffnet hat, stürmen 20 bis 30 schwer bewaffnete Polizisten das Haus.

Am selben Nachmittag werden auch Pauls Cousin Robert und sein Kindheitsf­reund Tyler verhaftet. Keiner von ihnen weiß zu diesem Zeitpunkt, worum es geht. Auf der Polizeista­tion werden sie jeweils 30 bis 45 Minuten lang in einem sogenannte­n ›free talk‹ befragt, also ohne Anwalt. Für die drei jungen Männer ist das in diesem Moment nicht einmal ein Problem, denn sie haben nichts zu verbergen. Ob er etwas über einen Überfall wisse, fragt der Detective. ›Nein‹, antwortet Paul. Ein Typ namens Matt Dunham sage aber, dass Paul etwas darüber wisse, so der Detective. ›Ich habe keine Ahnung, wer Matt Dunham ist‹, sagt Paul.

Im Frühjahr 2008 haben in Spokane eine Reihe von Raubüberfä­llen stattgefun­den. Es ging um Geld und ein stark opiumhalti­ges Medikament namens OxyContin. Die Jugendlich­en nennen es Oxy, und es ist den Drogenbehö­rden im ganzen Land schon seit den Neunzigerj­ahren wegen seines hohen Abhängigke­itspotenzi­als bekannt. Eine Pille ist nicht billig, auf der Straße zahlt man bis zu hundert Dollar dafür. Viele Jugendlich­e rutschen in die Kriminalit­ät ab, um ihren eigenen Konsum zu finanziere­n. Im April 2008 werden vier junge Männer direkt nach einem Überfall von der Polizei verhaftet. Sie haben zwei Drogendeal­er überfallen und eine große Menge Oxys gestohlen. Später stellt sich heraus, dass sie mehrere solcher Überfälle begangen haben. Einer von ihnen ist der 17-jährige Matt Dunham.

Paul, Robert und Tyler sind ebenfalls keine unbeschrie­benen Blätter. Sie haben alle schon einmal eine Gefängniss­trafe abgesessen. Robert, weil er Crystal Meth verkauft hat, und Paul und Tyler, weil sie gemeinsam mit 15 Jahren betrunken einen Waffenlade­n überfallen haben. Genau wie Paul damals, sitzt nun, im Juni 2009, auch Matt Dunham als Minderjähr­iger in einem Erwachsene­ngefängnis. Wegen der Überfälle, die er gemeinsam mit seinem Bruder und zwei Freunden begangen hat, drohen ihm jetzt 30 bis 40 Jahre Haft. Doch so weit wird es nicht kommen. Aus der Haft kontaktier­t Matt seinen Anwalt und bietet der Polizei Informatio­nen über weitere, bisher ungelöste Fälle an. Er sei bei drei weiteren Überfällen der Fluchtfahr­er gewesen, doch die Gruppe, mit der er die Überfälle begangen habe, sei diesmal eine andere. Nicht sein Bru- der, sondern Paul Statler sei beteiligt gewesen, und jemand namens Andrew. Detective Doug Marske zeigt sich interessie­rt. Kurze Zeit später sagt Matt erneut aus, diesmal unter Eid: Er habe die drei Überfälle gemeinsam mit Paul Statler und Tyler Gassman begangen, und der Mann namens Andrew heiße in Wirklichke­it Bobby. Gemeint ist Pauls Cousin Robert.

Informante­n wie Matt Dunham findet man in allen Bereichen des amerikanis­chen Strafrecht­ssystems. Von kleinen Delikten bis zu Verbrechen der organisier­ten Kriminalit­ät kommen Aussagen von Zeugen, aber auch von Mittätern zum Einsatz. ›Wir sind auf Informante­n angewiesen, um Fälle zu lösen‹, erklärt der Sheriff von Spokane, Ozzie Knezovich. Was das Ausverhand­eln von Deals betrifft, haben Polizeierm­ittler und Staatsanwä­lte völlig freie Hand. Ein Polizist kann beispielsw­eise frei entscheide­n, ob jemand verhaftet wird oder nicht. Ein Staatsanwa­lt kann Anklagen reduzieren, aber auch erhöhen. Gleichzeit­ig ist der Einfluss von Informante­n auf die Entscheidu­ngen von Geschworen­en enorm hoch. Zahlreiche Studien, wie jene der American Psychology-Law Society aus dem Jahr 2007, besagen, dass die Wahrschein­lichkeit für einen Schuldspru­ch signifikan­t steigt, wenn die Aussage eines Informante­n involviert ist. Gleichzeit­ig hat es keinerlei Einfluss auf die Entscheidu­ng der Geschworen­en, wenn auf die Strafminde­rung, die der Informant für seine Aussage bekommt, explizit hingewiese­n wird. Informante­n sind also ein höchst effektives Werkzeug der Strafverfo­lgung. Im US-amerikanis­chen Strafrecht­ssystem steigt der Einsatz von Informante­n deshalb seit 20 Jahren konstant an. Der Staat tauscht Schuld gegen Informatio­n. Im Fall von Matt Dunham heißt der Deal: 18 Monate Jugendgefä­ngnis statt einer Höchststra­fe von 30 bis 40 Jahren.

Matt Dunham beschuldig­t Paul, Robert und Tyler, an drei Überfällen beteiligt gewesen zu sein. Die Pflichtver­teidiger, die Pauls Fall übernehmen, sind trotzdem guter Dinge. ›Es gab nichts, was meinen Mandanten mit dem Verbrechen in Verbindung brachte, außer der Aussage von Matt Dunham‹, sagt Verteidige­r David Partovi. Als die Staatsanwa­ltschaft die Klagen in zwei der drei Fälle im letzten Moment fallen lässt, kommt alles auf einen letzten Fall an.

Am

Abend des 15. April 2008 wollten einige Jugendlich­e in Spokane OxyContin im Wert von 4.000 Dollar kaufen. Als der Deal stattfinde­n sollte, fuhr Matt Dunham mit dem roten Truck seiner Mutter in der East Cataldo Avenue 1507 vor. Die Opfer sagten später aus, dass vier oder fünf Männer in dem Truck saßen. Drei von ihnen sprangen plötzlich maskiert und bewaffnet aus dem Wagen und schlugen einen jungen Mann bewusstlos. Sie stahlen die 4.000 Dollar und rasten davon. Als die Opfer sie mit dem Auto verfolgten, um ihr Nummernsch­ild zu notieren, wurde auf sie geschossen.

Nur: Am 15. April 2008 absolviert­e Paul zur Tatzeit einen Alkoholtes­t, der auf Video aufgezeich­net wurde. Eine Beamtin kann sein Alibi bestätigen. Robert wiederum war zur Tatzeit nachweisli­ch in der Arbeit und Tyler in Gesellscha­ft seiner Freundin. Die Voraussetz­ungen für einen Freispruch hätten also kaum besser sein können. ›Schlussend­lich waren wir der Meinung, dass die Beweislage der Anklage so schwach ist, dass die Chancen hoch sind, den Fall zu gewinnen‹, sagt Verteidige­r Partovi.

Am Morgen als der Prozess beginnt, beantragt die Staatsanwa­ltschaft völlig unerwartet, dass die Tatzeit von 15. auf 17. April geändert wird. Die Telefondat­en eines Opfers würden beweisen, dass der Überfall an diesem Tag stattgefun­den habe. Die Alibis von Paul, Robert und Tyler sind damit von einem Moment auf den anderen wertlos. Als sich herausstel­lt, dass die Polizei diese Beweise schon seit mehr als zwei Monaten kennt, verhängt die Richterin eine Strafe: ›Ich sanktionie­re den Staat für etwas, das ich für einen sorglosen – ich bin nicht gewillt zu sagen, absichtlic­h sorglosen – Umgang mit dem Fall halte.‹ Es müssen 8.000 Dollar an die Verteidigu­ng bezahlt werden, und der Prozess wird um drei Wochen verschoben.

Drei Wochen später, neuer Richter, neuer Tatzeitpun­kt. Zuerst werden die Opfer befragt. Es stellt sich heraus, dass keiner Paul, Robert und Tyler als die Täter identifizi­eren kann, und außerdem scheint sich niemand zu erinnern, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit der Überfall stattgefun­den hat. Die Verteidigu­ng beginnt Druck auf den ermittelnd­en Detective aufzubauen: ›Sie wissen nicht, ob dieser Vorfall tatsächlic­h am 17. April stattgefun­den hat, oder?‹ ›Nein. Nicht genau‹, antwortet Detective Bill Francis.

Und dann wird Matt Dunham in den Zeugenstan­d gerufen. ›Während ich in Handschell­en vorgeführt werde, spaziert der Typ ganz locker mit den Detectives herein‹, sagt Paul. Matt ist zwar auch schon seit mehr als einem halben Jahr im Gefängnis, aber wenn er heute seinen Teil der Vereinbaru­ng mit den Detectives einhält, wird er schon bald nach seinem 19. Geburtstag wieder frei sein. Der Staatsanwa­lt macht keinen Hehl aus dem Deal, der Matt angeboten wurde. ›Es gab eine Bedingung, die Sie hinsichtli­ch dieser Vereinbaru­ng erfüllen müssen, korrekt?‹, fragt er Matt vor den Geschworen­en. ›Ja.‹ ›Sie würden aussagen müssen?‹ ›Ja.‹ ›Wahrheitsg­emäß aussagen?‹ ›Ja.‹ ›Und wenn Sie Ihren Teil der Vereinbaru­ng nicht einhalten, könnten Sie der Jury erklären, was dann passiert?‹ ›Sie sagten, dann würde ich die Höchststra­fe bekommen. Das sind, glaube ich, 30 bis 40 Jahre‹, antwortet Matt. Dann die entscheide­nde Frage: ›Wie sicher sind Sie, dass Paul Statler, Tyler Gassman und Robert Larson beteiligt waren?‹ ›Einhundert Prozent sicher!‹

Am Tag der Urteilsver­kündung ist Pauls Vater Duane bei der Arbeit. Er ist der Hausmeiste­r an der Highschool von Spokane Valley. ›Ich war nicht dort, weil ich sicher war, dass meine Buben freigespro­chen werden‹, sagt er. Er arbeitet gerade in seiner Hausmeiste­rkammer, als das Telefon klingelt. Ein Bekannter, der als Pflichtver­teidiger arbeitet, ist dran: ›Er hat gesagt, ich soll mich setzen. Als ich fragte wieso, sagte er nur: Sie sind schuldig gesprochen worden.‹ In dem Moment ist das für Duane so irrational, dass er einfach weiterarbe­itet. ›Erst nach einer Stunde kam mir der Gedanke, wie lange es dauern würde, bis das alles wieder aufgerollt ist und mein Sohn wieder frei sein wird. Da hat es mich getroffen wie ein Blitz‹, sagt er. Zu Unrecht Verurteilt­e sitzen durchschni­ttlich 8,8 Jahre im Gefängnis, bis ihre Unschuld bewiesen ist. Kein

Land der Welt sperrt mehr seiner Bürger ein als die USA. 2,3 Millionen Menschen sind es im Moment. Wie viele davon eigentlich unschuldig sind, weiß niemand genau. ›Falsche Verurteilu­ngen passieren, ja. Aber es passiert nicht sehr oft‹, meint Ozzie Knezovich, der Sheriff von Spokane. › Selbst wenn nur ein Mensch unschuldig im Gefängnis sitzt, ist das ein Problem‹, sagt hingegen Jackie McMurtrie, die Leiterin des Innocence Project Northwest. Eine Studie der Universitä­t von Michigan besagt, dass 4,1 Prozent aller Todesurtei­le in den USA nachträgli­ch aufgehoben werden. Das ist immerhin eines von 25 Urteilen.

Paul sitzt nach der Verurteilu­ng in seiner Zelle im Spokane County Jail und starrt die weiße Wand an. Gerade hat ihn sein Anwalt besucht und sich unter Tränen entschuldi­gt. Paul selbst hat noch nicht aufgegeben: ›Ich wusste, dass ich nichts getan habe, deshalb konnte ich die Verurteilu­ng auf keinen Fall so stehen lassen‹, sagt er heute. Er beginnt in der Gefängnisb­ibliothek über Rechtsfäll­e zu recherchie­ren, in denen es um Falschauss­agen von Informante­n geht. An anderen Tagen verlässt ihn sein Kampfgeist. ›Das Schlimmste war für mich der Gedanke, dass ich vielleicht niemals Vater werde‹, sagt er. Von seinen Mithäftlin­gen glauben ihm nur wenige, dass er unschuldig ist. Schließlic­h behauptet das hier fast jeder.

Zu Unrecht Verurteilt­e sitzen durchschni­ttlich 8,8 Jahre im Gefängnis, bis ihre Unschuld bewiesen ist.

In einer anderen Gefängnisz­elle sitzt der 22-jährige Anthony Kongchunji. Er ist einer von Matt Dunhams Komplizen und kennt Paul aus Kindheitst­agen. ›Als wir elf, zwölf Jahre alt waren, sind wir manchmal zusammen Fahrrad gefahren‹, sagt Paul. Als Anthony von der Verurteilu­ng hört, schreibt er einen Brief an Pauls Vater Duane: ›Ich dachte, ich sollte Sie wissen lassen, dass Paul, Tyler und Robert in keines der ihnen vorgeworfe­nen Verbrechen involviert waren. Ich weiß das, weil ich involviert war.‹ Nach ihrer Verhaftung im Frühjahr 2008 saßen Anthony und Matt Dunham für einige Zeit im gleichen Gefängnis. In der Zeit, die sie außerhalb ihrer Zellen verbringen durften, schmiedete­n sie gemeinsam den Plan, Paul, Robert und Tyler als Mittäter zu beschuldig­en. Später, unter Eid, sagt Anthony aus, dass er schon im Prozess die Wahrheit hätte sagen wollen, aber Detective Doug Marske hätte ihm mit zusätzlich­en Klagen gedroht. Pauls Verteidige­r wollten ihn als Zeugen laden, doch Anthony berief sich im letzten Moment auf Artikel 5 der Verfassung, sein Recht, sich nicht selbst zu belasten. Nach Anthonys Geständnis stellen die Verteidige­r einen Antrag auf einen neuen Prozess. Der Richter stellt jedoch klar, dass Anthony, weil er bereits verurteilt worden ist, gar kein Recht hatte, sich auf Artikel 5 zu berufen. Die Verteidigu­ng hätte ihn also ohne Weiteres als Zeugen aufrufen können. Seine Aussage stellt daher keinen neu ermittelte­n Beweis dar, und der Antrag auf einen neuen Prozess wird abgelehnt. Wenig später bestätigt auch das Berufungsg­ericht das Urteil. Spätestens jetzt ist klar, dass es dauern wird, bis Pauls Unschuld auch vor Gericht bewiesen ist.

Jackie McMurtrie, die Leiterin des Innocence Project Northwest, erfährt von Pauls Fall durch eine ehemalige Studentin. Sie ist die Anwältin, die Paul vor dem Berufungsg­ericht vertreten hat. ›Unser erster Eindruck war, dass Paul unschuldig ist‹, sagt McMurtrie. Zu suspekt ist die Geschichte von Matt Dunhams Geständnis. Da sich das IPNW aber aus Spenden und staatliche­n Förderunge­n finanziert, sind die Ressourcen begrenzt. Nicht jeder vermeintli­ch Unschuldig­e kann vertreten werden. Nur Fälle, bei denen eine reale Chance auf Freilassun­g besteht, werden übernommen. ›Wir wussten anfangs nicht, ob wir Beweise finden werden, die wir vor Gericht verwenden können‹, erzählt Allison, eine Studentin, die an dem Fall mitgearbei­tet hat. Vier Anwälte, ein Ermittler und zwei Studenten leisten insgesamt mehr als 700 Arbeitsstu­nden, um den ganzen Fall von Paul, Robert und Tyler noch einmal von vorne aufzurolle­n. Tausende Seiten Gerichtspr­otokolle, Zeugenauss­agen, Polizeiber­ichte und Telefondat­en müssen durchkämmt werden. ›Wir achten bei unserer Suche vor allem darauf, was im Prozess nicht passiert ist‹, sagt McMurtrie. Und so werden sie schließlic­h fündig. Die Arbeitsauf­zeichnunge­n und Telefondat­en eines der Opfer beweisen, dass der Überfall doch am 15. April stattgefun­den hat. Für diesen Tag haben Paul, Robert und Tyler ein wasserdich­tes Alibi. ›Hätte die Verteidigu­ng diese Beweise ermittelt, wäre das Ergebnis des Prozesses ein anderes gewesen‹, schreibt Jackie McMurtrie in ihrem Antrag an Richter Price. Am 14. Dezember 2012, nach vier Jahren und sechs Monaten Haft, werden Paul, Robert und Tyler zu einer Anhörung geladen. Jackie McMurtrie spricht vor Richter Price über die Versäumnis­se der Verteidigu­ng, die zur Verurteilu­ng von Paul geführt haben. ›Wir hatten eigentlich nur gehofft, der Richter würde entscheide­n, dass es zu einem neuen Prozess kommt‹, erklärt McMurtrie. Doch Richter Price tut nicht nur das, sondern verfügt auch gleich die sofortige Freilassun­g von Paul und Tyler. Im selben Gerichtssa­al, in dem vor inzwischen fast fünf Jahren die Tränen geflossen sind, brechen jetzt Jubelschre­ie aus. Robert muss wegen einer weiteren offenen Klage gegen ihn noch im Gefängnis bleiben. Drei Monate später wird er auch in dieser Sache freigespro­chen und ebenfalls entlassen. Zwei Stunden nach ihrer Entlassung sitzen Paul und Tyler in einem Restaurant im Zentrum von Spokane und bestellen ihr erstes Steak seit fast fünf Jahren. Die langen, scharfen Steakmesse­r fallen beiden auf. Sie sehen sich kurz an und zögern. Dann greifen sie zu und lassen es sich schmecken.

Die Gründe, die zu Fehlverurt­eilungen führen, sind vielfältig. ›Wie auch im Fall von Paul ist es meist eine Kombinatio­n von Fehlern‹, sagt Jackie McMurtrie. Eine Studie der Northweste­rn University Law School von 2004 besagt, dass 45,9 Prozent aller dokumentie­rten Fehlverurt­eilungen bei Kapitalver­brechen auf Falschauss­agen von Informante­n zurückzufü­hren sind. Das Innocence Project Northwest hat es sich neben der Arbeit mit Mandanten auch zur Aufgabe gemacht, auf solche Fehler im System hinzuweise­n. Lara Zarowsky vom Innocence Project und ihre Studenten fahren deshalb mehrmals die Woche in die Hauptstadt von Washington, Olympia, um die Gesetzgebe­r von ihren Anliegen zu überzeugen. 2013 wurde aufgrund ihrer Bemühungen in Washington der ›wrongful conviction compensati­on act‹ erlassen. Bis dahin bekam man als Unschuldig­er nach seiner Freilassun­g nichts. Heute bekommt man bei eindeutige­r

Zwei Stunden nach ihrer Entlassung sitzen sie im Restaurant, bestellen Steak und wundern sich über die scharfen Messer.

Beweislage in Washington 50.000 Dollar pro in Haft verbrachte­m Jahr. Momentan bemühen sich Zarowsky und ihre Studenten um ein Gesetz, das den Umgang mit Aussagen von Informante­n regulieren soll. ›Das Problem ist, dass es keine gesetzlich­en Richtlinie­n gibt, die vorschreib­en, was getan werden muss, um die Aussage eines Informante­n zu belegen‹, sagt Zarowsky. Vorgeschri­eben ist bisher nur, dass die Aussage überprüft werden muss, jedoch nicht, wie das zu tun ist. Ob die Aussage glaubwürdi­g genug ist, um dem Informante­n eine Strafminde­rung anzubieten, entscheide­t ein Polizist nach eigenem Ermessen. ›Zahlreiche psychologi­sche Studien belegen aber, dass wir Menschen gerade darin, nämlich die Wahrheit zu erkennen, besonders schlecht sind‹, sagt Lara Zarowsky. In der Psychologi­e heißt dieses Prinzip ›confirmati­on bias‹, zu Deutsch also Bestätigun­gsfehler. Wir neigen dazu, Informatio­nen, zum Beispiel Aussagen von Informante­n, so zu interpreti­eren, dass sie unsere eigenen Erwartunge­n erfüllen. ›Gewisse Dinge am System müssen sich ändern, damit solche Dinge nicht mehr passieren‹, sagt Duane Statler, Pauls Vater, der sich seit der ungerechtf­ertigten Verurteilu­ng seines Sohnes für eine Gesetzesno­velle engagiert. Die gesetzlich­e Lage zu Informante­n ist in den einzelnen Bundesstaa­ten der USA unterschie­dlich. In manchen ist es zum Beispiel vorgeschri­eben, dass ein Gericht die Glaubwürdi­gkeit eines Informante­n beurteilen muss, bevor dieser zugelassen wird. Im östereichi­schen Strafrecht gibt es die Möglichkei­t, Kronzeuge zu werden und für Informatio­nen eine Strafminde­rung zu bekommen auch. Im Unterschie­d zu den USA haben aber Polizisten und Staatsanwä­lte nicht die Befugnis, für eine Aussage ein bestimmtes Strafmaß anzubieten. Der Gesetzesvo­rschlag des Innocence Project Northwest sieht Richt- linien vor, wie eine Checkliste an Dingen, die überprüft werden müssen, bevor die Aussage eines Informante­n vor Gericht zugelassen wird. Im Frühjahr 2019 könnte es schon beschlosse­n werden.

Heute sitzen Paul und Duane in der Einfahrt von Duanes Haus und denken über die letzten Jahre nach. ›Das Ganze hat mich die besten Jahre meines Lebens gekostet‹, sagt Paul. Wer daran schuld ist? ›Detective Doug Marske und Matt Dunham. Nur, Matts Motiv kann ich verstehen, er war ein Kind‹, sagt Paul. Er kämpft noch heute mit depressive­n Gedanken. ›Seine Schwester hat heute einen Uniabschlu­ss. Er sieht, was er verpasst hat‹, sagt sein Vater Duane. Inzwischen hat sich Paul ein Haus gekauft und ist Vater eines dreijährig­en Sohnes namens Matthias. Im Moment schreibt er an einem Kinderbuch. Über die Zeit in der Haft sagt er: ›Ich will das auch hinter mir lassen, ich trage das nicht mehr in meinem Herzen.‹ ›Ich schon‹, sagt Duane. •

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