Die besten Jahre eines Lebens
Drei Freunde sitzen zu Unrecht jahrelang in Haft. Ihr Fall zeigt, was im US-Justizsystem schief läuft.
Drei Freunde sitzen zu Unrecht jahrelang in Haft. Ihr Fall zeigt, was im US-Justizsystem schiefläuft.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.‹ Mit Tränen in den Augen steht Verteidiger David Partovi im Gerichtssaal des Spokane County Court House. Vor Zorn hat er den Geschworenen den Rücken zugewandt. Dann tritt er vor und setzt zu seinem Schlussplädoyer an: ›Ich will nur, dass im Protokoll festgehalten wird und die Menschen wissen, dass das die schlimmste Entscheidung eines Gerichts ist, die ich jemals gesehen habe. Zum ersten Mal in meiner ganzen Karriere schäme ich mich, ein Angestellter dieses Gerichts zu sein.‹
Es ist der 17. Februar 2009, der letzte Tag eines Prozesses in Spokane, Washington, die später in lokalen Medien als ›chaotisch‹ beschrieben werden wird. Das Urteil im Fall Washington State versus Paul Statler, Robert Larson und Tyler Gassman lautet: schuldig des bewaffneten Raubüberfalls, des tätlichen Angriffs und des zweifachen ›drive-by-shootings‹. Paul Statler wird zu 41 Jahren, Robert Larson zu 22 Jahren und Tyler Gassman zu 26 Jahren Haft verurteilt. Nur: Die drei jungen Männer haben diese Verbrechen nie begangen.
Die Fehlverurteilung ist kein Einzelfall. Seit 1989 sind in den USA mehr als 2.200 Urteile nachträglich aufgehoben worden, mehr als 19.000 Jahre Freiheit sind unwiederbringlich verloren. US-Amerikanische Rechtsprofessoren und ihre Studenten haben sich Anfang der Neunzigerjahre zusammengeschlossen, um als › Innocence Movement‹ die Fehler des Strafrechtssystems wieder auszubügeln. Für viele Unschuldige sind sie die letzte Chance, gehört zu werden, aber eine unbekannte Zahl von Verurteilten wird auch diese Hilfe nie erreichen. Im Frühjahr 2011, zwei Jahre nach Paul Statlers Verurteilung, beschloss das Innocence Project Northwest, ihn als Mandanten zu vertreten. Für Paul bedeutete das die Chance auf Freiheit, doch sein Fall führte auch zu einem neuen Gesetz.
Am
25. Juni 2008 hat Paul Statler frei. Er arbeitet als Zimmermann und verrichtet schwere körperliche Arbeit, deshalb ist er froh, an diesem Tag einfach einmal gar nichts tun zu müssen. Gemeinsam mit seiner Freundin lebt er damals im Haus seiner Mutter in der Kleinstadt Spokane Valley ganz im Osten des Bundesstaats Washington. Er liegt gerade im Bett, als sein Kumpel Shane Nielson an die Schlafzimmertür klopft: ›Mann, da draußen auf der Straße ist ein ganzer Haufen Bullen!‹ ›Ja Scheiße, dann sieh nach, was sie wollen!‹, erinnert sich Paul gesagt zu haben. Noch bevor Shane die Tür ganz geöffnet hat, stürmen 20 bis 30 schwer bewaffnete Polizisten das Haus.
Am selben Nachmittag werden auch Pauls Cousin Robert und sein Kindheitsfreund Tyler verhaftet. Keiner von ihnen weiß zu diesem Zeitpunkt, worum es geht. Auf der Polizeistation werden sie jeweils 30 bis 45 Minuten lang in einem sogenannten ›free talk‹ befragt, also ohne Anwalt. Für die drei jungen Männer ist das in diesem Moment nicht einmal ein Problem, denn sie haben nichts zu verbergen. Ob er etwas über einen Überfall wisse, fragt der Detective. ›Nein‹, antwortet Paul. Ein Typ namens Matt Dunham sage aber, dass Paul etwas darüber wisse, so der Detective. ›Ich habe keine Ahnung, wer Matt Dunham ist‹, sagt Paul.
Im Frühjahr 2008 haben in Spokane eine Reihe von Raubüberfällen stattgefunden. Es ging um Geld und ein stark opiumhaltiges Medikament namens OxyContin. Die Jugendlichen nennen es Oxy, und es ist den Drogenbehörden im ganzen Land schon seit den Neunzigerjahren wegen seines hohen Abhängigkeitspotenzials bekannt. Eine Pille ist nicht billig, auf der Straße zahlt man bis zu hundert Dollar dafür. Viele Jugendliche rutschen in die Kriminalität ab, um ihren eigenen Konsum zu finanzieren. Im April 2008 werden vier junge Männer direkt nach einem Überfall von der Polizei verhaftet. Sie haben zwei Drogendealer überfallen und eine große Menge Oxys gestohlen. Später stellt sich heraus, dass sie mehrere solcher Überfälle begangen haben. Einer von ihnen ist der 17-jährige Matt Dunham.
Paul, Robert und Tyler sind ebenfalls keine unbeschriebenen Blätter. Sie haben alle schon einmal eine Gefängnisstrafe abgesessen. Robert, weil er Crystal Meth verkauft hat, und Paul und Tyler, weil sie gemeinsam mit 15 Jahren betrunken einen Waffenladen überfallen haben. Genau wie Paul damals, sitzt nun, im Juni 2009, auch Matt Dunham als Minderjähriger in einem Erwachsenengefängnis. Wegen der Überfälle, die er gemeinsam mit seinem Bruder und zwei Freunden begangen hat, drohen ihm jetzt 30 bis 40 Jahre Haft. Doch so weit wird es nicht kommen. Aus der Haft kontaktiert Matt seinen Anwalt und bietet der Polizei Informationen über weitere, bisher ungelöste Fälle an. Er sei bei drei weiteren Überfällen der Fluchtfahrer gewesen, doch die Gruppe, mit der er die Überfälle begangen habe, sei diesmal eine andere. Nicht sein Bru- der, sondern Paul Statler sei beteiligt gewesen, und jemand namens Andrew. Detective Doug Marske zeigt sich interessiert. Kurze Zeit später sagt Matt erneut aus, diesmal unter Eid: Er habe die drei Überfälle gemeinsam mit Paul Statler und Tyler Gassman begangen, und der Mann namens Andrew heiße in Wirklichkeit Bobby. Gemeint ist Pauls Cousin Robert.
Informanten wie Matt Dunham findet man in allen Bereichen des amerikanischen Strafrechtssystems. Von kleinen Delikten bis zu Verbrechen der organisierten Kriminalität kommen Aussagen von Zeugen, aber auch von Mittätern zum Einsatz. ›Wir sind auf Informanten angewiesen, um Fälle zu lösen‹, erklärt der Sheriff von Spokane, Ozzie Knezovich. Was das Ausverhandeln von Deals betrifft, haben Polizeiermittler und Staatsanwälte völlig freie Hand. Ein Polizist kann beispielsweise frei entscheiden, ob jemand verhaftet wird oder nicht. Ein Staatsanwalt kann Anklagen reduzieren, aber auch erhöhen. Gleichzeitig ist der Einfluss von Informanten auf die Entscheidungen von Geschworenen enorm hoch. Zahlreiche Studien, wie jene der American Psychology-Law Society aus dem Jahr 2007, besagen, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Schuldspruch signifikant steigt, wenn die Aussage eines Informanten involviert ist. Gleichzeitig hat es keinerlei Einfluss auf die Entscheidung der Geschworenen, wenn auf die Strafminderung, die der Informant für seine Aussage bekommt, explizit hingewiesen wird. Informanten sind also ein höchst effektives Werkzeug der Strafverfolgung. Im US-amerikanischen Strafrechtssystem steigt der Einsatz von Informanten deshalb seit 20 Jahren konstant an. Der Staat tauscht Schuld gegen Information. Im Fall von Matt Dunham heißt der Deal: 18 Monate Jugendgefängnis statt einer Höchststrafe von 30 bis 40 Jahren.
Matt Dunham beschuldigt Paul, Robert und Tyler, an drei Überfällen beteiligt gewesen zu sein. Die Pflichtverteidiger, die Pauls Fall übernehmen, sind trotzdem guter Dinge. ›Es gab nichts, was meinen Mandanten mit dem Verbrechen in Verbindung brachte, außer der Aussage von Matt Dunham‹, sagt Verteidiger David Partovi. Als die Staatsanwaltschaft die Klagen in zwei der drei Fälle im letzten Moment fallen lässt, kommt alles auf einen letzten Fall an.
Am
Abend des 15. April 2008 wollten einige Jugendliche in Spokane OxyContin im Wert von 4.000 Dollar kaufen. Als der Deal stattfinden sollte, fuhr Matt Dunham mit dem roten Truck seiner Mutter in der East Cataldo Avenue 1507 vor. Die Opfer sagten später aus, dass vier oder fünf Männer in dem Truck saßen. Drei von ihnen sprangen plötzlich maskiert und bewaffnet aus dem Wagen und schlugen einen jungen Mann bewusstlos. Sie stahlen die 4.000 Dollar und rasten davon. Als die Opfer sie mit dem Auto verfolgten, um ihr Nummernschild zu notieren, wurde auf sie geschossen.
Nur: Am 15. April 2008 absolvierte Paul zur Tatzeit einen Alkoholtest, der auf Video aufgezeichnet wurde. Eine Beamtin kann sein Alibi bestätigen. Robert wiederum war zur Tatzeit nachweislich in der Arbeit und Tyler in Gesellschaft seiner Freundin. Die Voraussetzungen für einen Freispruch hätten also kaum besser sein können. ›Schlussendlich waren wir der Meinung, dass die Beweislage der Anklage so schwach ist, dass die Chancen hoch sind, den Fall zu gewinnen‹, sagt Verteidiger Partovi.
Am Morgen als der Prozess beginnt, beantragt die Staatsanwaltschaft völlig unerwartet, dass die Tatzeit von 15. auf 17. April geändert wird. Die Telefondaten eines Opfers würden beweisen, dass der Überfall an diesem Tag stattgefunden habe. Die Alibis von Paul, Robert und Tyler sind damit von einem Moment auf den anderen wertlos. Als sich herausstellt, dass die Polizei diese Beweise schon seit mehr als zwei Monaten kennt, verhängt die Richterin eine Strafe: ›Ich sanktioniere den Staat für etwas, das ich für einen sorglosen – ich bin nicht gewillt zu sagen, absichtlich sorglosen – Umgang mit dem Fall halte.‹ Es müssen 8.000 Dollar an die Verteidigung bezahlt werden, und der Prozess wird um drei Wochen verschoben.
Drei Wochen später, neuer Richter, neuer Tatzeitpunkt. Zuerst werden die Opfer befragt. Es stellt sich heraus, dass keiner Paul, Robert und Tyler als die Täter identifizieren kann, und außerdem scheint sich niemand zu erinnern, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit der Überfall stattgefunden hat. Die Verteidigung beginnt Druck auf den ermittelnden Detective aufzubauen: ›Sie wissen nicht, ob dieser Vorfall tatsächlich am 17. April stattgefunden hat, oder?‹ ›Nein. Nicht genau‹, antwortet Detective Bill Francis.
Und dann wird Matt Dunham in den Zeugenstand gerufen. ›Während ich in Handschellen vorgeführt werde, spaziert der Typ ganz locker mit den Detectives herein‹, sagt Paul. Matt ist zwar auch schon seit mehr als einem halben Jahr im Gefängnis, aber wenn er heute seinen Teil der Vereinbarung mit den Detectives einhält, wird er schon bald nach seinem 19. Geburtstag wieder frei sein. Der Staatsanwalt macht keinen Hehl aus dem Deal, der Matt angeboten wurde. ›Es gab eine Bedingung, die Sie hinsichtlich dieser Vereinbarung erfüllen müssen, korrekt?‹, fragt er Matt vor den Geschworenen. ›Ja.‹ ›Sie würden aussagen müssen?‹ ›Ja.‹ ›Wahrheitsgemäß aussagen?‹ ›Ja.‹ ›Und wenn Sie Ihren Teil der Vereinbarung nicht einhalten, könnten Sie der Jury erklären, was dann passiert?‹ ›Sie sagten, dann würde ich die Höchststrafe bekommen. Das sind, glaube ich, 30 bis 40 Jahre‹, antwortet Matt. Dann die entscheidende Frage: ›Wie sicher sind Sie, dass Paul Statler, Tyler Gassman und Robert Larson beteiligt waren?‹ ›Einhundert Prozent sicher!‹
Am Tag der Urteilsverkündung ist Pauls Vater Duane bei der Arbeit. Er ist der Hausmeister an der Highschool von Spokane Valley. ›Ich war nicht dort, weil ich sicher war, dass meine Buben freigesprochen werden‹, sagt er. Er arbeitet gerade in seiner Hausmeisterkammer, als das Telefon klingelt. Ein Bekannter, der als Pflichtverteidiger arbeitet, ist dran: ›Er hat gesagt, ich soll mich setzen. Als ich fragte wieso, sagte er nur: Sie sind schuldig gesprochen worden.‹ In dem Moment ist das für Duane so irrational, dass er einfach weiterarbeitet. ›Erst nach einer Stunde kam mir der Gedanke, wie lange es dauern würde, bis das alles wieder aufgerollt ist und mein Sohn wieder frei sein wird. Da hat es mich getroffen wie ein Blitz‹, sagt er. Zu Unrecht Verurteilte sitzen durchschnittlich 8,8 Jahre im Gefängnis, bis ihre Unschuld bewiesen ist. Kein
Land der Welt sperrt mehr seiner Bürger ein als die USA. 2,3 Millionen Menschen sind es im Moment. Wie viele davon eigentlich unschuldig sind, weiß niemand genau. ›Falsche Verurteilungen passieren, ja. Aber es passiert nicht sehr oft‹, meint Ozzie Knezovich, der Sheriff von Spokane. › Selbst wenn nur ein Mensch unschuldig im Gefängnis sitzt, ist das ein Problem‹, sagt hingegen Jackie McMurtrie, die Leiterin des Innocence Project Northwest. Eine Studie der Universität von Michigan besagt, dass 4,1 Prozent aller Todesurteile in den USA nachträglich aufgehoben werden. Das ist immerhin eines von 25 Urteilen.
Paul sitzt nach der Verurteilung in seiner Zelle im Spokane County Jail und starrt die weiße Wand an. Gerade hat ihn sein Anwalt besucht und sich unter Tränen entschuldigt. Paul selbst hat noch nicht aufgegeben: ›Ich wusste, dass ich nichts getan habe, deshalb konnte ich die Verurteilung auf keinen Fall so stehen lassen‹, sagt er heute. Er beginnt in der Gefängnisbibliothek über Rechtsfälle zu recherchieren, in denen es um Falschaussagen von Informanten geht. An anderen Tagen verlässt ihn sein Kampfgeist. ›Das Schlimmste war für mich der Gedanke, dass ich vielleicht niemals Vater werde‹, sagt er. Von seinen Mithäftlingen glauben ihm nur wenige, dass er unschuldig ist. Schließlich behauptet das hier fast jeder.
Zu Unrecht Verurteilte sitzen durchschnittlich 8,8 Jahre im Gefängnis, bis ihre Unschuld bewiesen ist.
In einer anderen Gefängniszelle sitzt der 22-jährige Anthony Kongchunji. Er ist einer von Matt Dunhams Komplizen und kennt Paul aus Kindheitstagen. ›Als wir elf, zwölf Jahre alt waren, sind wir manchmal zusammen Fahrrad gefahren‹, sagt Paul. Als Anthony von der Verurteilung hört, schreibt er einen Brief an Pauls Vater Duane: ›Ich dachte, ich sollte Sie wissen lassen, dass Paul, Tyler und Robert in keines der ihnen vorgeworfenen Verbrechen involviert waren. Ich weiß das, weil ich involviert war.‹ Nach ihrer Verhaftung im Frühjahr 2008 saßen Anthony und Matt Dunham für einige Zeit im gleichen Gefängnis. In der Zeit, die sie außerhalb ihrer Zellen verbringen durften, schmiedeten sie gemeinsam den Plan, Paul, Robert und Tyler als Mittäter zu beschuldigen. Später, unter Eid, sagt Anthony aus, dass er schon im Prozess die Wahrheit hätte sagen wollen, aber Detective Doug Marske hätte ihm mit zusätzlichen Klagen gedroht. Pauls Verteidiger wollten ihn als Zeugen laden, doch Anthony berief sich im letzten Moment auf Artikel 5 der Verfassung, sein Recht, sich nicht selbst zu belasten. Nach Anthonys Geständnis stellen die Verteidiger einen Antrag auf einen neuen Prozess. Der Richter stellt jedoch klar, dass Anthony, weil er bereits verurteilt worden ist, gar kein Recht hatte, sich auf Artikel 5 zu berufen. Die Verteidigung hätte ihn also ohne Weiteres als Zeugen aufrufen können. Seine Aussage stellt daher keinen neu ermittelten Beweis dar, und der Antrag auf einen neuen Prozess wird abgelehnt. Wenig später bestätigt auch das Berufungsgericht das Urteil. Spätestens jetzt ist klar, dass es dauern wird, bis Pauls Unschuld auch vor Gericht bewiesen ist.
Jackie McMurtrie, die Leiterin des Innocence Project Northwest, erfährt von Pauls Fall durch eine ehemalige Studentin. Sie ist die Anwältin, die Paul vor dem Berufungsgericht vertreten hat. ›Unser erster Eindruck war, dass Paul unschuldig ist‹, sagt McMurtrie. Zu suspekt ist die Geschichte von Matt Dunhams Geständnis. Da sich das IPNW aber aus Spenden und staatlichen Förderungen finanziert, sind die Ressourcen begrenzt. Nicht jeder vermeintlich Unschuldige kann vertreten werden. Nur Fälle, bei denen eine reale Chance auf Freilassung besteht, werden übernommen. ›Wir wussten anfangs nicht, ob wir Beweise finden werden, die wir vor Gericht verwenden können‹, erzählt Allison, eine Studentin, die an dem Fall mitgearbeitet hat. Vier Anwälte, ein Ermittler und zwei Studenten leisten insgesamt mehr als 700 Arbeitsstunden, um den ganzen Fall von Paul, Robert und Tyler noch einmal von vorne aufzurollen. Tausende Seiten Gerichtsprotokolle, Zeugenaussagen, Polizeiberichte und Telefondaten müssen durchkämmt werden. ›Wir achten bei unserer Suche vor allem darauf, was im Prozess nicht passiert ist‹, sagt McMurtrie. Und so werden sie schließlich fündig. Die Arbeitsaufzeichnungen und Telefondaten eines der Opfer beweisen, dass der Überfall doch am 15. April stattgefunden hat. Für diesen Tag haben Paul, Robert und Tyler ein wasserdichtes Alibi. ›Hätte die Verteidigung diese Beweise ermittelt, wäre das Ergebnis des Prozesses ein anderes gewesen‹, schreibt Jackie McMurtrie in ihrem Antrag an Richter Price. Am 14. Dezember 2012, nach vier Jahren und sechs Monaten Haft, werden Paul, Robert und Tyler zu einer Anhörung geladen. Jackie McMurtrie spricht vor Richter Price über die Versäumnisse der Verteidigung, die zur Verurteilung von Paul geführt haben. ›Wir hatten eigentlich nur gehofft, der Richter würde entscheiden, dass es zu einem neuen Prozess kommt‹, erklärt McMurtrie. Doch Richter Price tut nicht nur das, sondern verfügt auch gleich die sofortige Freilassung von Paul und Tyler. Im selben Gerichtssaal, in dem vor inzwischen fast fünf Jahren die Tränen geflossen sind, brechen jetzt Jubelschreie aus. Robert muss wegen einer weiteren offenen Klage gegen ihn noch im Gefängnis bleiben. Drei Monate später wird er auch in dieser Sache freigesprochen und ebenfalls entlassen. Zwei Stunden nach ihrer Entlassung sitzen Paul und Tyler in einem Restaurant im Zentrum von Spokane und bestellen ihr erstes Steak seit fast fünf Jahren. Die langen, scharfen Steakmesser fallen beiden auf. Sie sehen sich kurz an und zögern. Dann greifen sie zu und lassen es sich schmecken.
Die Gründe, die zu Fehlverurteilungen führen, sind vielfältig. ›Wie auch im Fall von Paul ist es meist eine Kombination von Fehlern‹, sagt Jackie McMurtrie. Eine Studie der Northwestern University Law School von 2004 besagt, dass 45,9 Prozent aller dokumentierten Fehlverurteilungen bei Kapitalverbrechen auf Falschaussagen von Informanten zurückzuführen sind. Das Innocence Project Northwest hat es sich neben der Arbeit mit Mandanten auch zur Aufgabe gemacht, auf solche Fehler im System hinzuweisen. Lara Zarowsky vom Innocence Project und ihre Studenten fahren deshalb mehrmals die Woche in die Hauptstadt von Washington, Olympia, um die Gesetzgeber von ihren Anliegen zu überzeugen. 2013 wurde aufgrund ihrer Bemühungen in Washington der ›wrongful conviction compensation act‹ erlassen. Bis dahin bekam man als Unschuldiger nach seiner Freilassung nichts. Heute bekommt man bei eindeutiger
Zwei Stunden nach ihrer Entlassung sitzen sie im Restaurant, bestellen Steak und wundern sich über die scharfen Messer.
Beweislage in Washington 50.000 Dollar pro in Haft verbrachtem Jahr. Momentan bemühen sich Zarowsky und ihre Studenten um ein Gesetz, das den Umgang mit Aussagen von Informanten regulieren soll. ›Das Problem ist, dass es keine gesetzlichen Richtlinien gibt, die vorschreiben, was getan werden muss, um die Aussage eines Informanten zu belegen‹, sagt Zarowsky. Vorgeschrieben ist bisher nur, dass die Aussage überprüft werden muss, jedoch nicht, wie das zu tun ist. Ob die Aussage glaubwürdig genug ist, um dem Informanten eine Strafminderung anzubieten, entscheidet ein Polizist nach eigenem Ermessen. ›Zahlreiche psychologische Studien belegen aber, dass wir Menschen gerade darin, nämlich die Wahrheit zu erkennen, besonders schlecht sind‹, sagt Lara Zarowsky. In der Psychologie heißt dieses Prinzip ›confirmation bias‹, zu Deutsch also Bestätigungsfehler. Wir neigen dazu, Informationen, zum Beispiel Aussagen von Informanten, so zu interpretieren, dass sie unsere eigenen Erwartungen erfüllen. ›Gewisse Dinge am System müssen sich ändern, damit solche Dinge nicht mehr passieren‹, sagt Duane Statler, Pauls Vater, der sich seit der ungerechtfertigten Verurteilung seines Sohnes für eine Gesetzesnovelle engagiert. Die gesetzliche Lage zu Informanten ist in den einzelnen Bundesstaaten der USA unterschiedlich. In manchen ist es zum Beispiel vorgeschrieben, dass ein Gericht die Glaubwürdigkeit eines Informanten beurteilen muss, bevor dieser zugelassen wird. Im östereichischen Strafrecht gibt es die Möglichkeit, Kronzeuge zu werden und für Informationen eine Strafminderung zu bekommen auch. Im Unterschied zu den USA haben aber Polizisten und Staatsanwälte nicht die Befugnis, für eine Aussage ein bestimmtes Strafmaß anzubieten. Der Gesetzesvorschlag des Innocence Project Northwest sieht Richt- linien vor, wie eine Checkliste an Dingen, die überprüft werden müssen, bevor die Aussage eines Informanten vor Gericht zugelassen wird. Im Frühjahr 2019 könnte es schon beschlossen werden.
Heute sitzen Paul und Duane in der Einfahrt von Duanes Haus und denken über die letzten Jahre nach. ›Das Ganze hat mich die besten Jahre meines Lebens gekostet‹, sagt Paul. Wer daran schuld ist? ›Detective Doug Marske und Matt Dunham. Nur, Matts Motiv kann ich verstehen, er war ein Kind‹, sagt Paul. Er kämpft noch heute mit depressiven Gedanken. ›Seine Schwester hat heute einen Uniabschluss. Er sieht, was er verpasst hat‹, sagt sein Vater Duane. Inzwischen hat sich Paul ein Haus gekauft und ist Vater eines dreijährigen Sohnes namens Matthias. Im Moment schreibt er an einem Kinderbuch. Über die Zeit in der Haft sagt er: ›Ich will das auch hinter mir lassen, ich trage das nicht mehr in meinem Herzen.‹ ›Ich schon‹, sagt Duane. •