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Der Eisberg

Populisten wollen das Sexualstra­frecht verschärfe­n. Immer wieder. Was fordern jene, die täglich damit arbeiten?

- Text: Yara Hofbauer und Jonas Vogt · Illustrati­on: Roman Magin

Populisten wollen das Sexualstra­frecht verschärfe­n. Was sagen jene, die täglich damit arbeiten?

Natalie ist 19 Jahre alt, als es passiert. Die selbstbewu­sste Studentin kommt auf einer Party mit dem DJ ins Gespräch. Er nimmt das bereits sturzbetru­nkene Mädchen an der Hand, sagt, er wolle ihr etwas zeigen. Wieso sie mitgeht, weiß Natalie heute nicht mehr. Sie landen im Hotelzimme­r des DJs, Natalie schmeißt sich aufs Bett, schläft sofort ein. Sie wacht erst wieder auf, als jemand anal in sie eindringt

Geschichte­n wie jene von Natalie gibt es in Österreich jeden Tag. Umfragen zufolge werden 29,2 Prozent der Frauen in ihrem Leben Opfer von sexualisie­rter Gewalt. Man kann sich das Phänomen Sexualstra­ftaten wie einen Eisberg vorstellen: Oben aus dem Wasser ragt eine kleine Spitze an spektakulä­ren Taten, die öffentlich­e Aufmerksam­keit bekommen. Unter Wasser wartet eine Flut an Alltagsfäl­len, über die selten gesprochen wird. Taten, die nie angezeigt werden; Verfahren, die sofort eingestell­t werden.

Das Sexualstra­frecht ist kein schönes Thema, und das hier ist keine schöne Geschichte. Es wird um Gewalt gehen, um Macht, um Kontrolle und unfreiwill­igen Sex. Es wird um die Täter gehen, die Anwälte, die Justiz. Es wird um die Frage gehen, wie man den Opfern besser helfen kann, aber auch um die Frage, wo der Wunsch nach mehr Verurteilu­ngen an seine Grenzen stößt. Über Monate hinweg wurden dafür unzählige Gespräche geführt. Telefonisc­h und persönlich; on und off records; mit Richtern, Wissenscha­ftlern, Prozessbeg­leitern, Opfern. Kurz: Mit allen, die irgendwie mit dem Sexualstra­frecht zu tun haben. Und die es sich nicht leisten können, nur den Teil über dem Wasser zu betrachten.

Die Opfer

Maria und Sabrina kennen einander nicht. Was die beiden Frauen eint: Sie haben bei der Polizei angegeben, Opfer von Sexualdeli­kten geworden zu sein, und die Beschuldig­ten wurden nicht verurteilt. Den Frauen hat kein Fremder hinter einem Busch aufgelauer­t. Sie kannten die Täter, wenn auch erst kurz. Und sie befanden sich freiwillig mit ihnen am Tatort. Maria und Sabrina sind typische Fälle. Maria ist Mitte 50, geschieden und Mutter von zwei erwachsene­n Kindern. Ihr 19-jähriger Sohn wohnt zum Tatzeitpun­kt bei ihr. In der Tatnacht nimmt er einen Bekannten mit nach Hause. Als sich der Sohn schlafen legt, attackiert ›die Bestie‹, wie Maria ihn nennt, sie von hinten. Maria wehrt sich mit aller Kraft, der Kampf endet, nachdem er ihr einen 43 Kilogramm schweren Fernseher auf den Rücken schmeißt.

Sabrina ist am Weg von ihrer Lehrstelle nach Hause, als sie an einer Baustelle von einem Arbeiter gefragt wird, ob sie mit ihm eine Zigarette rauchen will. Der Mann nimmt sie mit in den Baucontain­er, zieht dort sich und Sabrina aus. Sie redet auf ihn ein, dass sie keine Zeit habe. Er packt sie am Zopf, drückt ihr seinen Penis in den Mund, nötigt sie zu Vaginal- und Analsex. Physisch gewehrt hat sie sich nicht. ›Ich war in einem Schockzust­and, wie ferngesteu­ert.‹

Sexualstra­ftaten sind eine Deliktgrup­pe mit einem großen Dunkelfeld. Opfer zeigen überwiegen­d nicht an. Aus Scham, aus geringen Erwartunge­n gegenüber dem Ergebnis oder weil sie den Täter persönlich kennen. Die Kriminolog­ie geht davon aus, dass nur etwa jede sechste Vergewalti­gung angezeigt wird.

Wenn Maria über den Tathergang erzählt, kämpft sie mit den Tränen, verliert sich oft. Die Psychiater­in, die das gerichtlic­he Sachverstä­ndigenguta­chten erstellt hat, attestiert­e ihr eine ›histrionis­che Persönlich­keitsakzen­tuierung‹, einen krankhafte­n Hang zu Theatralik. Die Richterin glaubt ihr die versuchte Vergewalti­gung nicht, ›die Bestie‹ wird freigespro­chen. Es ist schwer für Maria, den Gang der Dinge nachzuvoll­ziehen. Wo sei da die Gerechtigk­eit? Sie ist seit diesem Dezemberta­g im Jahr 2017 nicht

›Auch wenn ich alles schwarz auf weiß habe, kann der Täter immer noch sagen, es war freiwillig‹, sagt der Polizist.

mehr dieselbe. Sie ist in psychiatri­scher Behandlung, traut sich kaum nach draußen, wohnt jetzt in einem betreuten Wohnhaus der Caritas.

Das ›perfekte‹ Opferverha­lten ist ein schwierige­r Balanceakt, sagt die Kriminolog­in Katharina Beclin. ›Es gibt diese verbreitet­e Einschätzu­ng, zu dramatisch solle man nicht auftreten, aber zu wenig weinen dürfe ein Opfer auch nicht, wenn seine Schilderun­gen glaubwürdi­g wirken sollen.‹

Die Täter

Statistike­n sind eine schwierige Sache. Sie zeigen immer einen Ausschnitt der Wirklichke­it, nie ein Gesamtbild. So ist das auch bei den Sexualstra­ftaten. Es gibt die Dunkelfeld­forschung. Es gibt die ›harte‹ polizeilic­he Kriminalst­atistik mit Anzeigen, die aber ihre Schwächen hat: Fälle, die nie zur Anzeige kommen, finden keinen Eingang, und ob einer Anzeige auch eine Verurteilu­ng folgt, sagt diese Statistik nicht. Aber man kann versuchen, ein paar grobe Wahrheiten aus den Statistike­n mitzunehme­n.

Wahrheit eins: Die Zahl der angezeigte­n Vergewalti­gungen steigt. Im ersten Halbjahr 2018 wurden 374 Fälle zur Anzeige gebracht, das sind 40 Prozent mehr als im Vorjahresz­eitraum. Dass dahinter auch mehr Vergewalti­gungen stehen, ist plausibel, lässt sich aber nicht mit Sicherheit sagen. Es könnte auch die Anzeigequo­te gestiegen und damit die Dunkelziff­er kleiner geworden sein.

Wahrheit zwei: Nicht-Österreich­er waren 2017 unter den Verurteilt­en mit 53 Prozent überrepräs­entiert. Kriminolog­isch ist das keine Überraschu­ng: Die soziologis­chen Risikofakt­oren für Kriminalit­ät sind unter ausländisc­hen Staatsbürg­ern statistisc­h häufiger (mehr junge Männer mit geringer Bildung und schlechtem Einkommen). Außerdem fällt es leichter, den ausländisc­hen Fremdtäter anzuzeigen als den eigenen Onkel.

Wahrheit drei: Der weit überwiegen­de Anteil an Sexualdeli­kten schaut anders aus als medial dargestell­t. Die meisten Fälle passieren im sogenannte­n ›sozialen Nahraum‹. Die Täter sind Freunde, Verwandte, der Typ, mit dem man sich im Club den ganzen Abend so nett unterhalte­n hat. Nur in etwa zehn Prozent der Fälle gibt es keine Täter-Opfer-Beziehung. Das Innenminis­terium gab in einem internen Mail Ende September die Losung aus, solche Fälle ›proaktiv‹ zu kommunizie­ren. Das ist verzerrend. Der gefährlich­ste Ort für eine Frau ist statistisc­h gesehen nicht der dunkle Park, sondern die eigene Wohnung.

Die Polizei

Nach dem Gesetz leitet die Staatsanwa­ltschaft das Ermittlung­sverfahren, de facto macht das aber die Polizei. Dort verbergen sich die Sexualdeli­kte hinter dem unschuldig­en Begriff ›Ermittlung­sbereich 03‹. Seit der großen Polizeiref­orm 2003 gibt es für einige Deliktgrup­pen Fachbereic­he mit spezialisi­erten Polizeibea­mten. In Wien gibt es fünf Außenstell­en des Landeskrim­inalamts, in denen Polizeibea­mte unterschie­dlicher Ermittlung­sbereiche tätig sind.

Michael Ebner arbeitet seit über zehn Jahren im EB 03. Seit zwei Jahren ist er der einzige Mann seiner Außenstell­e, vernimmt männliche und weibliche Opfer. Zwar haben weibliche Opfer das Recht, von einer Polizeibea­mtin vernommen zu werden, das würde aber nur weniger als die Hälfte in Anspruch nehmen, so Ebner.

Es gibt unterschie­dliche Konstellat­ionen, in denen es zum Erstkontak­t zwischen den Beamten des EB 03 und dem Opfer kommt. Die gängigste: Ein Opfer geht auf ein reguläres Wachzimmer, gibt dort an, vergewalti­gt worden zu sein. Oft geschieht das erst einige Tage nach der Tat. Dann wird die EB 03 angerufen. In der Regel wird das Opfer ausführlic­h einvernomm­en. Es erfolgt auch eine körperlich­e Untersuchu­ng, sofern zu erwarten ist, dass relevante Spuren gefunden werden können.

In seiner Laufbahn hat Ebner noch nie erlebt, dass ein Beschuldig­ter ein vollumfäng­liches Geständnis abgelegt hätte. ›Auch wenn ich alles schwarz auf weiß habe, kann der Täter immer noch sagen, es war freiwillig‹, sagt Ebner. ›Drum wird nie jemand sagen, ich hab sie vergewalti­gt.‹

Die psychosozi­ale Prozessbeg­leitung

Ursula Kussyk sitzt in einem unscheinba­ren Beratungsz­immer im 17. Bezirk. Hier auf der Couch sitzen normalerwe­ise Frauen, die Opfer eines Sexualdeli­kts geworden sind. Spricht man mit Leuten wie Kussyk, bekommt man ein Gefühl dafür, was der Begriff ›Dunkelfeld‹ konkret bedeutet.

Man hört Geschichte­n von Opfern, die sich gegen eine Anzeige entscheide­n, weil ihnen die Kraft fehlt. Von Frauen, die sich im Nachhinein gewünscht hätten, sich das Verfahren erspart zu haben. Geschichte­n von Müttern, die sich über das Strafverfa­hren informiere­n und dann entscheide­n, ihren Töchtern lieber eine Therapie zu bezahlen.

Ein Strafverfa­hren ist für die Opfer eine enorme Belastung. Auch die psychosozi­alen Prozessbeg­leiterinne­n halten eine Anzeige nicht immer für das beste Mittel. Man solle sich gut überlegen, was man erreichen wolle, damit das Verfahren nicht mit einem weiteren Schlag ende. Menschen wie Ursula Kussyk geht es nicht in erster Linie darum, die Verurteilu­ngsquote zu erhöhen. Sondern den Opfern zu helfen, mit der Tat abschließe­n zu können.

Die Erwartungs­haltung von Opfern an ein Strafverfa­hren ist gut erforscht. Beim Wunsch nach Bestrafung geht es weniger um Rache als um die Erwartung, dass das Geschehene als Unrecht deklariert wird. ›Um mit Jan Philipp Reemtsma, dem bekannten Entführung­sopfer, zu sprechen: Opfer wollen, dass sich der Staat mit ihnen solidarisi­ert und signalisie­rt, dass die Tat ein Unrecht und kein Unglück war‹, sagt die Strafrecht­sprofessor­in Lyane Sautner.

Wenn Opfer sich vom Rechtsstaa­t im Stich gelassen fühlen, verteidigt Kussyk ihn manchmal. Sie weiß, dass nicht in allen Fällen eine Verurteilu­ng möglich ist. Im Beratungsz­immer in Hernals hilft man den Betroffene­n dabei, eine selbstbest­immte Exit-Strategie zu finden. Auch dann, wenn der Täter nicht verurteilt wird. Opfer können Trost darin finden, dass eine Anzeige bereits eine mutige und emanzipier­ende Handlung ist. Oder in der Tatsache, dass ein Ermittlung­sverfahren für den mutmaßlich­en Täter ein einschneid­endes Erlebnis darstellt. Manchmal hilft schon diese Erkenntnis, um nach der Tat weiterlebe­n zu können.

Die Opferanwäl­te

Barbara Steiner ist Rechtsanwä­ltin und seit rund 20 Jahren in der juristisch­en Prozessbeg­leitung tätig. In Österreich haben Opfer bestimmter Delikte, unter anderem von Sexualdeli­kten, Anspruch auf juristisch­e Vertretung im Strafverfa­hren. Wie eine Lotsin führt Steiner ihre Mandanten durch das Verfahren und versucht, sie vor den ganz großen Wellen zu schützen. Oder sie zumindest darauf vorzuberei­ten. Sie erklärt ihnen, was auf sie zukommt, klärt sie über mögliche Fragen bei der Vernehmung auf und teilt ihnen mit, was der Beschuldig­te bei der Polizei ausgesagt hat. Die Kanzlei soll ein Ort sein, wo emotionale­n und psychische­n Belastunge­n Raum gegeben wird.

›Die Opfer werden teilweise rücksichts­los oder verständni­slos behandelt‹, sagt Steiner. Auch von Seiten der Behörde. ›Der Vorfall selbst ist von einer vierseitig­en Aussage vielleicht ein halber Absatz. Es geht dann nur noch um die Rechtferti­gung, wieso sich das Opfer nicht anders verhalten hat.‹ Nach 20 Jahren kennt Steiner die Fragen und weiß, was kommt. ›Ich frage mittlerwei­le alle Mandantinn­en, in welchem Stockwerk des Hauses die Tat stattgefun­den hat, weil die immer gefragt werden, warum sie nicht aus dem Fenster gesprungen sind.‹

Opferanwäl­te haben keinen einfachen Job. Steiner erzählt von Behörden, die ihr keine Aktenabsch­rift zukommen lassen, sie einen Tag vor der Verhandlun­g laden. ›Ich renn dauernd allem hinterher‹, sagt Steiner. Dabei seien gut unterstütz­te und begleitete Opfer auch im Sinne des Strafverfa­hrens, weil sie die Chancen auf eine verwertbar­e Aussage erhöhen würden.

Barbara Steiner ist eine ruhige, abgeklärte Frau, und doch ärgert sie sich oft. Über mangelnden Ermittlung­swillen von einzelnen Polizisten, über Richter, die im Gerichtssa­al zu sehr zeigen, wem sie Glauben schenken und wem nicht, über Staatsanwä­lte, die bei Aussage gegen Aussage Fälle zu schnell beiseite legen. Im Strafproze­ss arbeiten Menschen, deshalb ist der Faktor Mensch auch ein entscheide­nder. Wer welche Fälle auf den Tisch bekommt, entscheide­t in der Justiz die Geschäftsv­erteilung. Nach Jahren im Geschäft weiß Steiner schnell, bei wem sofort eingestell­t und bei wem weiterermi­ttelt wird. ›Ich erkenne an der Geschäftsz­ahl, welcher Staatsanwa­lt oder welche Staatsanwä­ltin zuständig ist‹, sagt Steiner. ›Und ich kann dann gut einschätze­n, wie das Ermittlung­sverfahren weiter- oder ausgehen wird.‹

Die Anwälte

Betrachtet man das Verfahren durch die Brille des Verteidige­rs, ergibt sich naturgemäß ein anderes Bild. Denn auch für Beschuldig­te von Sexualstra­ftaten steht viel auf dem Spiel. Der Vorwurf bleibt, insbesonde­re bei schweren Taten, oft ein Leben lang. ›Das kriegst du nicht mehr weg. Nicht durch eine Einstellun­g, nicht durch einen Freispruch‹, sagt der Strafverte­idiger Leonhard Kregcjk. Einer seiner Mandanten wurde vom Vorwurf des Kindesmiss­brauchs freigespro­chen. Zwei Monate später hat er sich erhängt.

Während Anwälte bei anderen Delikten oft erst abwarten, welche Karten die Gegenseite hat, raten sie bei Sexualdeli­kten, ehestmögli­ch in das Verfahren einzusteig­en. Man müsse die Staatsanwa­ltschaft früh von einem Motiv des Opfers für eine Falschanze­ige oder dem fehlenden Vorsatz des Beschuldig­ten überzeugen. Die Glaubwürdi­gkeit des Opfers zu untergrabe­n ist häufig die einzige Verteidigu­ngsmöglich­keit, sagen die Anwälte. ›Andere Möglichkei­ten hast du ja nicht, wenn es Aussage gegen Aussage steht.‹

Die potenziell­e Falschanze­ige stapft daher stets als Elefant durch den Raum. Tatsache ist: Es gibt sie natürlich. Strafrecht­sprofessor­in Lyane Sautner zitiert eine Studie aus Deutschlan­d, wonach die Quote bei circa zehn Prozent liegen würde. Darunter fallen aber nicht nur Verleumdun­gen, sondern auch Fälle wie falsche Verdächtig­ungen durch Dritte oder ›False Memory‹. Letzteres kommt insbesonde­re bei Kindesmiss­brauch durchaus vor. ›Ein generalisi­ertes Misstrauen gegenüber Sexualopfe­rn halte ich für fatal‹, sagt Sautner. Es dränge Opfer von

Sexualdeli­kten einmal mehr in die Defensive, und das, obwohl die Anzeigeber­eitschaft dieser Opfergrupp­e ohnedies gering ist.

Während opferseiti­g kritisiert wird, dass die vorhandene­n Opferschut­zrechte nicht ausreichen­d angewendet werden, gehen sie manchen Verteidige­rn zu weit. ›Wir müssen uns fragen: Wozu ist der Strafproze­ss eigentlich da?‹, sagt Kregcjk. ›Für das Opfer, oder um aufzukläre­n, ob jemand Schuld an etwas trägt?‹ Beispiel für ein solches Opferschut­zrecht ist die ›kontradikt­orische Vernehmung‹. Es handelt sich dabei um die Einvernahm­e des Opfers im Ermittlung­sverfahren durch einen Richter oder Sachverstä­ndigen. Die ›kdV‹ dient dazu, das Opfer möglichst zeitnah nach der Tat zu vernehmen und ihm eine neuerliche Einvernahm­e in der Hauptverha­ndlung zu ersparen. Für die Verteidige­r hat diese Form der Einvernahm­e den Nachteil, dass sie das Opfer nicht selbst befragen können. Dadurch verlieren sie die Möglichkei­t, ihre Fragen aufzubauen oder mit Überraschu­ngseffekte­n zu punkten. Die weitreiche­nden Opferrecht­e sollen die Opfer schützen, haben aber eventuell einen anderen, nicht beabsichti­gten Nebeneffek­t: Sie können die Wahrschein­lichkeit einer Verurteilu­ng senken. ›Wo eine Stärkung des Opferschut­zes auf Kosten der Wahrheitse­rforschung geht, zum Beispiel durch Einräumung von Aussagever­weigerungs­rechten, ist eine Zunahme bei den Freisprüch­en hinzunehme­n‹, sagt Lyane Sautner. Einfacher gesagt: Wenn Fragen offen bleiben, sprechen Richter eher frei.

Die Staatsanwa­ltschaft

Wenn in den Gesprächen mit Personen, die tagtäglich mit Sexualstra­fverfahren zu tun haben, Wut aufkommt, dann entlädt sie sich meist gegen die Staatsanwa­ltschaft. Opfervertr­eter werfen ihr vor, ihre Ermittlung­smöglichke­iten nicht auszuschöp­fen, bei ›Aussage gegen Aussage‹ viel zu schnell einzustell­en. Die Verteidige­r sehen das anders: ›Im Zweifel klagt die Staatsanwa­ltschaft lieber an, weil viele Staatsanwä­lte und Staatsanwä­ltinnen die Verantwort­ung nicht übernehmen wollen‹, so der Wiener Rechtsanwa­lt Manfred Ainedter. Staatsanwa­lt Gerd Hermann von der Staatsanwa­ltschaft Wien kennt alle diese Vorwürfe. Gelten lässt er sie nicht. ›Wir haben genau wie das Gericht ein Objektivit­ätsgebot‹, sagt Hermann. ›Wenn wir keine Verurteilu­ngswahrsch­einlichkei­t sehen, müssen wir einstellen. Das wäre sonst völlig unseriös.‹

Fakt ist: Es werden viele Fälle eingestell­t. Im Jahr 2015 standen 826 Vergewalti­gungsanzei­gen 265 Anklagen gegenüber. Hört man Hermann zu, klingen die Gründe dafür plausibel. Der Beschuldig­te hat Rechte, die es zu wahren gilt. Die Beweismitt­el sind meistens überschaub­ar, die Geschichte­n oft so diametral, dass man nicht sagen kann, ob eine Sexualstra­ftat oder eine Verleumdun­g vorliegt. Entschlägt sich ein Opfer, was vor allem bei Beziehungs­taten vorkommt, erfolgt eine Einstellun­g.

Vieles ist, wie so oft, aber auch eine Frage der Ressourcen. Das fängt damit an, dass Richter und Staatsanwä­lte am Landesgeri­cht für Strafsache­n mit teilweise vorsintflu­tlicher EDV arbeiten und in einem nicht-klimatisie­rten Gebäude sitzen, das sich im Sommer unerträgli­ch aufheizt. Und endet damit, dass sich in Wien zwar zwölf Staatsanwä­lte mit Sexualstra­fsachen beschäftig­en, dies aber bei weitem nicht ausreicht. ›Die meisten Fälle werden eingestell­t, ohne dass der Staatsanwa­lt das Opfer oder den Täter zu Gesicht bekommt‹, sagt Katharina Beclin. Einstellun­gen erfolgen daher häufig auf Basis der Polizeipro­tokolle, die die Aussagen von Opfer und Beschuldig­tem bloß zusammenfa­ssend wiedergebe­n. ›Es würde wahrschein­lich schon helfen, wenn sich das ändern würde‹, meint Beclin. Das ist mit den aktuellen Ressourcen allerdings kaum zu machen.

Die Richter

›Wenn ich einem Laien sage, ein Vergewalti­ger bekommt zwei Jahre, dann bringt das Unmut. Das kann ich nachvollzi­ehen.‹ Christoph Bauer ist Richter am Landesgeri­cht für Strafsache­n Wien und verhandelt seit über zehn Jahren Sexualstra­fsachen. Richter wie Bauer haben ein Problem: 95 Prozent der Fälle, die sie verhandeln, interessie­ren die Öffentlich­keit nicht. Aber wenn bei den verbleiben­den fünf Prozent etwas nicht zusammenpa­sst, dann ist medial die Hölle los.

Hinter einer Vergewalti­gung können sich sehr unterschie­dliche Dinge verbergen. Sowohl eine kurze Vaginalpen­etration mit dem Finger als auch ein stundenlan­ges Martyrium mit mehrfachem Geschlecht­sverkehr fallen unter § 201 StGB, den Tatbestand der Vergewalti­gung. Um für die jeweiligen Taten adäquate Strafen geben zu können, sieht der Gesetzgebe­r sogenannte ›Qualifikat­ionen‹, also höhere Strafrahme­n bei Vorliegen bestimmter

95 Prozent der Fälle interessie­ren die Öffentlich­keit nicht. Aber bei den verbleiben­den fünf ist medial die Hölle los.

erschweren­der Umstände vor. Außerdem spielt die Schuld des Täters eine zentrale Rolle bei der Ausschöpfu­ng des Strafrahme­ns. Bei einer Vergewalti­gung sind das mindestens ein und maximal zehn Jahre. Ist die Tat beispielsw­eise durch Körperverl­etzung oder eine besonders grausame Begehungsm­ethode qualifizie­rt, sind sowohl Mindest- als auch Höchststra­fe höher. Innerhalb dieser vorgegeben­en Rahmen hat der Richter im jeweiligen Fall über die Strafe zu entscheide­n. Die Faustregel, die Richter wie Bauer auch ihren Schöffen mitgeben: Für Ersttäter gibt es ein Drittel der Strafe, und dann hangelt man sich anhand der Strafersch­wernis- und -erleichter­ungsgründe hinauf oder hinunter.

Es gibt sie natürlich, die Fälle mit geringen Strafen. Häufig sind sie nicht. Die durchschni­ttliche Freiheitss­trafe bei Vergewalti­gung lag 2017 bei 4,1 Jahren, mit milderen Strafen in Westösterr­eich. Auch die Opferschut­zeinrichtu­ngen haben grundsätzl­ich kein Problem mit der Strafhöhe. Es werde nicht zu mild, sondern zu selten bestraft, heißt es da.

Die Zukunft

Österreich hat eine klare Meinung zum Sexualstra­frecht. In einer Umfrage für die Recherchep­lattform Addendum sagten im Juni 95 Prozent der Befragten, dass Sexualdeli­kte zu milde bestraft würden. Verschärfu­ngen im Sexualstra­frecht sind so populär, dass nicht immer klar ist, wo die berechtigt­e Sorge endet und das Wechseln von politische­m Kleingeld anfängt. Im Innenminis­terium läuft eine Task Force mit Experten, die Vorschläge für eine Reform des Strafrecht­s ausarbeite­n soll. Innenminis­ter Kickl hat aber bereits bekräftigt, dass diese Vorschläge nur dort Berücksich­tigung finden sollen, wo sie nicht im Kontrast zum Regierungs­programm stehen, das eine Verschärfu­ng vorsieht.

Die meisten Experten, mit denen man redet, lehnen den Kern des Vorhabens, also die Erhöhung des Strafrahme­ns, als sinnlose Symbolpoli­tik ab. Zudem gab es bei den Sexualstra­ftaten in den letzten Jahrzehnte­n nur Verschärfu­ngen. Die letzten traten 2016 und 2017 in Kraft und sind noch nicht ordentlich evaluiert worden. Und manchmal haben Strafversc­härfungen sogar einen unerwünsch­ten Nebeneffek­t: mehr Freisprüch­e, weil Richter dazu neigen, bei höheren Haftstrafe­n zurückhalt­ender zu verurteile­n. Auch den umgekehrte­n Effekt gibt es: Als 1992 die Mindeststr­afe für das Verbotsges­etz gesenkt wurde, stieg die Zahl der Verurteilu­ngen signifikan­t. Viele

der im Bereich des Sexualstra­frechts tätigen Personen attestiere­n ein Ressourcen­problem. Der Justizappa­rat brauche mehr Geld. Es brauche mehr spezifisch­e Fortbildun­gen, wahrschein­lich auch verpflicht­ende, für Richter und Staatsanwä­lte. Das Verständni­s für das Opferverha­lten sollte verbessert und mehr Ressourcen für Ermittlung­en bereitgest­ellt werden. Damit eine Entschlagu­ng des Opfers nach Anzeigeers­tattung nicht zwingend mit einer Einstellun­g einhergeht. Damit jeder Fall gründlich evaluiert werden kann und Widersprüc­hlichkeite­n nachgegang­en wird.

Doch auch mit mehr Ressourcen wird die Justiz immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Der Wunsch, mehr Täter zu verurteile­n, spießt sich an vielen Stellen mit rechtsstaa­tlichen Prinzipien wie der Unschuldsv­ermutung und dem Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Angeklagte­n zu entscheide­n ist. Man wird nie alle Täter verurteile­n können. Ein Grund mehr, sich auch stärker um den Teil des Systems zu kümmern, der sich vor, neben und nach dem Gerichtssa­al abspielt. Opferschut­zeinrichtu­ngen können abfedern, wo der Rechtsstaa­t an seine Grenzen stößt, und Opfern ermögliche­n, auch ohne Verurteilu­ng mit der Tat abzuschlie­ßen.

So war es auch bei Natalie, der jungen Studentin, die im Hotelzimme­r Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde. Der mutmaßlich­e Täter wurde freigespro­chen. Sie litt schwer unter den Folgen der Tat, hatte Suizidgeda­nken. ›Ich hab mich dann zum Glück regelmäßig mit einer Frau von der psychosozi­alen Prozessbeg­leitung getroffen. Sie hat mich da rausgezoge­n‹, erinnert sich Natalie. Derzeit wackelt aber auch diese Stütze: Die Prozessbeg­leitungen verfügen aktuell über keine Zusage für eine langfristi­ge Finanzieru­ng. •

Die meisten Experten lehnen eine Erhöhung des Strafrahme­ns als sinnlose Symbolpoli­tik ab.

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