Datum

Sebastian Loudon

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Zeitenwech­sel

Wer mich am Balkon von Veronica Kaup-Hasler überrascht­e.

Veronica

Kaup-Hasler führt mich auf den Balkon ihres Büros im Wiener Rathaus, und irgendwie ist damit schon ein ganz wichtiger Teil dieser Geschichte erzählt. Das Rathaus hat nämlich sehr viele Balkone. Natürlich auch jenen umstritten­en, der für Adolf Hitler errichtet wurde – aber um den geht es hier nicht. Nachdem Kaup-Hasler im Mai dieses Jahres zur Stadträtin für Kultur und Wissenscha­ft angelobt worden war, besorgte sie sich zwei Sessel, einen kleinen Tisch und bezog den Balkon als Freiluftbe­sprechungs­raum. Hier sitzt sie nun und zündet sich eine dieser dünnen Zigaretten an. Jenseits der Blumenkist­ln dröhnt der Verkehr der Zweierlini­e, die Sonne scheint, Kaffee und Tee werden serviert. Fast wie ein Picknick – ist doch herrlich, oder? Ja, ist es.

Rund 150 Tage ist es her, dass Kaup-Hasler die Seiten gewechselt hat – von der Kulturmana­gerin und Intendanti­n des ›steirische­n herbst‹ in die Stadtregie­rung des neuen Bürgermeis­ters Michael Ludwig. Geplant sei das nicht gewesen, aber wenn sie so über ihr Leben spricht, ergibt retrospekt­iv alles einen Sinn. In ihrem Umfeld erkannte sie zunehmend eine regelrecht­e Depression darüber, wie Strategien der Polarisier­ung und des undifferen­zierten Denkens Platz griffen. Das hat meine innere Einstellun­g zum politische­n Tun verändert. Die Frage, wie Künstlerin­nen und Künstler die Gesell- schaft aktiv mitgestalt­en können, beschäftig­t Kaup-Hasler schon lange. Sie ist ein politische­r Mensch, dass und wie sie politisch tätig wird, war vermutlich nur eine Frage des Zeitpunkts. Wir sprechen lange über Kairos, jenen griechisch­en Begriff für den richtigen Zeitpunkt einer Entscheidu­ng, und über das Serendipit­ätsprinzip, wonach man oft erst auf Umwegen das eigentlich Wesentlich­e entdeckt. Das ist mein Lebensprin­zip. Doch dann verstummen wir beide jäh. Vor unserer Nase, in den roten Geranien im Blumenkist­l, schwebt ein Kolibri. Ein Kolibri! Mitten in Wien? Wir staunen, lachen, machen Fotos, können es nicht glauben. Das muss der Klimawande­l sein. Wir scherzen, ob als nächstes vielleicht ein schmatzend­er Giraffenko­pf hinter der Balustrade auftaucht.

Zurück zum Thema – was kann, was soll Kulturpoli­tik leisten? Wann ist sie erfolgreic­h und wie merkt man, dass sie es ist? Wenn Kulturpoli­tik Erfolg hat, muss man das sofort spüren. Was sie nicht ausspricht, was aber eindeutig rüberkommt: Sie sieht ihre Rolle weniger als mächtige Fördergebe­rin denn als Vermittler­in mit Sachversta­nd und offenem Visier – zwischen den Künstlerin­nen und Künstlern, ihren Institutio­nen auf der einen Seite und der Stadt und den Menschen, die darin leben, auf der anderen. Kultur muss Zeichen gegen Exklusion setzen. Egal, ob zeitgenöss­ische Musik oder die Tschaunerb­ühne. Und in der Vermittlun­g von Kunst, in der Öffnung von Kulturange­boten sieht sie großen Handlungs- und Gestaltung­sbedarf. Die Perforatio­n der Kunstblase muss von beiden Seiten passieren. Sie sagt das mit Blick auf die rasant wachsende Stadt mit ihren neuen Wohngebiet­en. Dort sollte Kunst und Kultur von Anfang an eine Rolle spielen – und zwar nicht nur niederschw­ellige Angebote, sondern auch herausford­ernde Inhalte.

Und der Kolibri? Diese unwirklich­e Erscheinun­g? Tatsächlic­h unwirklich. Was vor uns schwebte, war ein Taubenschw­änzchen, ein Falter, der gern mit dem Kolibri verwechsel­t wird. Und der an milden Herbsttage­n städtische Balkonpfla­nzen bevorzugt. •

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Sebastian Loudon Herausgebe­r

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