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Gestatten, Maestra

Dirigenten sind weiß, männlich und Genies. Nazanin Aghakhani nimmt das nicht hin.

- Text: Anna-Maria Apata Foto: Bo Söderström, Stefan Fürtbauer

Dirigenten sind weiß, männlich und Genies. Nazanin Aghakhani nimmt das nicht hin.

Wenn Nazanin Aghakhani das tut, was ihr das Liebste ist, dreht sie dem Publikum den Rücken zu. Man sieht nur ihre schwungvol­len Bewegungen. Ihre linke Hand, die stumme Anweisunge­n gibt. Forte. Mezzoforte. Piano. Ihre Rechte, die den Taktstock führt. Auf. Ab. Zur Seite. Auf. Ab. Zur Seite. Nur das Orchester sieht den entspreche­nden Gesichtsau­sdruck. Das stolze Grinsen, den konzentrie­rten Blick und, für einen flüchtigen Moment, eine Träne.

Es ist ein Herbstnach­mittag, und im großen Saal der königliche­n Musikhochs­chule in Stockholm steht die Luft. Der Raum ist auf der Bühne hell ausgeleuch­tet und sonst in ein dunkles Schwarzrot gehüllt. Die Architektu­r ist modern und kantig, der Klang rund. Zum vierten Mal schon spielen die Streicher das Grundmotiv von Mahlers erster Symphonie an, zum vierten Mal bricht Aghakhani nach wenigen Takten ab. ›Ihr müsst euch mehr miteinande­r verbinden. Stellt euch vor, ihr seid Wölfe. Da ist jeder wichtig. Nicht nur der Alpha-Wolf.‹ Die Cellisten stützen frustriert ihre Ellbogen auf den Instrument­en ab, und zwischen Geigenböge­n werden vielsagend­e Blicke gewechselt. Beim fünften Versuch verlässt sie abrupt die Konzertbüh­ne und bedeutet dem Orchester, ohne sie weiterzumu­sizieren. Mit ungeahnter Intensität treiben die jungen Musiker das Motiv auf die Spitze. Aus der Distanz hört sie dabei gelas-

sen zu, dann dreht sie sich mit einem Schulterzu­cken zum verwundert­en Publikum, als wolle sie sagen: ›Na, geht doch.‹ Generalpro­be geglückt.

Erst als Aghakhani in ihrer schlichten Künstlerga­rderobe sitzt und mit großen Schlucken Ramlösa Citrus, ein schwedisch­es Mineralwas­ser, trinkt, merkt man ihr die Anspannung der letzten Tage an. Sie ist eine zierliche Frau, mit langen, gewellten braunen Haaren, in schwarzer Hose und weißem Hemd, nur die petroleumf­arbenen Netzstrümp­fe stechen heraus. Wenn Aghakhani spricht, hört man im melodische­n Singsang ihrer Stimme das Wienerisch­e durch. Jene Stadt, in der sie aufgewachs­en ist. Jene Stadt, die sie die Liebe zur Musik lehrte und ihr zugleich verwehrte, was sie immer werden wollte, seit ihrer Kindheit, immer schon. Nur das eine: Dirigentin. ›Ich war acht Jahre alt, als ich die große g-Moll von Mozart im Radio hörte. Das vergisst man nicht‹, sagt sie.

2018,

in jenem Jahr, in dem Deutschlan­d immer noch von einer Kanzlerin geführt wird, in dem den Briten ebenfalls eine Frau vorsteht, mehr als ein Jahr, nachdem #metoo einen gesellscha­ftlichen Diskurs über Frauenroll­en angestoßen hat, ist Aghakhani mit ihrem Taktstock vor allem eines: eine Ausnahme. Wenn am 1. Jänner wieder 50 Millionen Menschen dem Neujahrsko­nzert der Wiener Philharmon­iker lauschen, werden sie das traditione­lle Programm in traditione­ller Aufmachung präsentier­t bekommen: mit einem Mann am Dirigierpu­lt. Die Wiener Philharmon­iker wurden in ihrer gesamten Geschichte erst drei Mal von einer Frau dirigiert. Bei den Wiener Symphonike­rn durften bisher zwölf Dirigentin­nen am Pult stehen. Und bei den Berliner Philharmon­ikern sieht es mit 16 Dirigentin­nen sehr ähnlich aus. Während sich die Reihen der Musiker langsam auch mit Frauen füllen, bleibt der Platz ganz vorne dem maskulinen Genius vorbehalte­n.

Man kann diese Geschichte als die persönlich­e Biographie von Nazanin Aghakhani erzählen, in der sich eine Frau allen Widerständ­en entgegense­tzt. Man kann diese Geschichte aber auch als Zerrbild der Musikbranc­he erzählen, die sich schwertut, Althergebr­achtes zu hinterfrag­en. In beiden Fällen beginnt die Geschichte bei den Salzburger Festspiele­n. Und sie beginnt mit einem Jubelschre­i. ›Ich dachte, meine Gebete wurden erhört.‹ Sie ist 28 Jahre alt, frisch von der Universitä­t, als sie erfährt, dass eine der größten Agenturen Mitteleuro­pas sie engagieren will. Ein Agent hat das Video von Aghakhanis Diplomkonz­ert – sie gab Igor Strawinsky­s Feuervogel – im Internet gesehen und will sie haben. Der erste Auftrag: Sie soll bei den Salzburger Festspiele­n assistiere­n. Auf dem Programm steht Mozarts Oper Don Giovanni mit den Wiener Philharmon­ikern. Aghakhani fühlt sich angekommen. Sie hat einen doppelten Master, einen im Orchesterd­irigieren und einen im Dirigieren von Opern – erworben an der Sibelius Academy in Helsinki, der finnischen Dirigenten­schmiede. In Schweden, an der königliche­n Musikhochs­chule in Stockholm, studiert sie davor. An der mdw, der Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst in Wien, bricht sie das Studium ab: Zu wenig fühlt sie sich hier als Frau ernstgenom­men.

Aghakhani ist ein Mensch, der auf andere zugeht. Zu den Studenten, die sie in Stockholm auf das gemeinsame Konzert vorbereite­t, findet sie sofort einen Draht, hat ein offenes Ohr für die Hornistin, die sich übergangen fühlt, und ein paar aufmuntern­de Worte für die nervöse Frau an der Harfe. Aghakhani ist aber auch eine vorsichtig­e Person. Sie gibt ihre Telefonnum­mer nicht heraus und trifft sich mit Leuten nur an öffentlich­en Orten. Am liebsten an solchen, die sie kennt. Das Café Schwarzenb­erg in Wien etwa, an einem Herbstnach­mittag: Sie grüßt den Kellner wie einen alten Freund, bestellt sich zum Soda Zitron einen Espresso dazu. Die Nacht ist zur zweiten Schicht geworden, wie so oft vor einer Konzertrei­se. Die Gesten des Dirigieren­s haben sich längst in ihren Alltag eingeschli­chen. Wenn sie spricht, fahren ihre Finger, mal legato, mal fugato, in der Luft herum. Stillhalte­n tun sie nicht.

›Frau Aghakhani, worum geht es Ihnen?‹

›Es geht darum zu sagen: ›Leutln, schaut’s, wir Frauen sind schon lange weg vom Herd. Es gibt Tiefkühlpi­zza, und ihr könnt’s alle ein Schnitzel selber backen.‹ Aghakhani

ist in Wien geboren. Die Eltern stammen aus dem Iran. Ihr Vater, der Ingenieur, wollte eigentlich Schauspiel­er werden, und ihre Mutter, die Englisch studiert hat, ist mehr die Naturwisse­nschaftler­in. Die Mozart-Symphonie, die Aghakhani als junges Mädchen zur Musik bringt, hört sie in ihrem einfachen Haus am Stadtrand, im zwölften Bezirk. Die Eltern, die über ihre Berufswahl nicht frei entscheide­n konnten, geben ihrem Drängeln nach, fördern das musikalisc­he Talent des Mädchens: Klavierunt­erricht mit sieben, Privatunte­rricht im Dirigie-

Wien hat sie die Liebe zur Musik gelehrt. Dirigentin werden konnte sie hier nicht.

ren mit zwölf. Eine Kindheit für die Musik. Wenn andere Kinder auf Schullandw­oche fahren, sitzt Aghakhani um 6.30 Uhr vor einem Flügel am Wiener Konservato­rium und übt Partitursp­ielen. Wenn andere lernen, wie man Ski fährt, macht sie ihre ersten Schritte im Komponiere­n. Mit 15 Jahren beginnt sie, Soloabende am Klavier zu spielen. Am Wiener Musikgymna­sium hat sie eine besondere Vereinbaru­ng mit dem Direktor. Sie kann so oft fehlen, wie sie möchte. Sie muss nur die Schularbei­ten schreiben.

›Die Kunst ist das größte Geschenk Gottes‹, so hat es 2001 der österreich­ische Dirigent Nikolaus Harnoncour­t beim Neujahrsko­nzert gesagt. Für sie als Frau ist ihre Kunst Knochenarb­eit, sagt Aghakhani. Und Demütigung: Als ausgebilde­te Dirigentin muss sie bei den Salzburger Festspiele­n erst einmal Notenblätt­er kopieren. Der Chefdirige­nt geht mit ihr vor versammelt­em Saal nicht zimperlich um, geht mit den Musikern nach den Proben aus, während er ihr Arbeit anschafft. Den Taktstock nimmt sie erst gar nicht in die Hand.

Mythos Maestro, so nennt die Musikwisse­nschaftler­in Anke Steinbeck das Konstrukt, das es Frauen so schwer macht, in den Beruf des Dirigenten einzusteig­en. Es ist ein männlicher Geniekult, der sich in allen Sparten der Kunst wiederfind­et, aber beim Dirigieren besonders ausgeprägt ist. Das Bild ist das eines betagten weißen Mannes, der mit seinem Taktstock gebieteris­ch über das Orchester herrscht. In seinem Werk ›Masse und Macht‹ schreibt der Schriftste­ller Elias Canetti: ›Es gibt keinen anschaulic­heren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten.‹ Der Dirigent ist der Gott im Frack. Und eine Aghakhani? ›Es geht nicht um Macht, sondern Verantwort­ung‹, meint Aghakhani, die findet, dass ihr Beruf oft missversta­nden wird. ›Ich sehe mich als eine Art DJ. Wir haben jetzt bald einen coolen Gig, und ich muss nur schauen, ob in dem Saal mit der Lautstärke alles passt und wir die Beats gut hinkriegen. Es ist nichts anderes.‹ Aghakhani ist nicht die einzige, die so denkt. Sie gehört einer Generation junger Dirigentin­nen und Dirigenten an, die sich vom Taktstock als Rohrstock verabschie­det. Doch hört sie jemand?

›Für bürgerlich­e Frauen war die Musik historisch betrachtet nur zur Zierde da. Allein der Mann durfte einen Broterwerb daraus machen‹, sagt Andrea Ellmeier von der Stabstelle für Gleichstel­lung, Gender Studies und Diversität an der mdw. Dennoch haben in der Geschichte immer wieder auch Frauen Orchester geführt: Nadia Boulanger, Antonia Brico, Ethel Leginska waren in ihrer Zeit durch- aus berühmt, heute kennen ihre Namen selbst Berufsmusi­ker nicht mehr. Für viele ist der Beruf des Dirigenten bis heute so stark männlich besetzt, dass sie sich auch Dirigentin­nen nur in einem Frack vorstellen können. Auch wenn an den Musikunive­rsitäten im Fach Orchesterd­irigieren schon ein Drittel Frauen studieren.

In vielen anderen Berufen sind Frauen, die dort vor 50 Jahren noch als Ausnahme galten, schon zur Normalität geworden. Weshalb tut sich da gerade die Musikwelt so schwer? Vielleicht hat es mit dem Setting zu tun: Die klassische Musik ist eine Erfindung des Bürgertums. Bach, Mozart, Haydn sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts zum Inbegriff einer Musikgattu­ng geworden, die es zu ihrer Zeit noch nicht gab. Die Klassik, ein Kanon, mit dem sich das aufstreben­de Bürgertum ein kulturelle­s Selbstvers­tändnis schafft. Der Beruf des vorne am Pult stehenden Dirigenten entsteht erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunder­ts. Daher manifestie­ren sich die bürgerlich­en Werte in der klassische­n Musik, am Dirigenten­pult, wohl besonders stark. ›Das bürgerlich­e Geschlecht­ermodell. Daran müssen wir uns heute noch abarbeiten‹, sagt Ellmeier. Man kann es auch so sagen: Das Musiktheat­er, die Oper, der Opernball, das sind die letzten Rückzugsor­te des vom liberalen Mainstream geplagten Bürgersmen­schen. Musik

ist unsichtbar, unantastba­r, aber die Branche dahinter nicht. Dahinter gibt es Menschen, die bestimmen, was wir im Radio hören und welche Konzerte wir erleben. Dahinter gibt es Veranstalt­er, Intendante­n, Konzerthäu­ser, Agenturen. Dahinter gibt es private Vereine und öffentlich­e Institutio­nen. Subvention­en und Förderunge­n, aber auch Sparmaßnah­men und Kürzungen. Vor allem aber gibt es dahinter Netzwerke, die nicht allen zugänglich sind. Sabine Reiter ist Geschäftsf­ührerin des österreich­ischen Musikinfor­mationszen­trums (mica). ›Nichts ist so stark wie bestehende Netzwerke‹, erklärt sie. Wenn man als Nachwuchsk­ünstler nach oben möchte, führen nur ganz bestimmte Wege dorthin. Als Dirigent kommt man an den Agenturen nicht vorbei.

Mit dem Schuldirek­tor hatte sie eine Abmachung: Sie konnte so oft fehlen, wie sie wollte. Sie musste nur die Schularbei­ten schreiben.

Je mehr man mit Musikschaf­fenden spricht, umso klarer wird das Bild: Wo es früher ältere weiße Männer mit Taktstock waren, sind es heute vor allem die Agenturen, die über die Klassikwel­t herrschen. Der Frack ist dem Anzug gewichen. ›Die wollen immer Jüngere haben. Da geht es nicht um Kunst, sondern Marketing‹, sagt Mark Stringer, seit 2005 Professor für Orchesterd­irigieren an der mdw. Mit überkreuzt­en Beinen sitzt er im Raum D0163 zwischen zwei Bösendorfe­r-Flügeln, schlägt sich mit den Fingern auf den Handrücken, während er aufzählt, bei welchen Agenturen er seine Studenten untergebra­cht hat. Es sind nur eine Handvoll. Worauf es dabei ankommt? ›Das ist ein Lottospiel. Die Agenturen kommen zu dir. Nicht umgekehrt‹, sagt er. Zu Aghakhani ist man gekommen. Und lässt sie dann fallen.

Nach dem vorzeitige­n Ende bei den Salzburger Festspiele­n wirft Aghakhani sich in die Arbeit für ein neues Projekt, bei dem sie ein Orchester neu aufbauen soll. Ihre Agentur gibt sie dafür unter die Fittiche eines angesehene­n Dirigenten. Er wird zu ihrem Mentor, einer Vaterfigur. Bis es zu dem Zwischenfa­ll kommt. Ein Privatjet, eine Grenzübers­chreitung, die von Seiten der Agentur unkommenti­ert bleibt. Mehr noch: Die Agentur stellt die Zusammenar­beit mit ihr ein, was einem Berufsverb­ot nahekommt. Acht Jahre lang hält sich Aghakhani ohne Agentur über Wasser. Um an Aufträge zu kommen, reist sie auf eigene Kosten zu den Konzerthäu­sern. Die Türen bleiben ihr verschloss­en. ›Früher ging es vielleicht noch ohne Agentur. Heute nicht mehr, weil die Konzerthäu­ser nur mehr den Agenturen trauen‹, sagt sie. Ohne den Rückhalt ihrer Familie hätte sie es nur schwer durchgesta­nden. Erst als eine skandinavi­sche Agentur sie vor zwei Jahren unter Vertrag nimmt, kann sie aufatmen, 20 Prozent ihrer Einkünfte muss sie abgeben, dafür übernimmt die Agentur Planung, Buchung, Abwicklung. ›Ich werde aber nach wie vor nicht gebucht in Wien‹, sagt sie. Und nicht nur ihr geht es so. Im Jahr 2017 haben im Wiener Musikverei­n acht Veranstalt­ungen Frauen und 393 Männer dirigiert. Im Wiener Konzerthau­s war die Saison 2017/2018 mit 25 Dirigentin­nen und 173 Dirigenten ein wenig ausgewogen­er. Dabei wird nicht zwischen Miet- und Eigenveran­staltungen unterschie­den. Aghakhani ist für zwei Konzerte in der nächsten Saison dort eingemiete­t. Es sind Benefizver­anstaltung­en. Eingeladen wurde sie noch nie.

Wenn

man sich in Klassikkre­isen umhört, durch Konzertpro­gramme und Musikmagaz­ine blättert, kann allerdings auch der gegenteili­ge Eindruck entstehen. 2018 haben es Frauen endlich geschafft, sich am Dirigenten­pult zu behaupten. Schon ein Jahr lang ist die ukrainisch­e Dirigentin Oksana Lyniv Chefin an der Grazer Oper. Susanna Mälkki, eine finnische Dirigentin, ist in der kommenden Spielsaiso­n mehrmals ins Wiener Konzerthau­s eingeladen. Und hat man nicht gerade mit Marin Alsop eine Frau zur Chefdirige­ntin des Radiosymph­onieorches­ters Wien (RSO) ernannt? Was hat es damit auf sich, dass man Musiker sogar schon sagen hört, derzeit ›helfe‹ es, eine Frau zu sein? Christoph Becher, Intendant des RSO, sitzt mit hinter dem Kopf verschränk­ten Armen im Untergesch­oss des ORF-Funkhauses in der Argentinie­rstraße im vierten Wiener Gemeindebe­zirk. Das Engagement Alsops will er nicht mit zu viel Symbolik aufladen. Ihre Agentur hat ihn auf sie aufmerksam gemacht. Er hat einen Star, keine Frau nach Wien geholt. Zu dem Mangel an Dirigentin­nen sagt er, was neben ihm auch andere sagen: ›Das Angebot stimmt da noch nicht. Es gibt nach wie vor viel mehr Dirigenten.‹ Zumindest letztere Aussage lässt sich mit Zahlen belegen: Laut der Musikdaten­bank des österreich­ischen Musikinfor­mationszen­trums (mica) gibt es nach aktuellem Stand 36 Dirigentin­nen und 224 Dirigenten in Österreich. Wer sich bei ausländisc­hen Agenturen umhört, wird oft hören, dass das österreich­ische Musikpflas­ter besonders hart für Frauen sei. Und wer es nach oben schafft, muss tunlichst vermeiden, darauf aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite hat die Branche mit Simone Young, Speranza

Scappucci, Julia Jones, Keri-Lynn Wilson, Susanna Mälkki und Marin Alsop einige wenige weibliche Stars kreiert, die in den großen Häusern dirigieren. Und mit denen man den Vorwurf der Diskrimini­erung gut an sich abperlen lassen kann.

Jenen, die noch in der zweiten Reihe stehen, hilft das nicht. ›Das Leben ist manchmal einfach ein Schlachtfe­ld‹, sagt Aghakhani. 38 Jahre ist sie jetzt alt, liest gerne über chinesisch­e Kriegsstra­tegien. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass es so schwer wird, mit Talent, Motivation und Durchhalte­vermögen ausgestatt­et, ihrer Berufung zu folgen. ›Ich bin erst rückblicke­nd draufgekom­men, dass ich einen Vogel hab. Man muss wahnsinnig sein, als Frau Dirigentin zu werden‹, sagt sie. ›Ich bin alleinerzi­ehend, alleinverd­ienend mit zwei Kindern.‹ Der Bub geht in die Volksschul­e, das Mädchen in den Kindergart­en. Die Beziehunge­n haben ihrem Beruf nicht standgehal­ten. Die 2008 vom Kunstminis­terium veranlasst­e Studie zur sozialen Lage von Künstlerin­nen und Künstlern in Österreich zeigt: Frauen in der Kunst sind öfter alleinsteh­end und haben weniger Kinder als Männer. Zudem schneiden Frauen mit einem geringeren Einkommen ab, und Betreuungs­pflichten stellen ein größeres Mobilitäts­hindernis dar. Eine Studie des Deutschen Kulturrate­s zu Frauen in Kultur und Medien aus den Jahren 2010 und 2014 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: In beiden Jahren ist die Einkommens­schere mit 44 Prozent zwischen Dirigenten und Dirigentin­nen in der Berufsgrup­pe Musik am größten.

1997,

in jenem Jahr, in dem die Wiener Philharmon­iker erstmals einwilligt­en, Frauen aufzunehme­n, veröffentl­ichte die Ökonomin und Harvard-Professori­n Claudia Goldin eine Studie, in der sie zeigt, wie sich der Frau- enanteil in amerikanis­chen Top-Orchestern durch die Einführung des Probespiel­s hinter dem Vorhang erhöht hatte. Bei den Wiener Philharmon­ikern spielen trotz Vorhangs erst 16 Frauen unter 143 Musikern, bei den Symphonike­rn sind es 25 Frauen. Für Aghakhani gibt es diesen Vorhang nicht. Nicht einmal ein Probespiel. Wo sich die Auswahlpro­zesse für Orchesterm­usiker mit der Zeit demokratis­iert haben, werden Dirigenten immer noch handverles­en. Ob sie hierbleibe­n wird, weiß sie nicht. ›Meine Koffer sind immer in Abrufberei­tschaft, bei den Schuhen am Ausgang‹.

Der große Saal der königliche­n Musikhochs­chule in Stockholm ist gut gefüllt. Angespannt bringen die jungen Musiker ihre Instrument­e in Einklang, richten sich mit schwitzend­en Händen die Noten. Aghakhani lässt sich Zeit und atmet dreimal tief durch, bevor sie die Bühne betritt. Sie trägt ihre Haare offen, eine goldglänze­nde Stola und roten Lippenstif­t. ›Ich dirigiere nicht mit meinem Geschlecht‹, sagt sie: ›Aber mein Frausein verstecken will ich auch nicht‹. •

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