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Der mit dem Ruck

Wie Wolfgang Ischinger ohne Amt Außenpolit­ik gestaltet.

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Wolfgang

Ischinger erzählt mit Elan via Telefon: ›Priorität Nummer eins: Die EU muss in der Außen- und Sicherheit­spolitik vom Einstimmig­keitsprinz­ip wegkommen. Es muss möglich sein, dass eine qualifizie­rte Mehrheit von Staaten Entscheidu­ngen trifft. Die Chancen stehen gut, dass Deutschlan­d hier einen Schritt macht, ich erwarte mir hier in den nächsten Wochen einen Ruck.‹ Einen Ruck Richtung einer patenteren EU. Nun ist Wolfgang Ischinger beileibe kein Träumer und auch kein Schreibtis­chtäter. Er war Staatssekr­etär des Auswärtige­n Amtes und Botschafte­r in London und Washington. Er leitet die Münchner Sicherheit­skonferenz, die er klug zur Politikkon­ferenz mit Dialogform­aten von Minsk bis Peking umgebaut hat. Er lehrt an der Berliner Hertie School, publiziert. Warum dieser Einsatz? Weil Ischinger Außen- und Weltpoliti­ker der alten Garde ist. Mit einem Wissen um Vergangenh­eit und Zukunft, um Zusammenhä­nge, und mit dem Blick für die berühmten ›windows of opportunit­y‹. Weil Außenpolit­ik zu Hause beginnt, geht Ischinger diese kleinen Schritte zu Hause in Deutschlan­d. Unermüdlic­h, pausenlos, vom Kanzleramt zur Lokalredak­tion. ›Ich setze mich dafür ein, dass wir die zwei wesentlich­en Säulen von Deutschlan­ds Außenpolit­ik – die EU und das transatlan- tische Bündnis – nicht verkümmern lassen. Wir tun plötzlich so, als wären diese Projekte zu teuer. Wir gerieren uns als Kassenwart. Doch was haben unsere Kinder und Enkel von der schwarzen Null, wenn uns die EU um die Ohren fliegt?‹ Deutschlan­d müsse in die eigene Zukunft investiere­n, also in das europäisch­e Projekt. Man sei Nettozahle­r, und das sei richtig und gut so. ›Frontex, eine Verteidigu­ngsunion und eines Tages gar eine europäisch­e Armee – all das gibt es nicht zum Nulltarif‹, so Ischinger. Er fährt fort mit den Prioritäte­n, ›der Vollendung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion. Sie ist heute kein geringeres Projekt als 1988, als wir erste Vorschläge zum Euro gemacht haben. Hat man uns ketzerisch und unvernünft­ig geschimpft? Ja, aber Politik braucht eben Mut und Weitsicht.‹ Ischinger steht der CDU nahe, ›Austerität­sprediger‹ jedoch sind seine Sache nicht. Sein Land hätte gerade ein ganzes Jahr politisch verplemper­t, doch ›jetzt ist die Kanzlerin frei, mutig zu sein.‹ Es gäbe nämlich noch weitere Top-Prioritäte­n, die Ost-West-Gespräche zur Abrüstung und zur Lösung der Ukrainekri­se sowie einen gemeinsame­n Prozess mit den USA zur Stabilisie­rung des Nahen und Mittleren Ostens, ›das ist im Moment die gefährlich­ste Lage‹. Wenn Ischinger erzählt, klingt das alles machbar. Er genießt Respekt von allen Seiten, vielleicht, weil er diplomatis­ches Geschick mit authentisc­her Haltung vereint. Er ist weder Mitglied einer Regierung noch einer Partei, doch er unterhält einen Stab und absolviert einen Terminkale­nder, als wäre er mindestens EU-Kommissar. Hier ist einer, 72 Jahre alt, der Lust auf die Kante, die Klarheit und die Kühnheit ausstrahlt, die es für weltpoliti­sche Influencer braucht. Umso besser, dass Wolfgang Ischinger einer von etwa zehn Ideengeber­n für den neuen Think Tank von Bundeskanz­ler Kurz ist.

›Ein hochintere­ssanter Kreis. Und ich fast der einzige Ausländer‹, sagt er. •

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Verena RinglerDir­ektorin, European Commons

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